Zunächst einmal ist es unablässig, folgende Feststellung zu treffen: Das Attentat auf die Zwillingstürme des World Trade Center und andere Symbole des US-Imperialismus hat nichts aber auch gar nichts Fortschrittliches an sich. Terroristen, deren einzigen Ziele Zerstörung und Ermordung waren, töteten bei den Anschlägen nicht nur Manager, Regierungsvertreter und weitere Handlanger der amerikanischen Großmacht, sondern auch Arbeiter und andere Lohnabhängige. Das Opfer der Putzfrauen, Sekretärinnen und Angestellten wiegt weitaus schwerer als die an sich schon ziemlich effektlose Zerstörung steingewordener oder stählerner Symbole einer Supermacht. Die mutmaßlichen Attentäter um Mohammed Atta zeigten dieselbe Mentalität wie die rassistischen Herrscher in Washington und New York in der von ihnen betriebenen Propaganda: Sie setzten unentschuldbar die Massen von Arbeitern und Angestellten mit ihren kapitalistischen Ausbeutern und Unterdrückern gleich. Mit ihrem Zerstörungswahn bewirkten sie, dass sich in den USA eine „Volksgemeinschaft“ zusammen braut, die keine Klassen mehr kennt sondern nur noch Amerikaner. Der „verletzte Stolz“ der Landes gebietet jetzt einen „Nationalen Schulterschluss“.
Die Unterdrückung und der alltägliche Terror der Staatsmächte werden immer größer und dreister. Dieser Feldzug richtet sich nicht gegen den Terrorismus, sondern gegen jegliches Aufbegehren von unten. In fast allen westlichen Staaten dient der 11. September als freche Rechtfertigung für die Verschärfung rassistischer Gesetze und als Grund für die verstärkte Repression gegen all jene Menschen, die den Kapitalismus auch nur ansatzweise in Frage stellen. Der ohnehin sehr stark ausgeprägte Patriotismus der Amerikaner — eine Folge der Schwäche der nationalen und internationalen Arbeiterbewegung — zeigt seine hässliche chauvinistische Fratze. Die Diskussion über die eigentlichen Probleme des Landes wie das krasse Gefälle zwischen Arm und Reich, die hohe Arbeitslosigkeit und das schlechte Gesundheitswesen und die Debatte über den Wahlbetrug von Georg W. Bush sind erstickt, das Ergebnis der Stimmennachzählung in Florida wird unterdrückt. Die Verbrechen des Kapitalismus und die himmelschreiende Widersinnigkeit des „Terrors der Ökonomie“ werden jetzt erst recht verschwiegen. In einer beispiellosen bis zum Erbrechen schmierigen Kampagne wird zudem das Leid der in New York ermordeten Arbeiter und Angestellten — darunter auch die Qualen der vielen tapferen Feuerwehrleute, die ihr Leben ließen — ausgenutzt und hochgehalten.
Auch wenn die Täterschaft oder Mittäterschaft Osamah Bin Ladens wahrscheinlich ist: Für die amerikanische Regierung kam der Anschlag wie gerufen: Die brachliegende US-Wirtschaft soll durch einen Kriegs-Keynesianismus wieder auf Vordermann gebracht werden. Ohne den Nachweis einer Schuld zu erbringen, wurde unmittelbar nach dem Anschlag der Krieg erklärt und der Bündnisfall der NATO ausgerufen. Langfristig angelegte militärische Pläne im Hinblick auf den Nahen Osten und Zentralasien konnten jetzt vorgezogen und im Rampenlicht der Öffentlichkeit gerechtfertigt werden. Der Krieg nach innen wird also von einer neuen Runde in der Neuaufteilung der Welt begleitet.
Die unter Linken verbreitete Meinung die USA hätten die Anschläge selbst vorbereitet und ausgeführt, verbannen wir ins Reich antiamerikanischer Verschwörungstheorien. Es ist sehr unwahrscheinlich, dass die USA zur Rechtfertigung ihrer kriegerischen Handlungen den Tod eines Teils ihrer Elite in Kauf nahmen. Doch eine gewisse Vorauskenntnis über die geplanten Anschläge schien es gegeben zu haben: Bereits im Vorfeld des Attentats gab es Indizien dafür, dass ein größerer Anschlag auf Institutionen in den Vereinigten Staaten bevorstand. In den zwei Wochen vor dem 11. September kam es zu einer plötzlichen und unerklärlichen Welle von spekulativem Handel an den amerikanischen Aktienmärkten, die darauf hinweist, dass einige reiche Investoren mit guten Beziehungen im Voraus von der bevorstehenden Katastrophe wussten. Warum die beiden Geheimdienste CIA und FBI „geschlafen“ haben, weshalb es mehreren Flugzeugentführern zeitgleich gelang, Kurs auf die Ballungszentren New York und Washington zu nehmen ohne von Abfangjägern bedrängt zu werden, sollte zu denken geben.
In vielen Teilen Lateinamerikas und der arabischen Welt gibt es Stimmen, die sich offen über die Anschläge des 11. September freuen. Diese vom US-Imperialismus unterdrückten Volksmassen irren, wenn sie in den Ereignissen in New York und Washington etwas Fortschrittliches erblicken! Die Tötung unschuldiger Menschen stößt die Arbeiterklasse in den Vereinigten Staaten ab — jene Kraft also, die man so dringend als Bündnispartner benötigt. Gerade die amerikanische Arbeiterklasse ist die einzige Kraft, die die Macht und die strategische Stellung besitzt, den US-Imperialismus zu stürzen. Gerade sie wird von diesem Anschlag in die nationale Allianz mit ihren eigenen Unterdrückern getrieben. Das beweist, dass der mutmaßliche Urheber des Anschlags Osamah Bin Laden kein Antiimperialist sondern nur ein antiamerikanischer Nationalist ist. Unser Ziel hingegen ist der gemeinsame Kampf aller Unterdrückten für den perspektivischen Sturz des Kapitalismus weltweit! Anstatt auf die internationale Einheit der Arbeiterklasse zu bauen, anstatt auf die eigenen Kräfte zu setzen, verlassen sich die vom Imperialismus Unterdrückten auf die Märtyrer und Propagandisten der Tat. Doch selbst bei gerechtfertigten Zielen vermittelt der Individualterrorismus die irreführende Botschaft, dass der politische Kampf Aufgabe elitärer Märtyrer sei. Es ist natürlich sehr einfach wenn man sich nicht mühsam selbst organisieren muß, weil man alle Hoffnung auf die großen „Rächer“ setzt. Selbst wenn die Attentäter eine fortschrittliche Ideologie gehabt hätten, selbst wenn man nur Vertreter der US-Regierung in die Luft gesprengt hätte und dabei keine unschuldigen Arbeiter oder Angestellten ums Leben gekommen wären: Was hätte ein solcher Akt denn geändert? Der Rauch einer Explosion verzieht sich schnell, aber das Rad der kapitalistischen Unterdrückung dreht sich weiter und weiter. Doch unsere Rechnung mit dem real-existierenden Kapitalismus ist viel zu groß, um sie mal eben schnell mit einer Ladung Sprengstoff zu begleichen. Wir als Marxisten lehnen den Terror als revolutionäre Strategie ab. Diese „Ersatztaten“ schaden dem geschwächten Klassenbewusstsein der Arbeiter weltweit!
Leider findet die Verzweiflung der Unterdrückten im Nahen Osten und anderswo gegenwärtig kein anderes Ventil — nicht zuletzt deshalb, weil es weder eine mächtige internationale Arbeiterbewegung gibt noch eine revolutionäre Führung, die imstande ist, den wissenschaftlichen Sozialismus zielstrebig zu verteidigen und erfolgreich revolutionäre Parteien aufzubauen. Doch auch einige Metropolenlinke freuen sich klammheimlich oder sogar offen über die Anschläge; oder sie bleiben bei bloßen Analysen stehen und bieten keine Alternativen. Dann werden aus feigen Mördern schnell „irrende Genossen“ und religiöse Obskurantisten werden zu „antiimperialistischen Bündnispartnern“ gemacht. Diese religiösen Kräfte stoßen nicht nur die Arbeiter in den Industrienationen ab, sondern sie schließen auch nationale Minderheiten und die Frauen von ihren „Kämpfen“ aus. Vor diesem Hintergrund kann es keinen erfolgreichen Kampf gegen die imperialistische Eroberung geben. Wir verteidigen die Völker Afghanistans gegen die Angriffe des US-Imperialismus, doch die Taliban selbst sind genauso wenig antiimperialistisch wie Slobodan Milosevic oder Saddam Hussein, die jahrelang von den westlichen Staaten finanziert wurden.
Zu diesem Unsinn gesellt sich die Rede von „den bösen Amerikanern“. Sicherlich stehen große Teile der amerikanischen Bevölkerung hinter ihrer Regierung, doch wir denken nicht in Kategorien von „fortschrittlichen“ oder „reaktionären“ Völkern sondern in Kategorien von Klassen. Vorurteile gegen „die Araber“ sind zwar nicht dasselbe wie Ressentiments gegenüber „den Amerikanern“, doch in beiden Fällen wird das Wesen der Klassengesellschaft ignoriert. Die Demonstrationen in Washington und Seattle, die erfolgreichen Massenstreiks bei UPS, Bell Atlantic oder General Motors sind nur Beispiele für das fortschrittliche Potenzial in der amerikanischen Arbeiterbewegung. Vergessen wir nicht, dass es Amerikaner waren, deren Einsatz gegen den Vietnamkrieg wesentlich zur Niederlage des US-Imperialismus beitrug! Doch immer wieder wird das Bild fähnchenschwingender US-Nationalisten gezeigt. Immer wieder predigen „Linke“, man müsse „den Amerikanern“ Einhalt gebieten. Die Rolle des eigenen Imperialismus wird ignoriert. Manche appellieren gar an die eigene Regierung, man möge doch den „amerikanischen Freunden“ erklären, dass sie mehr Augenmaß benötigten. So werden aus „Sozialisten“ und Pazifisten nützliche Deppen für die Pläne der herrschenden Elite in Deutschland, Frankreich und anderen europäischen Großmächten.
So gerechtfertigt die spontane Entrüstung gegen den Krieg der Amerikaner auch ist: Es gilt ruhigen Kopf zu bewahren um die kapitalistische Realität zu begreifen — diesseits und jenseits des Atlantik. Die genauen Gründe für die US-Intervention in Afghanistan aber auch die Rolle des deutschen Imperialismus müssen analysiert werden. Die folgenden Artikel sollen dem Leser helfen, die Zusammenhänge besser zu verstehen.
Gruppe Leo Trotzki