Internationale Bolschewistische Tendenz (IBT) — Staat und Partei: Die Lehren des Roten Oktobers In: Bolschewik (2018) Nr. 35. — Version: 2023-04-10. — Geladen: 2024-03-29
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Staat und Partei

Die Lehren des Roten Oktobers

Nachstehend veröffentlichen wir einen Auszug aus „Wir feiern den Roten Oktober: Die Russische Revolution in historischer Perspektive“, zuerst veröffentlicht in englischer Sprache am 23. Oktober 2017 auf bolshevik.org.

Die Russische Revolution zeigte, dass die Arbeiterklasse sogar in relativ rückständigen Ländern die Macht ergreifen und mit der „Errichtung der sozialistischen Ordnung“ beginnen konnte. Die Revolutionäre selbst verstanden, dass der Aufbau einer sozialistischen Gesellschaft erfolgreiche Revolutionen auf der ganzen Welt, insbesondere in den Zitadellen des fortgeschrittenen Kapitalismus in Westeuropa und Nordamerika benötigen würde. Der historische Niedergang der bürgerlichen Produktionsweise brachte die proletarische sozialistische Revolution auf die Tagesordnung. Der Imperialismus, die letzte Phase der kapitalistischen Entwicklung, deutete auf die Erschöpfung der fortschrittlichen Fähigkeiten des Kapitalismus hin: Nicht-Kapitalistische oder halb-Kapitalistische Gesellschaften wurden von der hoch entwickelten monopolkapitalistischen Finanzwirtschaft übernommen, die das Wachstum der Produktivkräfte in den schwachen Ländern verformten und die archaische Institutionen mit modernen Produktionsmethoden zwangen zu verbinden.

Aus theoretischer und politischer Perspektive hat die russische Revolution auch zwei grundlegende Aspekte der proletarischen Revolution geklärt: die Natur des Staates und seine Beziehung zur „Doppelmacht“; und die Rolle und Form der politischen Organisation in der revolutionären Übergangsphase. Beides sind unerlässliche Lehren für erfolgreiche Revolutionen in der Zukunft.

Die Revolution und der Staat

Während des Exils im Juli 1917 sandte Lenin eine Nachricht an Kamenew, die las: „Wenn sie mich festnehmen, bitte ich Sie, mein Notizbuch zu veröffentlichen: 'Marxismus über den Staat' (es wurde in Stockholm zurückgelassen). Es ist mit einem blauen Cover gebunden. Es enthält eine Sammlung aller Zitate von Marx und Engels.“ Lenin erklärte, dass das Projekt „wichtig sei, weil nicht nur Plechanow, sondern auch Kautsky Sachen verpfuscht haben.“ Im August / September 1917 hatte Lenin seine Notizen erhalten und sie zum Schreiben benutzt, was zu einem seiner meist gelesenen und wichtigsten Werke werden würde: Staat und Revolution: Die Lehre des Marxismus vom Staat und die Aufgaben des Proletariats in der Revolution.

Staat und Revolution ist eine Rekonstruierung und Zusammenfassung dessen, was Marx und Engels zu diesem Thema geschrieben haben. Lenin argumentierte, der Zentrismus Kautskys habe die revolutionären Kanten des Marxismus systematisch abgerundet, da er erhebliche theoretische Zugeständnisse an den offenen Reformismus gemacht habe. Von Anfang an hatten die Vorläufer der Zweiten Internationale ein verwirrtes Verständnis der Staatsfrage, und Marx und Engels hatten vergeblich gegen diese Verwirrung gekämpft. Die anfängliche theoretische Orientierungslosigkeit hatte sich über Jahrzehnte zu einer zutiefst opportunistischen Sicht des kapitalistischen Staates verfestigt, als eine privilegierte Schicht von Parteifunktionären und Gewerkschaftsbürokraten innerhalb der sozialistischen Bewegung ein wesentliches Interesse daran hatte, den bürgerlichen Status quo zu erhalten. Lenins Broschüre, die im Vorfeld der Oktoberrevolution geschrieben wurde, ist eine brillante und höchst polemische Verteidigung der marxistischen Staatslehre, die Marx und Engels durch die historische Analyse moderner Revolutionen entwickelt hatten.

Als das Kommunistische Manifest Ende 1847 verfasst wurde, verstanden Marx und Engels die führende Rolle der Arbeiterklasse in der sozialistischen Revolution und die Notwendigkeit, der Bourgeoisie die Staatsmacht zu entreißen, bevor sie mit dem Aufbau der kommunistischen Gesellschaft fortschreiten konnten. Im Manifest verwendeten sie die etwas zweideutige Formulierung: „Staat, d. h. das als herrschende Klasse organisierte Proletariat.“ Für Marx und Engels war es noch nicht klar, wie das Proletariat die Macht ergreifen und sich zur herrschenden Klasse machen würde. Wie Lenin bemerkt hat, haben die Revolutionen von 1848 für Marx und Engels den wesentlichen Klassencharakter des bürgerlichen Staates geklärt und die Notwendigkeit für das Proletariat diesen zu zerstören. Im 18. Brumaire des Louis Bonaparte (1852) bemerkte Marx, dass die „Exekutivgewalt [des französischen Staates] mit seiner enormen bürokratischen und militärischen Organisation … in den Tagen der völligen Monarchie entstanden ist, was dem Verfall des Feudalsystems beschleunigte“:

Die erste französische Revolution mit ihrer Aufgabe, alle lokalen, territorialen, städtischen und provinziellen Sondergewalten zu brechen, um die bürgerliche Einheit der Nation zu schaffen, mußte entwickeln, was die absolute Monarchie begonnen hatte: die Zentralisation, aber zugleich den Umfang, die Attribute und die Handlanger der Regierungsgewalt.

Die bürgerliche Revolution absorbierte und entwickelte die bürokratische Verwaltung der Staatsmacht, die im Zeitalter des Verfalles des Feudalismus ins Leben gerufen worden war. Alle nachfolgenden revolutionären und konterrevolutionären Umwälzungen fanden im Rahmen einer etablierten bürgerlichen Staatsmacht statt:

Napoleon vollendete diese Staatsmaschinerie. Die legitime Monarchie und die Julimonarchie fügten nichts hinzu als eine größere Teilung der Arbeit, in demselben Maße wachsend, als die Teilung der Arbeit innerhalb der bürgerlichen Gesellschaft neue Gruppen von Interessen schuf, also neues Material für die Staatsverwaltung.… Die parlamentarische Republik endlich sah sich in ihrem Kampfe wider die Revolution gezwungen, mit den Repressivmaßregeln die Mittel und die Zentralisation der Regierungsgewalt zu verstärken. Alle Umwälzungen vervollkommneten die Maschine statt sie zu brechen.
ebenda

Mit seinem Staatsstreich im Jahre 1851 hatte Louis Bonaparte, der sich auf die Bauernmassen Frankreichs stützte, nach der Bourgeoisie geschlagen, doch indem er die relative Unabhängigkeit der Exekutive von der herrschenden Klasse durchsetzte, war er dennoch gezwungen, in ihrem Interesse zu regieren, was in diesem Prozess den bürgerlichen Staat stärkte. In der Neuzeit haben nur zwei soziale Klassen die Fähigkeit zu regieren: die Bourgeoisie und das Proletariat. Alle Zwischenklassen werden sich in Richtung der einen oder anderen bewegen. Im Kapitalismus hat der Staat eine historisch gewachsene organische Bindung an die Bourgeoisie, und die Logik des Klassenkampfes erzeugt eine Tendenz des bürgerlichen Staates, zu wachsen und seinen wachsenden Zugriff auf die Gesellschaft zu stärken.

Lenin bemerkte, dass der bürgerliche Staat eine Schlüsselrolle bei der Integration von Zwischenklassen (oder ihren oberen Rängen) in ein System kapitalistischer Herrschaft spielte:

Durch alle bürgerlichen Revolutionen hindurch, die Europa seit dem Verfall des Feudalismus in großer Anzahl erlebt hat, zieht sich die Entwicklung, Vervollkommnung und Festigung dieses Beamten- und Militärapparats. Insbesondere wird gerade das Kleinbürgertum auf die Seite der Großbourgeoisie hinübergezogen und ihr weitgehend unterworfen vermittels dieses Apparats, der den oberen Schichten der Bauernschaft, der kleinen Handwerker, Händler u.a. verhältnismäßig bequeme, ruhige und ehrenvolle Pöstchen verschafft, die deren Inhaber über das Volk erheben.
Staat und Revolution

Marx' und Engels' wichtige Schlussfolgerung, dass die Arbeiterklasse den bürgerlichen Staat zerschlagen und nicht übernehmen müsste, ist nur eine Seite der revolutionären Machtergreifung. Die andere ist die Schaffung eines neuen „Staates, d.h. des als herrschende Klasse organisierten Proletariats“. In einem Brief an Joseph Weydemeyer vom 5. März 1852 bezeichnete Marx dies als „Diktatur des Proletariats“ auf dem Weg zu einer klassenlosen, staatenlosen Gesellschaft.

Der Begriff war von der Praxis der republikanischen Periode des antiken Rom inspiriert, in welcher der Senat und die Konsuln, für eine begrenzte Zeit einem Magistraten die „Diktatur“ gewährt, damit sie der ganzen Macht des Staates habhaft werden konnten, um eine militärische Krise oder eine spezielle staatliche Aufgabe zu handhaben. In Anleihe an den Begriff machte Marx den Vorschlag, dass nachdem die alte bürokratische Staatsmaschinerie des Kapitalismus zerstört war, das Proletariat als Klasse komplett die Regierungsgewalt über den Rest der Gesellschaft ausüben wird. In dieser Zeit würde die Arbeiterklasse ihre Staatsmacht nutzen, um bewusst die Produktionsmittel zu vergesellschaften und die Grundlage für die Auflösung der Klassengegensätze zu schaffen, welches selbst zur Folge hätte, dass auch ein proletarischer Staat nicht mehr gebraucht würde. Der Weg vom Kapitalismus zum Kommunismus beinhaltet dann eine Übergangsphase, überwacht von der „Diktatur des Proletariats“, einer besonderen Staatsform, die „abstirbt“ je weiter sie fortschreitet, wie Engels es später ausdrückte.

Lenin deutete in Staat und Revolution an, dass die Diktatur des Proletariats verschiedene Formen annehmen könnte:

Die Formen der bürgerlichen Staaten sind außerordentlich mannigfaltig, ihr Wesen ist aber ein und dasselbe: Alle diese Staaten sind so oder so, aber in letzter Konsequenz unbedingt eine Diktatur der Bourgeoisie. Der Übergang vom Kapitalismus zum Kommunismus muß natürlich eine ungeheure Fülle und Mannigfaltigkeit der politischen Formen hervorbringen, aber das Wesentliche wird dabei unbedingt das eine sein: die Diktatur des Proletariats.
ebenda

Die erste geschichtliche Erscheinung der Diktatur des Proletariats war die Pariser Kommune, die Marx als „eine Republik bezeichnete, die nicht nur die monarchische Form der Klassenherrschaft, sondern die Klassenherrschaft selbst verdrängte“ (Der Bürgerkrieg in Frankreich, 1871). Marx erinnerte an die besonderen Umstände der Geburt der Kommune, in der das Proletariat „die [bürgerliche] Armee losgeworden war an deren Stelle es eine hauptsächlich aus Arbeitern bestehende Nationalgarde gesetzt hatte. Diese Tatsache galt es jetzt in eine bleibende Einrichtung zu verwandeln. Das erste Dekret der Kommune war daher die Unterdrückung des stehenden Heeres und seine Ersetzung durch das bewaffnete Volk.“ Die proletarisierte Nationalgarde war selbst eine demokratische Institution und bildete den repressiven Apparat des neuen Arbeiterstaates (soweit es sich eignet bei der Verwaltung einer einzelnen Stadt diesen als „Staat“ zu behandeln). Sofort füllte der Unterdrückungsapparat der Diktatur des Proletariats sich mit Leben, indem er die Autorität auf die demokratisch gewählte Kommune übertrug. Wie Lenin bemerkte:

Die zerschlagene Staatsmaschinerie wurde also von der Kommune scheinbar „nur“ durch eine vollständigere Demokratie ersetzt: Beseitigung des stehenden Heeres, vollkommene Wählbarkeit und Absetzbarkeit aller Amtspersonen. In Wirklichkeit jedoch bedeutet dieses „nur“, daß im riesigen Ausmaß die einen Institutionen durch Institutionen prinzipiell anderer Art ersetzt wurden. Hier ist gerade einer der Fälle des „Umschlagens von Quantität in Qualität“ wahrzunehmen: Die mit dieser denkbar größten Vollständigkeit und Folgerichtigkeit durchgeführte Demokratie verwandelt sich aus der bürgerlichen Demokratie in die proletarische, aus dem Staat (= einer besonderen Gewalt zur Unterdrückung einer bestimmten Klasse) in etwas, was eigentlich kein Staat mehr ist.
ebenda

Die Pariser Kommune beinhaltete Arbeiterdemokratie der Massen und auf die Kontrolle der gewählten Funktionären, die jederzeit abberufen werden konnten; keine finanziellen Privilegien, die mit der Regierungsbeteiligung verbunden sind (Arbeiterlohn, nicht mehr); Zusammenlegung der gesetzgebenden und ausführenden Aufgaben; Schaffung eines neuen Verwaltungsapparats, der der Arbeiterklasse direkt rechenschaftspflichtig ist; und im Kern der Kommune das bewaffnete Proletariat. Das waren die wesentlichen Merkmale der Diktatur des Proletariats – sie im Kontext der revolutionären Situation in Russland umzusetzen, war das, was Lenin 1917 anleitete.

Lenin zur Diktatur des Proletariats

Staat und Revolution war die gründlichste Erklärung von Lenins Bruch mit der vorangehenden kautskyianischen „Orthodoxie“ in der Frage des Staates. Lenin hatte von Kautsky gelernt und ihn sehr bewundert, der um die Jahrhundertwende den entsetzlichsten Ausdruck reformistischen Herangehens an das Verständnis von Wahlen innerhalb der Zweiten Internationale anfechtete: die „evolutionäre“ sozialistische Strömung von Eduard Bernstein. Doch Kautskys Bücher Die soziale Revolution (1902) und Der Weg zur Macht (1909) scheiterten daran, die Notwendigkeit der Zerschlagung des bürgerlichen Staates zum Ausdruck zu bringen. 1912 unterschlug Kautsky in einer Polemik gegen den niederländischen Linkssozialisten Anton Pannekoek nicht nur die Bezugnahme auf die Notwendigkeit des Sturzes des bürgerlichen Staates, sondern verurteilte diese Auffassung ausdrücklich, um den parlamentarischen Weg zum Sozialismus zu verteidigen: „Und das Ziel unseres politischen Kampfes bleibt dabei das gleiche, das es bisher gewesen: Eroberung der Staatsgewalt durch Gewinnung der Mehrheit im Parlament und Erhebung des Parlaments zum Herrn der Regierung“ (zitiert in „Staat und Revolution“).

Im Kontext des zaristischen Russlands, in dem allgemeine Übereinstimmung herrschte, dass eine Revolution stattfinden müsste, damit ein demokratisches Parlament überhaupt existieren kann, konnte der frühere Ansatz von Kautsky sowohl vor als auch nach 1905 als revolutionär dargestellt werden. Die Auseinandersetzungen zwischen den Bolschewiki, Menschewiki und Trotzki über die Perspektiven der kommenden bürgerlichen Revolution fanden im gemeinsamen Rahmen eines „marxistischen“ Staatsverständnisses statt, das bestenfalls eine abgestumpfte Version des von Marx und Engels vertretenen war.

Gegen das menschewistische Konzept, die kommende Revolution würde zur politischen Herrschaft der Bourgeoisie führen, argumentierte Lenin, dass ein Bündnis des Proletariats und der Bauernschaft die bürgerliche Revolution zur Schaffung einer demokratischen Republik führen und den Weg zu rasanter kapitalistischer Entwicklung öffnen werde – und, nach einer komprimierten historischen Periode der Instabilität könnte das Proletariat die Macht allein ergreifen. Er fasste diese Perspektive der revolutionären Machtübernahme durch die beiden ausgebeuteten Klassen Russlands als „demokratische Diktatur des Proletariats und der Bauernschaft“ zusammen.

Dieser Slogan war zweideutig, weil der Grad der Beteiligung der Sozialisten und das Schicksal der „demokratischen Diktatur“ nicht im Voraus definiert werden konnten. Sie war unendlich viel besser als die menschewistische Perspektive, litt jedoch unter großen Mängeln, insbesondere der Andeutung, dass das Proletariat (und die Bauernschaft) Macht durch einen bürgerlichen Staat ausüben würde. Lenin bestand auf dem bürgerlichen Charakter der Revolution, mit der Delegierung der sozialistischen Revolution auf einen späteren Umsturz, und seine „demokratische Diktatur“ des Proletariats und der Bauernschaft unterschied sich deutlich von der Diktatur des Proletariats. Obwohl sie die Interpretation Kautskys der marxistischen Staatslehre teilten, schienen die Menschewiki eine der Schwächen Lenins mit ihrem Einwand anzusprechen, dass eine „Diktatur“ einen „einzigen Willen“, also das Klasseninteresse, erforderte. Diese Kritik wies auf eine der Mehrdeutigkeiten der Losung hin: Welche Interessen würden sich in einer (bürgerlichen) Republik, die nicht von der Bourgeoisie oder gar von einer einzigen Klasse geführt wurde, durchsetzen?

In „Zwei Taktiken der Sozialdemokratie in der demokratischen Revolution“ reagierte Lenin auf diese Kritik, indem er den „vorübergehenden, temporären“ Charakter der demokratischen Diktatur hervorhob (das heißt, sie würde überhaupt keine stabile staatliche Form darstellen) und argumentierte, dass das Proletariat in der ersten Phase der Revolution seinen „Willen“ auf die Aufgaben der demokratischen Revolution beschränken könnte:

Einer der Einwände gegen die Losung „revolutionär-demokratische Diktatur des Proletariats und der Bauernschaft“ besteht darin, daß die Diktatur einen „einheitlichen Willen“ voraussetze („Iskra“ Nr. 95), das Proletariat und das Kleinbürgertum aber keinen einheitlichen Willen haben könnten. Dieser Einwand ist nicht stichhaltig, denn er fußt auf einer abstrakten, „metaphysischen“ Auslegung des Begriffs „einheitlicher Wille“. Der Wille kann ja in einer Beziehung einheitlich, in einer anderen nicht einheitlich sein. Daß der Wille in den Fragen des Sozialismus und im Kampf für den Sozialismus nicht einheitlich ist, schließt nicht aus, daß er in den Fragen des Demokratismus und im Kampf für die Republik einheitlich ist. Das vergessen hieße den logischen und historischen Unterschied zwischen der demokratischen und der sozialistischen Umwälzung vergessen.

Dennoch widersprach diese „vorübergehende“ Sicht der Republik dem Argument, das Lenin gegen Parvus (und Trotzki) vorgebracht hatte, um zu erklären, warum eine demokratische Diktatur zweier Klassen – und keine proletarische Regierung – notwendig war:

Ebenso falsch, und zwar aus demselben Grunde, sind die Sätze von Parvus: „die provisorische revolutionäre Regierung in Russland wird eine Regierung der Arbeiterdemokratie sein“, „wenn die Sozialdemokratie an der Spitze der revolutionären Bewegung des russischen Proletariats stehen wird, so wird diese Regierung eine sozialdemokratische sein“, die sozialdemokratische provisorische Regierung „wird eine geschlossene Regierung mit einer sozialdemokratischen Mehrheit sein“. Das kann nicht sein, wenn nicht von zufälligen, flüchtigen Episoden die Rede ist, sondern von einer revolutionären Diktatur, die einigermaßen von Dauer, die imstande sein sollte, irgendwelche Spuren in der Geschichte zu hinterlassen. Dies kann nicht sein, weil einigermaßen von Dauer (natürlich nicht absolut, sondern relativ) nur eine revolutionäre Diktatur sein kann, die sich auf die ungeheure Mehrheit des Volkes stützt.
—„Sozialdemokratie und provisorische revolutionäre Regierung“, März/April 1905

Trotzkis Perspektive der permanenten Revolution war nicht nur realistischer im Hinblick auf das „Überwachsen“ der bürgerlichen Revolution in die sozialistische Revolution, sondern kam der vom Marx begründeten Auffassung des Staates näher. Trotzki hatte in Ergebnisse und Perspektiven argumentiert, dass eine revolutionäre Regierung „als Diktatur des Proletariats und der Bauernschaft, als Diktatur des Proletariats, einer Diktatur des Proletariats, Bauern und Intellektuellen oder gar als Koalitionsregierung der Arbeiterklasse und dem Kleinbürgertum“ beschrieben werden könnte, aber unabhängig von den unterschiedlichen Formen, die ein revolutionäres Regierungsbündnis annehmen mag, würde der politisch-programmatische Klassenstandpunkt proletarisch sein müssen oder er wäre nicht revolutionär. Die Position Trotzkis entsprach damit dem Prinzip, dass nur eine Klasse einen Staat beherrschen kann.

Lenins Unklarheit über den Klassencharakter der „demokratischen Diktatur“ fand seinen Ausdruck in seiner verwirrenden Behandlung der Pariser Kommune. In Zwei Taktiken erwähnt er die Kommune als eine „eine Arbeiterregierung bekannt ist, die damals nicht verstand und nicht vermochte, die Elemente der demokratischen und der sozialistischen Umwälzung auseinanderzuhalten, die die Aufgaben des Kampfes für die Republik und die Aufgaben des Kampfes für den Sozialismus verwechselte“. Dies geschah als Reaktion auf die Menschewiki, die versucht hatten, ihre Weigerung, an einer revolutionären Regierung teilzunehmen, aufweichten, indem sie die Möglichkeit hervorriefen, „revolutionäre[r] Kommunen, in der einen oder anderen Stadt und in dem einen oder anderen Bezirk [aus], wobei ausschließlich das Interesse maßgeblich ist, die Ausbreitung des Aufstands und die Desoriganisierung der Regierung zu fördern“ (zitiert in Zwei Taktiken, zitiert nach Kapitel 10).

Lenin hebt den offensichtlichen Widerspruch in der Argumentation der Menschewiki hervor, indem er bemerkt, dass sie nicht in der Lage waren, die Unterschiede zwischen einer revolutionären Kommune und einer provisorischen revolutionären Regierung zu unterscheiden. Er argumentiert, dass die Menschewiki mit den hervorheben des Präzedenzfall der Pariser Kommune (deren Führer eine „demokratische[n] und die [der] sozialistischen Umwälzung“ verwechselten) ironischerweise den „Fehler, dessen man uns vergeblich zu überführen suchte“.

Lenin kritisierte, wie Marx, die Führer der Kommune, weil sie die Bank von Frankreich nicht beschlagnahmten. Aber wenn man bedenkt, dass er auf dem bürgerlich-demokratischen Charakter der kommenden russischen Revolution bestand, besagte Lenins Kritik an der Kommune, „die Aufgaben des Kampfes für eine Republik mit den Aufgaben des Kampfes für den Sozialismus“ zu vermischen, deutete an, dass die Führer der Kommune schuldig waren, zu weit gegangen zu sein, indem sie versuchten, den Übergang zum Sozialismus zu starten – genau sein Argument, Trotzkis Perspektive zurück zu weisen. Im Gegensatz dazu hatte Trotzki das Beispiel der Pariser Kommune vorgebracht, um zu erklären, dass Marxisten nicht von der Idee zurückweichen sollten, eine proletarisch geführte Regierung „mit den Reformen beginnen [wird], die im sogenannten Minimalprogramm stehen, und davon ausgehend wird die Logik seiner Position [sie] dazu zwingen, zur kollektivistischen Praxis überzugehen. ‘Die Pariser Arbeiter’ (sagt Marx) ‘verlangten von ihrer Kommune keine Wunder. Auch heute dürfen wir von der Diktatur des Proletariats keine politischen Wunder erwarten’“ (Ergebnisse und Perspektiven).

Im Juli 1905 verfasste Lenin den abschließenden Absatz eines Artikels eines unbekannten Autors mit dem Titel „Die Kommune und die Aufgaben der demokratischen Diktatur“. Der Zweck des Artikels war es, die bolschewistische Perspektive der sozialistischen Teilnahme an einer revolutionären Regierung zu verteidigen, und er stellte die Kommune ausdrücklich als ein Vorbild für die kommende bürgerliche Revolution in Russland dar. In diesem Zusammenhang stellte er die Frage: „War die Kommune eine Diktatur des Proletariats?“ Marx und Engels waren ohne Zweifel, dass es eine war, aber der Artikel widersprach: „Aber Diktatur und Diktatur können verschieden sein!“ (zitiert nach: mxks.de/files/kommunism/Lenin.ErfahrungenDerPariserKommune.html).

War das vielleicht eine wirkliche, reine Diktatur des Proletariats im Sinne der rein sozialdemokratischen Zusammensetzung ihrer Mitglieder und des Charakters ihrer praktischen Aufgaben? Keinesfalls! Das klassenbewußte Proletariat (und auch da kann nur von einem mehr oder weniger klassenbewußten Proletariat gesprochen werden), d. h. die Mitglieder der Internationale waren in der Minderheit. Die Mehrheit der Regierung bestand aus Vertretern der kleinbürgerlichen Demokratie.

Der Autor meinte, „daß Engels, wenn er die Kommune Diktatur des Proletariats nennt, nur die Teilnahme und dabei ideologisch führende Teilnahme der Vertreter des Proletariats in der revolutionären Regierung von Paris im Auge hatte. „ Als Schlussfolgerung, die er für den Beitrag schrieb, argumentierte Lenin, dass „die Beteiligung von Vertretern des sozialistischen Proletariats mit dem Kleinbürgertum in einer revolutionären Regierung grundsätzlich erlaubt und unter bestimmten Bedingungen eine direkte Pflicht ist.“ Dann setzt er die Pariser Kommune, nicht mit der Diktatur des Proletariats, aber mit seiner eigenen Theorie der demokratischen Diktatur des Proletariats und der Bauernschaft gleich: „Die Kommune verwirklichte das, was wir jetzt das ´Minimalprogramm des Sozialismus´ nennen. „ Im März 1908 hielt Lenin in Genf eine Rede über die „Lehren der Kommune“, in der er die Pariser Kommune als ein hervorragendes Beispiel für die Einträchtigkeit, mit der das Proletariat in der Lage war, die demokratischen Aufgaben zu erfüllen, die die Bourgeoisie nur verkünden konnte. Drei Jahre später räumte er jedoch ein, dass die Pariser Kommune eine „Arbeiterregierung“ sei, die einen sozialistischen Anstrich annehmen [mußte], das heißt, sie mußte beginnen, danach zu streben, die Herrschaft der Bourgeoisie, die Herrschaft des Kapitals zustürzen“ (Dem Andenken der Kommune, 1911, LW Band 17).

Lenins eklektische Einschätzung der Pariser Kommune war nicht nur durch seine Perspektive auf die „demokratische Diktatur des Proletariats und der Bauernschaft“, sondern auch durch das Erbe des Kautskyismus bedingt, der die qualitative Unterscheidung zwischen bürgerlichen und proletarischen Staaten durcheinander brachte. Noch im Dezember 1916 schrieb Lenin in einer Polemik gegen Bucharin:

Die Sozialisten treten für die Ausnutzung des modernen Staates und seiner Institutionen im Kampf für die Befreiung der Arbeiterklasse ein sowie für die Notwendigkeit, den Staat als die eigentümliche Form des Übergangs vom Kapitalismus zum Sozialismus auszunutzen. Eine solche Übergangsform, ebenfalls ein Staat, ist die Diktatur des Proletariats.
Die Anarchisten wollen den Staat „abschaffen“, ihn „sprengen“, wie sich Genosse Nota Bene [Bucharin] an einer Stelle ausdrückt, der diese Ansicht fälschlich den Sozialisten zuschreibt.…
… die opportunistische Politik (d.h., die opportunistische, reformistische, bürgerliche Einstellung zum Staat) ist mit der revolutionären sozialdemokratischen Politik zusammengeprallt (d.h., mit der revolutionären sozialdemokratischen Stellung zum bürgerlichen Staat und zur Ausnutzung des Staates gegen die Bourgeoisie zum Sturz der Bourgeoisie).
—Jugend-Internationale, LW Band 23

Innerhalb von zwei Monaten hatte Lenin seine Ansichten völlig verändert und mit der Interpretation Kautsky am Vorabend der Februarrevolution gebrochen. Lenins revolutionäre Ausrichtung im Jahre 1917, einschließlich seiner Ablehnung des „alten bolschewistischen“ Bekenntnisses zum Konzept der „demokratischen Diktatur“, war geprägt von der Ausgrabung der orthodox marxistischen Staatsauffassung in seinem „blauen Notizbuch“ im Januar und Februar 1917. In seinem dritten „Brief aus der Ferne“ (11. März 1917) argumentierte Lenin:

Wir brauchen den Staat, aber wir brauchen nicht einen solchen Staat, wie ihn allerorts die Bourgeoisie geschaffen hat, von den konstitutionellen Monarchien bis zu den allerdemokratischsten Republiken. Und darin unterscheiden wir uns von den Opportunisten und Kautskyanern der alten, von Fäulnis erfaßten sozialistischen Parteien, die die Lehren der Pariser Kommune und die Analyse dieser Lehren durch Marx und Engels entstellt oder vergessen haben.
. . .
Das Proletariat aber muß, wenn es die Errungenschaften der gegenwärtigen Revolution behaupten und weitergehen will, wenn es Frieden, Brot und Freiheit erringen will, diese „fertige“ Staatsmaschine, um Marx’ Worte zu gebrauchen, „zerbrechen“ und sie durch eine neue ersetzen, bei der Polizei, Armee und Bürokratie mit dem bis auf den letzten Mann bewaffneten Volk zu einer Einheit verschmolzen sind. Wie die Erfahrungen der Pariser Kommune von 1871 und der russischen Revolution von 1905 zeigen, muß das Proletariat alle armen, ausgebeuteten Teile der Bevölkerung organisieren und bewaffnen, damit sie die Organe der Staatsmacht selbst und unmittelbar in ihre Hände nehmen, damit sie selbst die Institutionen dieser Staatsmacht bilden.

Einen Monat später forderte Lenin in den „April-Thesen“ einen „Kommunestaat“ in Russland durch die Übertragung aller politischen Macht auf die Sowjets. In einem ebenfalls im April veröffentlichten Artikel „Über die Doppelherrschaft“ bestand er eindeutig auf der wesentlichen Identität der Pariser Kommune und die „Keime einer Staatsmacht“ der Sowjets: „Diese Macht ist eine Macht von demselben Typus, wie es die Pariser Kommune von 1871 war“. Der Artikel bezieht sich auf die Klassenzusammensetzung der beginnenden Sowjetregierung, bestehend aus „dem Proletariat und der (in Soldatenröcke gesteckten) Bauernschaft“, aber diese Charakterisierung war sehr verschieden von seinem früheren Ruf nach der demokratischen Diktatur des Proletariats und die Bauernschaft. Tatsächlich trat Lenin für die sozialistische Diktatur des Proletariats ein. Einige Monate später akzeptierte er in „Staat und Revolution“ explizit das Argument von Marx, dass die Pariser Kommune die „bestimmte“ Form der „proletarischen, sozialistischen Republik“ sei. Tatsächlich schließt Lenin die Broschüre ab, indem er seinen Aufruf für „die demokratische Republik vom Typ der Kommune oder die Republik der Sowjets der Arbeiter- und Soldatendeputierten, um die revolutionäre Diktatur des Proletariats“. Nach der Oktoberrevolution gibt es in Lenins Überlegungen keine Zweideutigkeit, zum Beispiel verwies er im Januar 1918 auf die Pariser Kommune als „vorhergehende Diktatur des Proletariats“ und verglich sie mit der „gegenwärtigen“ (Sowjetrepublik).

Lenins Ausdruck der demokratischen Diktatur des Proletariats und der Bauernschaft und seine vorherige Gleichsetzung mit der Pariser Kommune war ein Versuch gewesen, unter Verwendung eines theoretischen Rahmens, der noch immer durch die kautskyistische Verzerrung der Marxschen Staatslehre beeinträchtigt war, das Verhältnis von Klassenkräfte zu erfassen, die nötig wären, um in einem von der Bauernschaft dominierten Land eine Revolution zu machen. Als Lenin 1917 sich bewegte, um zu einer Diktatur des Proletariats in Russland auf zu rufen, gab er präzisiert genau die Form an, die sie zu anzunehmen hätte: ein Bündnis des Proletariats und der armen Bauernschaft in einer Sowjetrepublik. Es ist schwer, eine bedeutende Unterscheidung zwischen dieser Konzeption und Trotzkis Befürwortung der „Diktatur des Proletariats, die sich auf die Bauernschaft stützt“, zu sehen. Lenin war durch die Aufgabe des Konzepts einer demokratischen Diktatur des Proletariats und der Bauernschaft im Grunde zur gleichen Sichtweise gelangt, die Trotzki in Ergebnisse und Perspektiven zum Ausdruck gebracht hatte. Es war Lenin klar, dass eine sozialistische und nicht einfach eine bürgerliche Revolution auf der Tagesordnung stand. In Staat und Revolution sprach er von „unserem unmittelbaren Ziel“, die „ganze Wirtschaft … unter die Kontrolle und Führung des bewaffneten Proletariats zu stellen“. Die Sowjetrepublik sollte, wie Lenin forderte, auf der Erfahrung der Pariser Kommune aufbauend, die Massenproduktion organisieren, die von der Staatsmacht der bewaffneten Arbeiter unterstützt wird: „das ist unsere proletarische Aufgabe, damit kann und muß man bei der Durchführung der proletarischen Revolution beginnen.“

In Die Lehren des Oktobers (1924) bemerkte Trotzki, „daß Lenin manchmal gesagt hat, daß die Sowjets der Arbeiter, Soldaten und Bauern in der ersten Epoche der Februarrevolution bis zu einem bestimmten Grade die Herrschaft der revolutionär-demokratischen Diktatur des Proletariats und der Bauern verwirklicht hatten.“ Obwohl es möglicherweise verwirrend war, bestand Lenins Punkt darin, dass insoweit eine Zusammenarbeit der Bauern mit dem Proletariat auf einem „demokratischen“ (also bürgerlichen) Programm möglich wäre, es eine instabile Doppelmachtsituation war, in der die Sowjets von reformistischen Parteien geführt wurden. Es war keine wirkliche Diktatur in dem Sinne, da die von den Menschewiki und Sozialrevolutionären beherrschten Sowjets nie mehr als einen Protostaat bildeten – die Erhebung der Sowjets auf die Ebene der Pariser Kommune würde eine bolschewistische Führung erfordern. Tatsächlich bestritt Lenin nun, dass die „demokratische Diktatur“ jemals eine staatliche Form angedeutet hätte:

Die „revolutionär-demokratische Diktatur des Proletariats und der Bauernschaft“ ist in der russischen Revolution schon Wirklichkeit geworden, denn diese „Formel“ beinhaltet lediglich das Wechselverhältnis der Klassen, nicht aber die konkrete politische Institution, die dieses Verhältnis, dieses Zusammenwirken realisiert. Der „Sowjet der Arbeiter- und Soldatendeputierten“ – da habt ihr die vom Leben bereits verwirklichte „revolutionär-demokratische Diktatur des Proletariats und der Bauernschaft“.
Diese Formel ist bereits veraltet. Aus dem Reich der Formeln hat das Leben sie in das Reich der Wirklichkeit versetzt, sie zu Fleisch und Blut werden lassen, sie konkretisiert und sie eben dadurch modifiziert.
—„Briefe über die Taktik“, April 1917, LW 24

In diesen „Briefen“ argumentierte Lenin, dass die Februarrevolution die Staatsmacht in die Hände der Bourgeoisie gelegt habe, da das „demokratische“ Bündnis des Proletariats und der Bauernschaft (die reformistisch dominierten Arbeiter- und Soldaten-Räte) „freiwillig an die Bourgeoisie abtritt, freiwillig zu ihrem Anhängsel wird“. Während er im Falle eines Zusammenbruchs der bürgerlichen Staatsmacht die hypothetische Möglichkeit einer demokratischen Diktatur (als instabile Regierungsform) nicht kategorisch ausschloss, glaubte Lenin die alte Formel „ist veraltet. Sie taugt nichts. Sie ist tot“.

Aus Lenins Perspektive war die bürgerliche Revolution sowohl vollendet als auch nicht vollendet. Als Produkt einer fehlgeschlagenen proletarischen Revolution (Februar 1917) wurde eine bürgerliche provisorische Regierung von den reformistischen Führern der Sowjets (der pseudo-“demokratische Diktatur“) zugelassen, doch einige der Schlüsselaufgaben der bürgerlichen Revolution, insbesondere der Landreform, würde eine zweite sozialistische Revolution (Oktober 1917) erfordern. Das war die einzige reale Form, die die demokratische Diktatur annehmen konnte: Die bürgerlichen und sozialistischen Revolutionen würden sich vermischen, wobei letztere nach der Schaffung einer proletarischen Diktatur aus der ersteren heraus wuchs.

In der Permanenten Revolution (1929) erinnerte Trotzki daran, dass „Lenin hatte sich während einer Reihe von Jahren geweigert [hatte], die Frage im voraus zu beantworten, wie die politisch-parteimäßige und staatliche Organisation der demokratischen Diktatur des Proletariats und der Bauernschaft aussehen werde“.

Trotzki bemerkte, dass die Entwicklung der Ansichten Lenins größtenteils davon abhing, wie sich die Bauern in der Lage sahen, sich selbst zu einer unabhängigen politischen Kraft zu machen. Es wurde Lenin klar, schon nach der Februarrevolution, wenn nicht vorher, dass es für die Bauernschaft keine unabhängige Rolle geben konnte. Es war ihm auch klar, dass, wenn die Bolschewiki die Sowjets nicht beherrschen würden, die Letzteren der Bourgeoisie untergeordnet bleiben und keine demokratische Revolution durchführen konnten. Die Logik der Ereignisse erforderte entweder die Herrschaft der Bourgeoisie oder die Herrschaft des Proletariats. In der Realisierung dieser binären Wahl enthüllten reale Ereignisse auch die damit verbundene Wahrheit, dass die Staatsmacht in der Neuzeit entweder in den Händen der Kapitalisten (der Diktatur der Bourgeoisie) oder der Arbeiter (der Diktatur des Proletariats) sein muss, selbst in bäuerlich dominierten Ländern wie Russland. Das einzige mögliche Auftreten einer Art „demokratischer Diktatur“ oder eines revolutionären Bündnisses des Proletariats und der Bauernschaft war eine Entwicklungsphase nach der Errichtung der Diktatur des Proletariats. Lenins Würdigung dieser Tatsache wurde durch seine neu gefundene Klarheit über den singulären Klassencharakter der „Staatsmaschinerie“ ermöglicht – eine logisch und historisch nachgewiesene Folge der Schlussfolgerung, den bürgerlichen Staat zu „zerschlagen“.

“Alle Macht den Sowjets!“

Im April 1917 schrieb Lenin in seinem Artikel Die Doppelherrschaft über die Situation, die sich in Russland entwickelte:

“Worin besteht die Doppelherrschaft? Darin, daß sich neben der Provisorischen Regierung, der Regierung der Bourgeoisie, eine noch schwache, erst in Keimform vorhandene, aber dennoch unzweifelhaft wirklich existierende und erstarkende andere Regierung herausgebildet hat: die Sowjets der Arbeiter- und Soldatendeputierten.“

Lenins Perspektive war es, eine „zweite Revolution“ zu erreichen, indem „alle Macht an die Sowjets“ transferiert wurde, d.h. die Überreste des bürgerlichen Staates zerschlagen und die Hegemonie der Organe der Arbeiterherrschaft durchgesetzt wurde. Das geschah natürlich im Oktober 1917 tatsächlich. Die von den Bolschewiki geführte Revolution übertrug die Macht dem Proletariat, aber die Institutionen, die diese Macht erhielten, existierten bereits seit acht Monaten. Trotzki führt in der Geschichte der russischen Revolution aus:

Die politische Mechanik der Revolution besteht in dem Übergang der Macht von der einen Klasse zur anderen. Die gewaltsame Umwälzung an sich kommt gewöhnlich innerhalb einer kurzen Frist zustande. Aber keine historische Klasse erhebt sich aus der unterdrückten Lage zur herrschenden mit einem Male, sozusagen über Nacht, mag es auch die Nacht einer Revolution sein. Sie muß schon am Vorabend in bezug auf die offiziell herrschende Klasse eine höchst unabhängige Stellung eingenommen haben; mehr noch, sie muß die Hoffnungen der Zwischenklassen und -schichten, der mit dem Bestehenden Unzufriedenen, aber für eine selbständige Rolle Unfähigen, auf sich konzentriert haben. Die historische Vorbereitung einer Umwälzung führt in der vorrevolutionären Periode zu einer Situation, in der die Klasse, die das neue Gesellschaftssystem zu verwirklichen berufen ist, ohne bereits Herr im Lande zu sein, faktisch einen bedeutenden Teil der Staatsmacht in Händen hält, während der offizielle Staatsapparat noch im Besitz der alten Machthaber verbleibt. Dieses ist der Ausgangspunkt der Doppelherrschaft in einer jeden Revolution.
Doch das ist nicht ihre einzige Form. Falls die neue Klasse, die durch die Revolution, die sie nicht gewollt, an die Macht gestellt wird, eine alte, historisch verspätete Klasse ist; falls sie sich etwa vor ihrer offiziellen Krönung verbraucht hat; falls sie, zur Macht gekommen, ihren Widerpartner bereits hinreichend reif, den Arm nach dem Staatssteuer ausgestreckt, vorfindet, – dann führt die politische Umwälzung zum Ersatz der einen Doppelherrschaft mit sehr schwankendem Gleichgewicht durch eine andere, mitunter noch weniger widerstandsfähige. Im Siege über die „Anarchie“ der Doppelherrschaft besteht eben auf jeder neuen Etappe die Aufgabe der Revolution oder – der Konterrevolution.

In dem polarisierenden politischen Kampf um die Frage der Doppelherrschaft erklärte Lenins Parole „Alle Macht den Sowjets!“ das zu lösende Grundproblem: welche Klasse soll herrschen? Die russische Revolution stellte das deutlichste Beispiel dafür da, was in der Tat ein allgemeines Phänomen jeder revolutionären Situation (die Entstehung von Doppelherrschaft) und einer erfolgreichen Revolution (ihre Auflösung zugunsten der neuen Staatsform) gewesen ist.

In Die englische Revolution 1640 beschreibt Christopher Hill einen Parallelprozess innerhalb dieser bürgerlichen Revolution:

Die Zerstörung der königlichen Bürokratie hatte eine Lücke hinterlassen, die letztlich von einem neuen mittelständischen öffentlichen Dienst erfüllt werden sollte. Unterdessen hatte der Druck der revolutionären Notwendigkeit zur Schaffung einer Reihe von Revolutionskomitees in den Ortschaften geführt. „Wir hatten hier ein Komitee“, schrieb ein niedergeschlagener Gentleman auf der Isle of Wight, „das die stellvertretenden Leutnants und auch die Friedensrichter überstimmte, und darüber hinaus hatten wir tapfere Männer: Ringwood von Newport, der Straßenhändler: Maynard, der Apotheker: Matthews, der Bäcker: Wavell und Legge, Bauern; und der arme Baxter von Hurst Castle. Diese beherrschten die ganze Insel und taten alles, was sie in ihren Augen für gut hielten. „(Sir John Oglander hat wahrscheinlich die soziale Minderwertigkeit seiner Feinde übertrieben: Über das ganze Land wurden die Landkomitees vom Adel und der oberen Bourgeoisie geführt). Diese Komitees wurden jetzt organisiert und zentralisiert und alle unter die einheitliche Kontrolle der großen Komitees des Parlaments, das wirklich den Bürgerkrieg leitete – das Komitee beider Königreiche, das Komitee der Geldleiher, das Komitee der Aufzinsung usw. – gebracht. Das alte staatliche System wurde nicht vollständig, sondern nur teilweise zerstört und verändert; neue Institutionen wurden unter dem Druck der Ereignisse aufgebaut.

In der Geschichte der russischen Revolution arbeitete Trotzki ausführlich über die komplizierte Rolle der Doppelmacht in der englischen Revolution heraus:

Der Bürgerkrieg verleiht der Doppelherrschaft einen augenfälligen, und zwar einen territorialen Ausdruck: indem sich jede Macht einen befestigten Punkt schafft, führt sie den Kampf um das übrige Territorium, das nicht selten eine Doppelherrschaft in Form des aufeinanderfolgenden Einfalls der beiden kriegführenden Mächte erduldet, bis eine von ihnen sich endgültig festsetzt.
Die englische Revolution des 17. Jahrhunderts zeigt, gerade weil sie eine große Revolution war, die die Nation bis in die Tiefen aufwühlte, ein deutliches Abwechseln von Doppelherrschaftregimes, mit scharfen Übergängen von dem einen zum anderen, in Form des Bürgerkrieges.
Zuerst stehen der Königsmacht, die sich auf die privilegierten Klassen oder die Oberschichten dieser Klassen, Aristokraten und Bischöfe, stützt, Bourgeoisie und dieser nahestehende Schichten des kleinen Landadels gegenüber. Die Regierung der Bourgeoisie ist das Presbyterianer-Parlament, das sich auf die Londoner City stützt. Der andauernde Kampf dieser zwei Regimes wird im offenen Bürgerkrieg entschieden. Zwei Regierungszentren, London und Oxford, schaffen sich ihre Armeen, die Doppelherrschaft nimmt eine territoriale Form an, wenn auch die territorialen Abgrenzungen, wie stets im Bürgerkriege, sehr schwankend sind. Das Parlament obsiegt. Der König ist gefangen und harrt seines Geschicks.
Es könnte scheinen, die Bedingungen für die Einzelherrschaft der presbyterianischen Bourgeoisie seien im Entstehen. Aber bevor noch die Königsmacht gebrochen ist, verwandelt sich die Armee des Parlaments in eine selbständige politische Kraft. Sie vereinigt in ihren Reihen die Independenten, fromme und entschlossene Kleinbürger, Handwerker und Ackerbauer. Die Armee mischt sich machtvoll in das öffentliche Leben ein, aber nicht einfach als bewaffnete Gewalt, auch nicht als Prätorianergarde, sondern als politische Vertretung einer neuen Klasse, die sich der reichen und wohlhabenden Bourgeoisie entgegenstellt Dementsprechend schafft die Armee ein neues Staatsorgan, das sich über das militärische Kommando erhebt: den Rat der Soldaten und Offiziersdeputierten („Agitatoren“). Es beginnt eine neue Periode der Doppelherrschaft: die des presbyterianischen Parlaments und der Independenten-Armee. Die Doppelherrschaft führt zum offenen Zusammenstoß. Die Bourgeoisie erweist sich als ohnmächtig, der „mustergültigen Armee“ Cromwells, das heißt den bewaffneten Plebejern, eine eigene Armee entgegenzustellen; Der Konflikt endet mit einer Säuberung des presbyterianischen Parlaments mit Hilfe des Independentensäbels. Vom Parlament bleibt nur Spreu, es wird die Diktatur Cromwells errichtet. Die unteren Schichten der Armee versuchen unter Leitung der Leveller, des äußersten linken Flügels der Revolution, der Herrschaft der militärischen Spitzen, der Granden der Armee ihr eigenes, wahrhaft plebejisches Regime entgegenzustellen. Doch die neue Doppelherrschaft kommt nicht zur Entwicklung: die Levellers, die untere Schicht der Kleinbürger, haben noch keinen eigenen historischen Weg und können ihn auch noch nicht haben. Cromwell wird mit den Gegnern bald fertig. Es entsteht für eine Reihe von Jahren ein neues, allerdings keinesfalls widerstandsfähiges politisches Gleichgewicht.

Die Amerikanische Revolution entwickelte auch ihre eigenen Machtinstitutionen, als der Prozess der Regelung stattfand. Mit der Unabhängigkeitserklärung des Kontinentalkongresses im Jahre 1776, stand das Gremium, dass von der Kontinentalarmee und den Milizen unterstützt wurde, in Konkurrenz mit den existierenden Institutionen der Kolonialherrschaft (Westminster, den ihm treuen lokalen Körperschaften und der britischen Armee und Marine) während des Verlaufes des Krieges. Wie beim englischen Bürgerkrieg wurde die Doppelherrschaftssituation in Form einer territorialen Teilung ausgedrückt, und die Macht verlagerte sich auf der Grundlage der Ergebnisse des militärischen Konflikts von der einen Seite zur anderen.

Trotzki argumentierte, dass die Doppelmacht auch ein Merkmal der Französischen Revolution war:

In der großen Französischen Revolution konzentriert die Konstituierende Versammlung, deren Rückgrat die oberste Schicht des dritten Standes ist, die Macht in ihren Händen, jedoch ohne dem König seine Vorrechte völlig zu nehmen. Die Periode der Konstituierenden Versammlung ist die Periode scharfer Doppelherrschaft, die mit der Flucht des Königs nach Varennes endet und formell erst mit der Gründung der Republik liquidiert wird.

Auch die Gründung der Republik löste die revolutionäre Situation nicht auf, und die Doppelmacht trat in verschiedenen Formen wieder auf, auch während des Beginns der Konterrevolution:

So erhebt sich über die Stufen der Doppelherrschaft im Laufe von vier Jahren die Französische Revolution zu ihrem Höhepunkt. Mit dem 9. Thermidor beginnt sie wiederum über die Stufen der Doppelherrschaft hinabzusteigen. Und wieder geht der Bürgerkrieg dem Abstieg voran, wie er früher den Aufstieg begleitete. So sucht die neue Gesellschaft ein neues Gleichgewicht der Kräfte.
Die Geschichte der russischen Revolution

In Russland war die Zeit zwischen der Februarrevolution und der Oktoberrevolution von einer Situation revolutionärer Instabilität geprägt, in der die Bourgeoisie von den reformistischen Führern des möglicherweise konkurrierenden Staates auf dem Territorium des Zarenreiches an der Macht gehalten wurde. Diese eher eigenartige Manifestation der Doppelherrschaft wird in der Geschichte der russischen Revolution beschrieben:

In der Revolution von 1917 sehen wir, wie die offizielle Demokratie die Doppelherrschaft bewußt und vorbedacht schafft und sich mit allen Kräften dagegen stemmt, die Macht allein zu übernehmen. Die Doppelherrschaft entsteht – so mag es auf den ersten Blick scheinen – nicht als Resultat des Kampfes der Klassen um die Macht, sondern als Resultat des freiwilligen „Abtretens“ der Macht durch die eine Klasse an die andere. Insofern die russische „Demokratie“ einen Ausweg aus der Doppelherrschaft suchte, sah sie ihn im eigenen Rücktritt von der Macht. Ebendieses nannten wir das Paradoxon der Februarrevolution.
Die Geschichte der russischen Revolution

Alle nachfolgenden revolutionären Situationen, d.h. jene Situationen, in denen sich die Übertragung der Staatsgewalt auf die Arbeiterklasse als eine unmittelbare geschichtliche Möglichkeit darstellte, wurden durch die Existenz von Doppelherrschaft und oft durch die Existenz von Sowjets als einer besonderen Manifestation proletarischer Herrschaft gekennzeichnet. Trotzki beobachtete:

So erhielten die Sowjets von 1905 gigantische Entfaltung im Jahre 1917. Daß die Sowjets – wir wollen es hier gleich sagen – nicht einfach eine Ausgeburt der historischen Verspätung Rußlands, sondern vielmehr ein Produkt der kombinierten Entwicklung darstellen, beweist allein schon die Tatsache, daß das Proletariat des industriellsten Landes, Deutschlands, während des revolutionären Aufstieges von 1918/19 keine andere Organisationsform gefunden hat als die der Räte.

Während andere Formen der proletarischen Macht in revolutionären Situationen auftraten und auftreten können – zum Beispiel die Nationalgarde und der Stadtrat der Pariser Kommune und die Arbeitermilizen des spanischen Bürgerkrieges – durch die Schaffung von Sowjets / Räten durch die Arbeiterklasse im Bestreben, ihre Bedürfnisse während einer Krise zu befriedigen, ist das typische Anzeichen einer revolutionäre Situation der Doppelherrschaft. Es ist schwierig, sich ein besseres Mittel vorzustellen.

Trotzki, der Theoretiker der Doppelherrschaft, bemerkte, dass diese Erscheinung eine tiefere Wahrheit über den Staat offenbart und was eine Revolution ausmacht:

Widerspricht die Erscheinung der Doppelherrschaft, bisher nicht genügend bewertet, der Marx’schen Staatstheorie, die die Regierung als das Exekutivkomitee der herrschenden Klasse ansieht? Das wäre dasselbe, als wollte man sagen: widerspricht das Schwanken der Preise unter dem Einfluß von Nachfrage und Angebot der Werttheorie? Widerlegt die Selbstaufopferung des Weibchens, das sein Junges verteidigt, die Theorie vom Kampf ums Dasein? Nein, in diesen Erscheinungen finden wir nur eine komplizierte Kreuzung der gleichen Gesetze. Wenn der Staat die Organisation der Klassenherrschaft ist, die Revolution aber die Ablösung der herrschenden Klasse, so muß der Übergang der Macht von der einen Klasse zur anderen notwendigerweise widerspruchsvolle Staatszustände schaffen, vor allem in Form der Doppelherrschaft. Das Verhältnis der Klassenkräfte ist keine mathematische Größe, die sich von vornherein berechnen läßt. Wenn das alte Regime aus dem Gleichgewicht geschleudert ist, kann das neue Verhältnis der Kräfte sich nur als Resultat ihrer gegenseitigen Nachprüfung im Kampf ergeben. Das eben ist die Revolution.“
Die Geschichte der russischen Revolution

Revolution, Bewusstsein & die politische Organisation

Die Doppelmacht von 1917 basierte zunächst auf dem unterentwickelten politischen Bewusstsein der Massen, wie es in der Dominanz der Sowjets durch die reformistischen Parteien zum Ausdruck kam. In der Feuerprobe der Revolution jedoch änderten sich die Wünsche und Bedürfnisse der Arbeiterklasse rasch. In Verbindung mit dem politischen Bankrott der Menschewiki und der Sozialrevolutionäre bot dieses den Rahmen für die ideologische Überzeugungsarbeit der Bolschewiki unter den Massen. Es ist ein wichtiges Merkmal der proletarischen Revolution, dass der Prozess der Übertragung der Macht von der Bourgeoisie auf das Proletariat entscheidend auf die bewusste menschliche Intervention setzt. In Die Lehren des Oktobers (1924) fasste Trotzki die „Hauptlehre des vergangenen Jahrzehnts“ zusammen: „Ohne die Partei, unter Umgehung der Partei, durch ein Surrogat [Ersatz] der Partei kann die proletarische Revolution nie siegen.“

Dieses Vertrauen auf den subjektiven Faktor ist ein einmaliges Merkmal des Übergangs zu einer neuen Produktionsweise in unserer Epoche. Der Aufstieg des Feudalismus war ein allmählicher Prozess der wirtschaftlichen Entwicklung im Rahmen des Zusammenbruchs der Produktionsweise der römischen Sklavenhaltergesellschaft, fast eine „unbewusste“ Entwicklung in dem Sinne, dass seine Begünstigten ihre Rolle bei der Errichtung einer neuen Produktionsweise nicht bewusst waren. Im Gegensatz dazu wurde der Aufstieg des Kapitalismus von Revolutionen mit zunehmend abgestimmten Formen des Bewusstseins begleitet. Im Wandel von der bürgerlichen zur proletarischen Revolution steigt die Rolle der Ideen und der politischen Organisation im weiteren Umfang, da das Bewusstsein der revolutionären Klasse sehr eng an die entstehende Produktionsweise angeglichen werden muss, damit diese Produktionsweise entsteht. Im Gegensatz zum Aufstieg der Bourgeoisie wird die Produktionsweise des Proletariats vom höchstwertigen Kollektivismus bestimmt, und erst durch die staatliche Planung beginnt er wirklich zu existieren. Mit anderen Worten, die Produktionsweise muss als bewusste Anstrengung ins Leben gerufen werden. Die für diesen Prozess notwendigen Formen des Bewusstseins werden manchmal gefördert und ansonsten durch objektiven Kräften des Kapitalismus behindert und stützen sich daher auf das aktive Eingreifen der politischen Organisation.

Die historische Denkschule, die den Begriff der bürgerlichen Revolution verwirft, tut dies zum Teil auf der Grundlage, dass die damaligen Revolutionäre sich weitgehend nicht als die Grundlage für eine ungehinderte kapitalistische Expansion legend verstanden haben. Diese Analyse weiß die historische Entwicklung der Rolle des Bewusstseins nicht zu schätzen. In der Geschichte der russischen Revolution bemerkte Trotzki: „Jede große Revolution hat neue Etappen der bürgerlichen Gesellschaft und neue Bewußtseinsformen ihrer Klassen zu verzeichnen“:

Mitte des siebzehnten Jahrhunderts entfaltete sich die bürgerliche Revolution in England im Gewande der religiösen Reformation. Der Kampf um das Recht, nach einem eigenen Gebetbuch zu beten, identifizierte sich mit dem Kampf gegen König, Aristokratie, Kirchenfürsten und Rom. Die Presbyterianer und Puritaner waren tief davon überzeugt, daß sie ihre irdischen Interessen unter den unerschütterlichen Schutz der göttlichen Vorsehung gestellt hatten. Die Aufgaben, für die die neuen Klassen kämpften, verwuchsen in deren Bewußtsein mit dem Bibeltext und den Formen kirchlicher Gebräuche.…
In Frankreich, das die Reformation übergangen hatte, erlebte die Katholische Kirche als Staatskirche die Revolution, die nicht in Bibeltexten, sondern in Abstraktionen der Demokratie Ausdruck und Rechtfertigung für die Aufgaben der bürgerlichen Gesellschaft fand. Wie groß der Haß der heutigen Lenker Frankreichs gegen das Jakobinertum auch sein mag, Tatsache bleibt, daß gerade dank der rauhen Arbeit Robespierres sie alle Möglichkeiten behalten haben, ihre konservative Herrschaft mit jenen Formeln zu verhüllen, durch die einst die alte Gesellschaft gesprengt wurde.

Das Erscheinen der „Abstraktionen der Demokratie“ in der bürgerlichen Revolution ist der Französischen Revolution vorausgegangen. In der amerikanischen Revolution spielten sie eine wichtige Rolle bei der Festigung des Bündnisses der kolonialen herrschenden Klasse mit den Kleinbürgertum und plebejischen Schichten, die die Revolution durchführten. Diese Ideen wurden mit bestimmten Institutionen und Vertretern assoziiert: ideologische Führung wurde von Gremien wie den Söhnen der Freiheit und den Korrespondenzkomitees geleistet, in denen Persönlichkeiten wie Thomas Jefferson, James Madison, Patrick Henry, Tom Paine und andere ihre Einfluss nahmen. Erst nach der Revolution kristallisierten sich die ausgeprägten ideologischen Tendenzen der revolutionären Bewegung in organisierte politische Parteien (Föderalisten und Demokratisch-Republikaner) aus, obwohl es vor und während der Revolution „fraktionelle“ Unstimmigkeiten gab. In der englischen Tradition gab es seit einem Jahrhundert „Parteien“ – Whigs und Tories – in dem Sinne, dass gleichgesinnte Machtmenschen sich zusammenschlossen und sich miteinander verschworen, um politische Ergebnisse zu formen.

Der Ausbruch und die anschließende Entwicklung der Französischen Revolution wurde von Vorläufer-Parteien geprägt, die „Clubs“ genannt wurden, die ihre unmittelbaren Vorläufer in den Salon-Versammlungen von Intellektuellen, Künstlern und dissidentischen Aristokraten hatten, die vom Denken der Aufklärung inspiriert waren. Der erste bedeutende Club der Französischen Revolution war der „Breton Club“, der bald als die Jakobiner bekannt wurde. Er bestand ursprünglich aus Vertretern des Dritten Standes aus der Bretagne, aber schnell dehnte er sich auf Anhänger aus anderen Provinzen aus. Ausgehend von der Praxis, sich vor der Teilnahme an den Generalversammlungen mit den Taktiken zu befassen, entwickelte sich der Jakobiner Club zu etwas, das einer politischen Partei glich, die Richtlinien, Regeln und eine Organisationsstruktur annahm und sich über die gewählten Funktionäre hinaus ausdehnte. Andere Vereine tauchten rechts (Gesellschaft von 1789) und links (Cordeliers) auf, und der Jakobinerklub selbst erzeugte eine rechte Abspaltung (Feuillants). Die Jakobiner blieben intern geteilt zwischen zwei Fraktionen, einem radikalen Flügel, der als die Montagnards bekannt sein sollte, und den gemäßigteren Girondisten. Unter der Führung von Maximilien Robespierre warfen die radikalen Jakobiner die Girondisten raus und drängten in eine revolutionärere Richtung (indem sie die Terrorherrschaft unter dem Komitee für öffentliche Sicherheit einführten). Die Klubs, die mit den Massen der Sansculotten am meisten in Verbindung standen, waren die Jakobiner und die Cordeliers, zu denen auch die Anhänger von Jacques Hébert (organisiert um die Zeitung Le Père Duschesne) gehörten. Am Ende der Schreckensherrschaft hatten die Jakobiner nicht nur den Kopf der royalistischen Konterrevolution abgehackt, sondern auch die Bedrohungen von links niedergeschlagen. Sie exekutierten sowohl Hébert als auch den ehemaligen Cordeliersführer Georges Danton. Nach der politischen Konterrevolution des 9. Thermidor-Jahrs II., die zur Guillotinierung von Robespierre selbst führte, gerieten die Jakobiner in einen Niedergang. Aus dieser Zersetzung entwickelte sich eine radikale, vor-kommunistische Tendenz, die von François-Noël „Gracchus“ Babeuf unter der Leitung von François-Noël „Verschwörung der Gleichen“ geführt wurde, obwohl sie nach einem abgebrochenen Aufstand schnell unterdrückt wurden.

Die europäischen Revolutionen der 1830er und 1840er Jahre sahen die Teilnahme und ideologische Intervention von Aktivisten und Organisationen, die sich mit der jakobinischen Tradition oder einem ihrer eher sozialistischen Ableger identifizierten. In vielen Fällen wurde der ideologische Boden für die Revolution zum Teil durch die Propaganda der mit diesen Tendenzen assoziierten klandestinen „Gesellschaften“ vorbereitet, die auf die verschiedenen Episoden der Französischen Revolution als politische Inspiration zurückblickten. Die Vision dieser Kräfte war jedoch bestenfalls auf sozialistische Konzepte beschränkt, die vor dem Beginn des modernen Proletariats standen und schlimmstenfalls durch radikale liberale Feindseligkeit, nicht nur für die Aristokratie, sondern auch für die Arbeiterklasse, definiert wurden. Ihr politischer Bankrott wurde offenbar, als sich die Realität des sozioökonomischen Lebens der Mitte des 19. Jahrhunderts durchsetzte. Der einzige bleibende Beitrag dieser Tradition kam von dem von Babeuf inspirierten extremen linken Flügel, der Marx und Engels und die moderne sozialistische Bewegung beeinflusste.

Als die Pariser Kommune im März 1871 gegründet wurde, war es kein bewusster Versuch der Führung der Arbeiterklasse, den Übergang zum Sozialismus zu initiieren. Die Macht fiel in ihre Hände, und sie waren der Aufgabe nicht gewachsen. Fünfzig Jahre nachdem die Kommune besiegt wurde argumentierte Trotzki:

Das Pariser Proletariat hatte keine solche [revolutionäre] Partei. Die bürgerlichen Sozialisten, die in der Kommune reich waren, schauten zum Himmel auf, als ob sie auf ein Wunder oder ein Orakel warteten. Und während sie so zögerten, tasteten und verzweifelten die Leute wegen des Schwankens einiger und der Fantasien anderer…
Wenn das französische Proletariat im September 1870 von einer zentralisierten revolutionären Partei geführt worden wäre, hätte die Geschichte nicht nur Frankreichs, sondern der ganzen Menschheit eine andere Richtung eingeschlagen.
—Vorwort zu La Commune de 1871 von C. Talès

Es ist in Wirklichkeit unmöglich zu wissen, ob eine entschlossene revolutionäre Führung im September 1870 oder im März 1871 der Arbeiterklasse nur mehr Zeit gegeben hätte oder in anderen Ländern erfolgreiche sozialistische Revolutionen ausgelöst hätte. Marx bot eine klare Vision, die den Fehlern der kleinbürgerlichen Führer der Kommune qualitativ überlegen war. Trotzdem war die von Trotzki beschriebene Art von Partei nicht einmal für Marx vorstellbar. Sie würde sich später als die logische Entwicklung der marxistischen Organisation unter den Bedingungen einer reiferen Arbeiterklasse und einer Produktionsweise herausstellen, die in ihre Endphase eingetreten war. Wieder einmal war es Lenin, der über dieses wesentliche Merkmal der proletarischen Revolution eine entscheidende Klarstellung anbot.

Arbeiteraristokratie und die Avantgarde-Partei

Kurz nach der Niederlage der Pariser Kommune fiel die Internationale Arbeiterassoziation im Zuge des Fraktionskampfes zwischen seinen marxistischen und anarchistischen Flügeln auseinander. Im Jahr 1889 wurde die Zweite (Sozialistische) Internationale gegründet, im Gegensatz zu ihrem Vorgänger ohne Anarchisten und dominiert von nominell marxistischen Elementen. Die SPD war die einflussreichste Mitgliedsorganisation. Kautsky, die führende Persönlichkeit der SPD, glaubte, dass die Existenz von pro-sozialistischen, aber nicht marxistischen Strömungen innerhalb einer sozialdemokratischen Partei von Natur aus keine existenzielle Herausforderung für die revolutionäre Fähigkeit der Partei darstelle. Oft etwas ungenau die „Partei der gesamten Klasse“ genannt, beruhte dieses Konzept einer breiten Partei auf der Auffassung, dass der Marxismus unvermeidlich gewinnen würde, wenn die proletarischen Fundamente der Partei intakt blieben. Als organisatorischer Rahmen wurde die kautskyistische Auffassung von den meisten führenden Theoretikern der Sozialistischen Internationale einschließlich Lenins zu jener Zeit geteilt, die gleichwohl wie Kautsky die Bedeutung des ideologischen Kampfes gegen nicht-marxistische Strömungen innerhalb der Partei und für revolutionäre sozialistische Ideen außerhalb der Partei betonten.

1902 schrieb Lenin Was Tun?, in dem er gegen die objektivistische Vorstellung argumentierte, das Proletariat würde „spontan“ einfach als Nebenprodukt seiner gewerkschaftlichen oder „wirtschaftlichen“ Kämpfe das politische Bewusstsein entwickeln, eine sozialistische Revolution zu machen:

Wir haben gesagt, daß die Arbeiter ein sozialdemokratisches Bewußtsein gar nicht haben konnten. Dieses konnte ihnen nur von außen gebracht werden. Die Geschichte aller Länder zeugt davon, daß die Arbeiterklasse ausschließlich aus eigener Kraft. nur ein trade-unionistisches Bewußtsein hervorzubringen vermag, d.h. die Überzeugung von der Notwendigkeit, sich in Verbänden zusammenzuschließen, einen Kampf gegen die Unternehmer zu führen, der Regierung diese oder jene für die Arbeitet notwendigen Gesetze abzutrotzen u.a.m. Die Lehre des Sozialismus ist hingegen aus den philosophischen, historischen und ökonomischen Theorien hervorgegangen, die von den gebildeten Vertretern der besitzenden Klassen, der Intelligenz, ausgearbeitet wurden. Auch die Begründer des modernen wissenschaftlichen Sozialismus, Marx und Engels, gehörten ihrer sozialen Stellung nach der bürgerlichen Intelligenz an. Ebenso entstand auch in Rußland die theoretische Lehre der Sozialdemokratie ganz unabhängig von dem spontanen Anwachsen der Arbeiterbewegung, entstand als natürliches und unvermeidliches Ergebnis der ideologischen Entwicklung der revolutionären sozialistischen Intelligenz.

Während er die Rolle der bürgerlichen Intellektuellen hervorhob, die sich von ihrer Klasse auf die Seite des Proletariats geschlagen hatten, war Lenins Hauptargument, dass eine marxistische Arbeiterpartei als Träger und Verteidiger revolutionärer Ideen dem Proletariat revolutionäres Bewusstsein übermitteln musste. In einer späteren Fußnote stellt Lenin klar, dass er nicht meinte, dass Arbeiter von bürgerlichen Intellektuellen an sich geführt werden müssen: „Die Arbeiter nehmen jedoch nicht als Arbeiter, sondern als sozialistische Theoretiker teil.“ Zum damalöigen Zeitpunkt widersprachen die führenden Persönlichkeiten der russischen Partei und der Zweite Internationale Lenins Argumenten nicht, aber in Folge der Spaltung zwischen den Bolschewiki und den Menschewiki 1903 stürzten sich Lenins Gegner auf diese Passage, um zu behaupten, sie habe eine Tendenz zur „Unterordnung“ und zum „Blanquismus“, d.h. eine Perspektive einer revolutionären Minderheit, die ihren Willen einer rückständigen Arbeiterklasse aufzwingen will. Trotzki war vielleicht der giftigste Kritiker und beschuldigte Lenin anti-proletarischer Gefühle, die ein vielleicht unbewusstes Streben nach dem russischen Robespierre (d. h. einen bürgerlichen Diktator) verrieten:

In der internen Politik der Partei führen diese Methoden, wie wir unten sehen werden, dazu, dass die Parteiorganisation sich für die Partei „ersetzt“, das Zentralkomitee die Parteiorganisation ersetzt und schließlich der Diktator das Zentralkomitee ersetzt.
Unsere politischen Aufgaben (1904)

Lenin hatte den revolutionären Marxisten mit dem revolutionären Jakobiner verglichen, aber Trotzki verwarf diese Analogie. Er stützte sich auf Lenins Vorstellung, das sozialistische Bewusstsein „von außen“ in die Arbeiterklasse zu bringen, und deutete an, dass die Bolschewiki der reaktionäre Flügel der Partei seien und Lenin sich darauf vorbereitete, sich zum „Anführer der revolutionären bürgerlichen Demokratie zu machen. Der Marxismus scheint für die revolutionäre Intelligenz eine ideologische Hülle zu sein, um ihre begrenzte bürgerliche revolutionäre Rolle zu verwirklichen.“ Tatsächlich hatte Lenins Befürwortung einer zentralistischen und doch demokratischen Arbeiterpartei, die auf dem marxistischen Programm basierte, damals nicht ausdrücklich Kautskys Konzeption widersprochen. Trotzki, der diese Polemik später zutiefst bedauerte, nachdem er Lenins Partei 1917 mit ganzem Herzen beigetreten war, und andere Menschewiki waren eher durch ihre Ablehnung Lenins besonderer Anwendung dieser Perspektive im russischen Kontext motiviert.

Das folgende Jahrzehnt würde die allmähliche und ungleichmäßige Entwicklung einer ausgeprägten Organisationsform sehen, die 1903 als Embryo auftauchte, als sich die Bolschewiki und Menschewiki vorgeblich über die für die Mitgliedschaft erforderlichen Verpflichtungen trennten. Die Entwicklung des bolschewistischen Flügels ließ die theoretische Ausarbeitung der leninistischen Avantgardepartei vorausahnen, die nur jene Elemente einschloss, die mit dem marxistischen Programm übereinstimmten es und unter Organisationsdisziplin ausführen (siehe Lenin und die Avantgardepartei). Erst nach dem historischen Verrat am 4. August 1914, als die Mehrheit der Führungen der verschiedenen nationalen Sektionen der Zweiten Internationale ihre eigenen imperialistischen Regierungen im Ersten Weltkrieg unterstützte, plädierte Lenin offen für eine „Partei eines neuen Typs“ und verstand endlich, dass sich die Stoßrichtung der Bolschewiki bereits dahin Richtung bewegt hatte.

Als er sich ein für allemal von der alten organisatorischen Konzeption trennte, versuchte Lenin eine materialistische Erklärung für die Ursprünge des Chauvinismus und des Opportunismus innerhalb der Arbeiterbewegung zu erstellen – nicht nur als Importe von ungenügend proletarisierten Eindringlingen:

Der Opportunismus entstand im Laufe von Jahrzehnten kraft der Besonderheiten jener Entwicklungsepoche des Kapitalismus, in der die verhältnismäßig friedliche und kulturelle Existenz einer privilegierten Arbeiterschicht sie „verbürgerlichte“, ihr von den Profiten des eigenen nationalen Kapitals gewisse Brocken zukommen ließ und sie vom Elend, von den Leiden und revolutionären Stimmungen der ausgebeuteten und verarmten Massen isolierte. Der imperialistische Krieg ist die gerade Fortsetzung und Vollendung dieser Lage der Dinge, denn er ist der Krieg um die Privilegien der Großmacht-Nationen, um die Neuaufteilung der Kolonien unter ihnen, um ihre Herrschaft über die anderen Nationen. Verteidigung und Festigung ihrer privilegierten Lage als „Oberschicht“ des Kleinbürgertums oder der Aristokratie (und Bürokratie) der Arbeiterklasse – dies ist die natürliche Fortsetzung der kleinbürgerlich-opportunistischen Hoffnungen und der entsprechenden Taktik während des Kriegs, dies ist die ökonomische Grundlage des Sozialimperialismus unserer Tage.
. . .
Es hat sich eine ganze Gesellschaftsschicht von Parlamentariern, Journalisten, Beamten der Arbeiterbewegung, von privilegierten Angestellten und von einigen Schichtungen des Proletariats herangebildet, und diese Schicht ist mit ihrer nationalen Bourgeoisie verwachsen, wird von dieser Bourgeoisie vollkommen richtig eingeschätzt und „gefügig“ gemacht.
Der Zusammenbruch der II. Internationale (1915)

Als er auf die „Arbeiteraristokratie“ und die damit verbundenen Bürokratien in den Gewerkschaften und riesigen sozialdemokratischen Parteien als Produkte der Phase des kapitalistischen Niedergangs hinwies, stützte sich Lenin auf frühere Analysen von Marx und Engels über die Arbeiterbewegung in Britannien. In einem Artikel mit dem Titel „England 1845 und 1885“, den er 1892 in toto im Vorwort zur englischsprachigen Ausgabe von Die Lage der arbeitenden Klasse in England einarbeitete, erklärte Engels, „Die Trades Unions, vor kurzem noch als Teufelswerk verrufen, wurden jetzt von den Fabrikanten kajoliert und protegiert als äußerst wohlberechtigte Einrichtungen und als ein nützliches Mittel, gesunde ökonomische Lehren unter den Arbeitern zu verbreiten.“ Die britische Bourgeoisie, so Engels, habe die Entwicklung dessen gefördert, was er „eine Aristokratie in der Arbeiterklasse“ nannte. Lenins Argument war, dass der Niedergang des Kapitalismus in seiner monopolistischen Entwicklungsphase dieses Phänomen auf alle imperialistischen Länder verallgemeinert hatte – und das bedeutete, dass die proletarische Revolution eine ideologisch kommunistische Partei brauchen würde, um den Einfluss der Reformisten innerhalb der Arbeiterbewegung zu brechen.

Die Parteien der Zweiten Internationale, zusammen mit den Massengewerkschaften, waren bürokratisiert, ihre Führung war im wesentlichen in die Regierungskoalition der herrschenden Klasse integriert. Der Prozess verlief schrittweise, und die Zweite Internationale war für eine gewisse Zeit noch ein unverzichtbares Werkzeug für die politische Entwicklung der Arbeiterklasse. Lenin argumentierte:

Die II. Internationale hat ihr Teil an nützlicher Vorarbeit geleistet, um die proletarischen Massen zunächst während der langen „friedlichen“ Periode härtester kapitalistischer Sklaverei und raschesten kapitalistischen Fortschritts im letzten Drittel des 19. und am Anfang des 20. Jahrhunderts zu organisieren.
Der III. Internationale steht die Aufgabe bevor, die Kräfte des Proletariats zum revolutionären Ansturm gegen die kapitalistischen Regierungen zu organisieren, zum Bürgerkrieg gegen die Bourgeoisie aller Länder für die politische Macht, für den Sieg des Sozialismus!
Lage und Aufgaben der sozialistischen Internationale (1914)

In Der Zusammenbruch der Zweiten Internationale gab Lenin eine knappe Zusammenfassung seiner Neuorientierung:

Die durch den Krieg verursachte große Krise riss alle Hüllen herunter, fegte alles Konventionelle hinweg, ließ das längst reif gewordene Geschwür aufbrechen und zeigte den Opportunismus in seiner wahren Rolle, als Bundesgenossen der Bourgeoisie. Die restlose, organisatorische Ausscheidung dieses Elements aus den Arbeiterparteien wurde notwendig. In der imperialistischen Epoche geht es nicht an, dass in ein und derselben Partei neben der Vorhut des revolutionären Proletariats noch eine halbkleinbürgerliche Aristokratie der Arbeiterklasse existiert, die sich Brocken von den der „Großmacht“-Stellung „ihrer“ Nation entspringenden Privilegien zugute kommen lässt. Die alte Theorie vom Opportunismus als einer „legitimen Nuance“ der einheitlichen, allem „Extremen“ fremden Partei wurde nun zur schlimmsten Irreführung der Arbeiter und zum größten Hindernis für die Arbeiterbewegung. Der offene Opportunismus, der die Arbeitermassen sofort abstößt, ist lange nicht so gefährlich und so schädlich, wie diese Theorie der goldenen Mitte, die mit marxistischen Worten die opportunistische Praxis rechtfertigen und mit einer Reihe von Sophismen das Unzeitgemäße der revolutionären Aktionen usw. nachweisen will. Der hervorragendste Vertreter dieser Theorie und zugleich auch die hervorragendste Autorität der II. Internationale, Kautsky, offenbarte sich als erstklassiger Heuchler und als Virtuose in der Prostituierung des Marxismus.

Lenin und Sinowjew erklärten in einer gemeinsamen Broschüre mit dem Titel Sozialismus und Krieg (1915), dass die Einheit der Arbeiterklasse – und die Umwandlung des imperialistischen Krieges, der sie entlang nationaler Linien trennte, in revolutionären Klassenkampf gegen die Bourgeoisie – nun einer politischen Spaltung erforderlich machte:

In der abgelaufenen Epoche, vor dem Kriege, galt der Opportunismus häufig zwar als eine „Abweichung“, als ein „Extrem“, aber doch als ein legitimer Bestandteil der sozialdemokratischen Partei. Der Krieg zeigte, daß das in Zukunft unmöglich ist. Der Opportunismus ist „ausgereift“, er hat seine Rolle als Emissär der Bourgeoisie in der Arbeiterbewegung ausgespielt. Die Einheit mit den Opportunisten ist ZU einer einzigen Heuchelei geworden, – wie das Beispiel der deutschen Sozialdemokratie zeigt. In allen wichtigen Fällen (zum Beispiel bei der Abstimmung vom 4. August) warten die Opportunisten mit ihrem Ultimatum auf, das sie dann mit Hilfe ihrer weitverzweigten Beziehungen zur Bourgeoisie, ihrer Mehrheit in den Gewerkschaftsleitungen usw. durchsetzen. Einheit mit den Opportunisten bedeutet jetzt in der Praxis Unterwerfung der Arbeiterklasse unter die eigene nationale Bourgeoisie, Bündnis mit dieser Bourgeoisie zur Unterdrückung fremder Nationen und zum Kampf für die Großmachtprivilegien, also Spaltung des revolutionären Proletariats aller Länder.
Wie schwer der Kampf mit den in vielen Organisationen herrschenden Opportunisten in einzelnen Fällen auch sein mag, welch verschiedenartige Formen der Prozeß der Reinigung der Arbeiterparteien von den Opportunisten in den einzelnen Ländern auch annehmen mag, dieser Prozeß ist unvermeidlich und fruchtbar.

Wenn die Bolschewiki 1917 noch mit den Menschewiki vereinigt gewesen wären und diese Einheit über die Notwendigkeit einer revolutionären programmatischen Klarheit gestellt hätten, hätte es keine Oktoberrevolution gegeben. Diese politische Lektion war so offensichtlich, dass die Bolschewiki in Zusammenarbeit mit Unterstützern in mehreren anderen Ländern Millionen von Arbeitern für das Projekt der Kommunistischen (Dritten) Internationale gewinnen konnten, in der Hoffnung, den Sieg der Oktoberrevolution zu wiederholen.

Vorwärts zu neuen Oktoberrevolutionen!

Zwischen 1917 und 1923 gab es in ganz Europa proletarische Aufstände, und die Arbeiter auf der ganzen Welt waren von der Oktoberrevolution inspiriert. Das Scheitern dieser revolutionären Welle war ein Produkt der relativen Unreife der kommunistischen Bewegung. Revolutionäre Möglichkeiten in China in den späten zwanziger Jahren und in Westeuropa in den 1930er Jahren wurden im Gegensatz dazu durch die Kräfte der stalinistischen politischen Konterrevolution in der Sowjetunion zum Scheitern gebracht. In beiden Fällen lag das Problem in den subjektiven Bedingungen der proletarischen Revolution. Die objektiven Bedingungen, wie Trotzki 1938 feststellte, waren nicht nur „reif“, sondern fingen an, zu „verfaulen“. Ein Jahrhundert nach der Russischen Revolution hat das Versagen, den Übergang zum Kommunismus wieder einzuleiten durch Irreführung der Arbeiterklasse es dem Kapitalismus erlaubt, in eine Phase der Zersetzung zu sinken, die droht, die Menschheit mit sich zu ziehen.

Als er „Das Ende der Geschichte“ ankündigte, während die soziale Konterrevolution den sowjetischen degenerierten Arbeiterstaat und die nach ihm modellierten osteuropäischen deformierten Arbeiterstaaten, endgültig liquidierte, argumentierte Francis Fukuyama, dass „die Widersprüche, die die Geschichte antreiben, vor allem im Bereich des menschlichen Bewusstseins existieren, d.h. Im Reich der Ideen.“ Indem er Marx' Materialismus ablehnte, behauptete Fukuyama:

Aber sicher, die Klassenfrage ist im Westen erfolgreich gelöst worden. Wie Kojève (und andere) bemerkte, stellt der Egalitarismus des modernen Amerikas die wesentliche Errungenschaft der klassenlosen Gesellschaft dar, die sich Marx vorstellte. Dies soll nicht heißen, dass es in den Vereinigten Staaten nicht reiche Menschen und arme Menschen gibt oder dass die Kluft zwischen ihnen in den letzten Jahren nicht gewachsen ist. Aber die Ursachen der wirtschaftlichen Ungleichheit haben weniger mit der grundlegenden Rechts- und Sozialstruktur unserer Gesellschaft zu tun, die grundsätzlich egalitär und moderat umverteilt bleibt, als mit den kulturellen und sozialen Merkmale der Gruppen, aus denen sie besteht, die im Gegenzug das historische Erbe der vormodernen Bedingungen sind.

Die „Ursachen der wirtschaftlichen Ungleichheit“ und andere Formen der Unterdrückung liegen nicht in den Unzulänglichkeiten von Individuen oder Gruppen (wie auch immer durch frühere Ungerechtigkeiten bedingt), sondern in den Grundlagen der bürgerlichen Produktionsweise. Es wird geschätzt, dass nur acht Männer heute so viel Reichtum besitzen wie die untere Hälfte der gesamten Weltbevölkerung (mehr als 3,6 Milliarden Menschen), die es kaum schaffen, mit weniger als 2,50 Dollar pro Tag zu leben. Tausende Menschen sterben jeden Tag an Hunger oder Komplikationen im Zusammenhang mit Mangelernährung – trotz der Tatsache, dass die Menschheit genügend Nahrung produzieren kann, um alle zu ernähren. Imperialistische Militärinterventionen auf der ganzen Welt seit dem Fall der Sowjetunion haben Millionen von Todesopfern zur Folge gehabt. Zunehmende Spannungen zwischen den mächtigsten Staaten – zusammen mit Drohungen gegen einige der schwächeren – riskieren das Auslösen von nuklearer Vernichtung. Darüber hinaus haben die Produktion für Profit und der Wettbewerb um den Markt zu einem verheerenden Klimawandel und anderen anhaltenden Umweltkatastrophen geführt. Die Reaktion der Kapitalisten auf die wirtschaftlichen, sozialen und politischen Krisen, die ihr System zunehmend stärker hervorbringt, besteht darin, seine irrationalen Merkmale zu verstärken. Nur eine globale sozialistische Planwirtschaft kann unsere Spezies aus den Tiefen herausheben, in die der Kapitalismus uns gestürzt hat.

Revolutionäre Situationen können und werden in Zukunft aufkommen. Revolutionäre Organisationen werden zweifellos eine Rolle bei der Entstehung dieser „objektiven“ Möglichkeiten spielen. Was sicher ist, ist die Notwendigkeit einer marxistischen Führung, die diese revolutionären Situationen in proletarische Machtergreifungen verwandelt. Das ist die grundlegende Lehre aus der Oktoberrevolution. Wie Trotzki in Das Übergangsprogramm feststellte: „Die historische Krise der Menschheit ist zurückzuführen auf die Krise der revolutionären Führung“.