Als es schien, dass sich die Fackel des arabischen Frühlings auch in Libyen entflammen würde, bezog die Gruppe Arbeitermacht (GAM) von der ersten Minute an Stellung für die Aufständischen, und sah sie als authentische Revolutionäre im Sinne der Menschen auf dem Tahrir-Platz in Ägypten oder der Massen in Tunesien, die schnell für das Ende des Regimes von Ben Ali sorgten.
In der März-Ausgabe ihrer Publikation Neue Internationale schrieben sie:
Die Massen können und müssen nun ihre Macht nutzen, um das gesamte alte Regime zu beseitigen, die Bourgeoisie - die einheimische wie die imperialistische - zu enteignen, den Staat zu zerschlagen und die alten reaktionären Eliten zu stürzen. Nur eine auf die Organe des Aufstands, auf Räte und Milizen gestützte Arbeiter- und Bauernregierung kann sichern, dass die politischen und sozialen Forderungen der Arbeiterklasse, der Jugend und der Massen auch umgesetzt werden.
Kein vom Westen unterstütztes Übergangsregime unter Einschluss von Teilen der alten Eliten kann das, sondern nur die Weiterführung der Revolution zum Sozialismus, nur die Ausweitung der Revolution auf die gesamte Region – nur eine permanente Revolution ist dazu in der Lage.
— Gaddafis Bankrott (Neue Internationale 157 ; 2011-03-01)
http://www.arbeitermacht.de/ni/ni157/gaddafi.htm
Darüber hinaus gab die Liga für die 5. Internationale (LFI), die internationale Organisation deren deutsche Sektion die GAM ist, eine nüchterne Einschätzung der Situation in Libyen. Sie sprachen offen die Gefahr einer imperialistischen Intervention an und warnten vor den NATO-Lügen, dass ihre Motivation die Menschenliebe sei. Unter der Überschrift „Nein zur imperialistischen Intervention!“ (ebd.) beschrieben sie die Folgen einer möglichen imperialistischen Einmischung:
Aber eine „humanitäre“, militärische Intervention von USA, EU oder UN-Kräften wäre katastrophal. Ihr wahres Ziel wäre es, die „Ordnung wiederherzustellen“, die lebendigen Kräfte der Revolution zu ersticken und die Kontrolle der multinationalen Konzerne über den Öl-Reichtum des Landes zu verteidigen. Am Ende konnte eine solche Intervention für das Land die gleichen höllenähnlichen Konsequenzen bringen, die wir bei den anderen „humanitären“ und „demokratischen“ Invasionen im Irak und Afghanistan erlebt hat [sic].
— Gaddafis Bankrott (Neue Internationale 157 ; 2011-03-01)
http://www.arbeitermacht.de/ni/ni157/gaddafi.htm
Als kurz danach genau diese imperialistische Intervention losging, war das für die GAM kein Grund an ihrer korrekten Position festzuhalten. Stattdessen wurde die Bedeutung der NATO-Einmischung heruntergespielt und verdreht. Entsprechend ignorierte die GAM, dass mit dem Nationalen Übergangsrat, eine Institution die von den Imperialisten schon in den 80er Jahren gegen das Gaddafi-Regime eingesetzt werden sollte, längst eine neue Machtstruktur etabliert war, deren Schicksal von der Feuerkraft der NATO-Intervention abhängig war. Die sogenannten Rebellen waren zu Handlangern der NATO geworden.
Revolutionäre Marxisten haben in dem Zeitraum, in dem die NATO Angriffe auf libysche Städte und militärische Stellungen flog, zur militärischen Verteidigung von Libyen aufgerufen. In einer militärischen Konfrontation zwischen dem Imperialismus und einem halbkolonialen Land wie Libyen stehen Marxisten auf der Seite der unterdrückten Nation, ohne dabei dem herrschenden Regime politische Unterstützung zu bieten.
Die GAM war hingegen bemüht, die Fortschrittlichkeit der Rebellen zu entdecken, obwohl sie sich der reaktionären Führung bewusst waren. Diese Art des „Marxismus“ erlaubt es der GAM, unbequeme Aspekte der politischen Realität zu ignorieren.
Für MarxistInnen bestimmt sich der fortschrittliche oder reaktionäre Charakter einer Bewegung, eines Aufstandes nicht nach diesem oder jenem Führer, sondern aus dem Klassencharakter und Zielen des Aufstandes.
— Gaddafi will Aufstand in Blut ersticken, Martin Suchanek, (Infomail 542 ; 2011-03-13)
http://www.arbeitermacht.de/infomail/542/libyen.htm
Können die Ziele einer politischen Bewegung anders als die ihrer Führung sein? In Libyen gab es zahlreiche Anzeichen dafür, dass die Massen, wie ihre Führer, für eine imperialistische Intervention waren. Die GAM sah das selbst und bezeichnete die Hoffnung auf NATO-Hilfe als eine „tragische Illusion“:
Die Entscheidung des UN-Sicherheitsrates, eine Flugverbotszone über Libyen einzurichten und Militärschläge gegen das Land zu legitimieren, stößt bei den arabischen Massen heute auf Zustimmung.
Wie die Aufständischen in Bengasi interpretieren sie die UN-Resolution als eine Unterstützung ihres Kampfes. Genau darin liegt aber die tragische Illusion …
— Martin Suchanek: Intervention und Revolution (Neue Internationale 158 ; 2011-04)
http://www.arbeitermacht.de/ni/ni158/libyen.htm
Es waren aber nicht nur die libyschen Massen, die von Illusionen geplagt wurden. Die GAM selbst hielt weiter daran fest, dass eine Revolution gegen Gaddafi im Gange sei, obwohl die Rebellen mit den Imperialisten in einer Koalition waren. Dies wurde durch den Besuch des französischen Präsidenten Nicolas Sarkozy und des britischen Premierministers David Cameron bei den damals noch im Kampf befindlichen Aufständischen verdeutlicht, die sich artig und euphorisch bei den Führern der imperialistischen Regierungen für ihr Eingreifen bedankten.
Wenn man der Logik der GAM folgen würde, die die Ereignisse in Libyen als „Volksrevolution“ (ebenda) verkaufen will, dann müsste man Obama, Sarkozy und Cameron als indirekte Unterstützer der „Volksrevolution“ bejubeln, denn der Sieg ihrer Rebellen wäre ohne die NATO-Bomben unmöglich gewesen. Die GAM scheut jedoch vor ihrer eigenen Logik zurück.
Zum einen konnte das alte Regime nur durch die Militärkraft des NATO-Bombenterrors besiegt werden. Zum anderen gab es schon weit vor dem eigentlichen Sieg, besiegelt durch die Ermordung Gaddafis, durch das Zusammenspiel von NATO-Bomben und aufständischen Bodentruppen, Berichte, dass es innerhalb der Übergangsregierung zu Streitigkeiten über den Verkauf der Ressourcen an ausländische Firmen kam. Die Ankündigung der Übergangsregierung im Oktober 2011, die Scharia als Rechtsgrundlage einzuführen, sagt viel über die grandiose Zukunft dieser „Volksrevolution“ aus. Es ist anzunehmen, dass der Sieg der NATO-Rebellen keineswegs in eine Periode von Frieden und Harmonie münden wird.
Vor dem Hintergrund, daß nur etwa ein Drittel der libyschen Bevölkerung in dem stark vom Islamismus geprägten, rebellischen Osten des Landes wohnen und die Rebellen sich im Westen des Landes als Besatzer, Mörder und Plünderer selbst geächtet haben, erscheinen die Aussichten auf Aussöhnung und Frieden zwischen den so unterschiedlichen Bevölkerungsgruppen gering.
— Lehren aus Libyen (junge Welt ; 2011-10-28)
http://www.jungewelt.de/2011/10-28/048.php
Die GAM stellt dem entgegen, dass man zwar die Übergangsregierung nicht unterstützen darf, aber die Arbeiterklasse im Fahrwasser dieser angefangenen „Volksrevolution“ nun selbst die Führung im Kampf um die Macht im Land übernehmen muss. Der Regimewechsel war aber keine „Volksrevolution“, wie sie Karl Marx 1848 beschrieb, sondern die Auswechselung eines widerspenstigen Despoten durch neue, fügsame Despoten mit imperialistischer Unterstützung.
Die politische Verwirrung und damit verbundene Kapitulation der GAM ist jedoch nicht neu. 1999 unterstützte die GAM die NATO-Bombardierung von Serbien, weil die Bomben auf Belgrad angeblich die nationale Unterdrückung der Kosovo-Albaner bekämpften. Die GAM unterstützte somit die pro-imperialistische Politik der UCK (Befreiungsarmee des Kosovo ), die von einem Gegner der nationalen Unterdrückung durch ihre Zusammenarbeit mit der NATO zu einem Handlanger des Imperialismus wurde. Auch damals stand die IBT gegen eine Unterstützung der NATO-UCK-Koalition. Auf einer Demonstration gegen die imperialistische Intervention erklärten wir:
Seit Beginn der Luftangriffe und den verheerenden Niederlagen der UCK hat sich die UCK von einer sehr beschränkten nationalen Befreiungsbewegung im Wesentlichen zu einem Handlanger der NATO verwandelt, den kein Sozialist und Anti-Imperialist mehr verteidigen kann. Da es keine alternative Führung der kosovo-albanischen Nationalbewegung gibt, stellen wir die Forderung nach Unabhängigkeit derzeit nicht als Tagesforderung auf: Selbstbestimmung heißt heute zuallererst: Kampf der NATO und all ihren Handlangern! NATO/BRD raus aus dem Balkan!
— Multinationale Demonstration zur Verteidigung Jugoslawiens gegen NATO-Angriffe. In: Bolschewik Nr. 13 (2000)
Wer ernsthaft für eine weltweite sozialistische Revolution kämpfen will, muss die imperialistischen Einmischungen bekämpfen, die „humanitären Rechtfertigungen“ bloßstellen und der politischen Schönfärberei, wie sie in der Linken oft betrieben wird, entsagen. Die politische Führung der GAM ist dieser Aufgabe nicht gewachsen.