Seit Ausbruch der Krise haben Teile der internationalen Bourgeoisie, die noch vor kurzem den globalen Freihandel als vollkommen alternativlos ansahen, Gefallen an staatlichen Interventionen zum Aufkaufen ihrer maroden Betriebe oder faulen Kredite wieder entdeckt. Dabei handelt es sich meist um die Kapitalisten, die dem jeweiligen nationalen Kapital als zentral für die Aufrechterhaltung des nationalen Standorts gelten. Das betrifft insbesondere solche Konzerne, deren Produktionsmittel auf dem letzten Stand sind und die daher ihre Produktion nur ungern in Neo-Kolonien auslagern. Dort befürchten sie, dem Technologie-Diebstahl zum Opfer zu fallen.
Auf der anderen Seite haben die dramatischen Auswirkungen der Weltwirtschaftskrise soziale Spannungen enorm verschärft. Obwohl es in den imperialistischen Staaten bislang noch vergleichsweise ruhig blieb, kam es in Griechenland, Island und dem Iran zu massiven Konflikten, die die steigende Wut der internationalen Arbeiterklasse auf die Herrschenden zum Ausdruck bringt. In Irland und Frankreich gab es in diesem Jahr — wenn auch sehr kurze — Generalstreiks. Zudem sind defensive Betriebsbesetzungen in vielen europäischen Ländern auf der Tagesordnung. Die Friedhofsruhe ist beendet. Dessen ist sich auch das internationale Kapital bewusst. Selbst die konservative Tagespresse schwadroniert bereits wieder über die Klassengesellschaft, die ihr noch vor wenigen Jahren als ideologische Kreatur des gescheiterten Marxismus gegolten hatte. Neben der wachsenden inneren Aufrüstung zur Prävention möglicher Aufstände ist die Betonung des klassenübergreifenden nationalen Zusammenhalts vermehrt ins Zentrum bürgerlicher Propaganda gerückt. Doch neben bloßer Ideologie versucht man auch, den geistigen Unrat des nationalen Protektionismus materiell zu untermauern.
Wie so oft können sich die Herrschenden dabei auf diejenigen stützen, die Lenin einst als bürgerliche Agenten in der Arbeiterbewegung bezeichnete: Gewerkschaftsbürokraten und Führer bürgerlicher Arbeiterparteien. Auch Teile der radikalen Linken stehen, trotz zuweilen kritischer Nebentöne, einer protektionistischen Perspektive aufgeschlossen gegenüber. In Europa positionieren sich protektionistische Vordenker zumeist in scharfer Ablehnung gegen die EU, in die sie Übel des Neoliberalismus projizieren. Demgegenüber soll es der gute demokratische „eigene“ Nationalstaat nun für die Arbeiter richten.
Ende Januar 2009 brachen in der britischen Ölraffinerie diverse Streiks aus, an denen sich hunderte Arbeiter beteiligten. Ursache der Konflikte war die Anstellung italienischer Arbeiter in der Raffinerie in Lindsey. Die britischen Arbeiter, die in dieser Branche normalerweise als erste Ansprechpartner galten, sobald neue Arbeitsplätze für Bauprojekte zu vergeben waren, reagierten empört. Als einen der Gründe des Aufruhrs nannte die britische Ausgabe der Financial Times:
„Unternehmen, die in dem Sektor arbeiten, bemerkten vertraulich, dass die Attraktion, ausländische Arbeiter statt britische Arbeiter zu beschäftigen, darin besteht, dass sie weit weniger wahrscheinlich Streiks inszenieren. Es gibt eine Industrie-Tradition ‚Sympathie-Arbeitsniederlegungen‘ beim Tod eines Verwandten eines Arbeiters oder eines pensionierten Arbeiters zu veranstalten — eine Baustelle in Southampton erlitt einen begrenzten Streik aus diesem Grund gerade letzten Monat.
Britische Arbeiter sieht man auch als dazu neigend, aufgrund von Problemen mit den Baustelleneinrichtungen, wie kaputte Heißwasser-Boiler, zu streiken. Tee-Pausen — geschützt durch eine branchenweite Übereinkunft mit den Gewerkschaften — sind ein weiterer ‚riesiger Stein des Anstoßes‘ und hatten zu Arbeitsniederlegungen geführt, wie ein Insider bemerkt hat.
Der Maschinenbausektor, der im Herzen des letztwöchigen Disputs in der Ölraffinerie von Lindsey liegt, hat mehr als 22.400 Arbeitstage inoffizieller Aktionen im Jahr bis zum November verloren. Das kommt auf beinahe einem Tag für jeden der etwa 25.000 beschäftigten Arbeiter — ungefähr 32 mal schlimmer als der Durchschnitt der Arbeitskräfte des Vereinigten Königreiches insgesamt für den gleichen Zeitraum.“
— Financial Times, 7. Januar 2009
Die Streikwelle von Lindsey führte zu diversen Solidaritätsstreiks in der gesamten Branche. Sie waren Ausdruck der offensichtlich berechtigten Wut auf gezielte Angriffe gegen die Gewerkschaften. Die Streikwelle hatte jedoch auch protektionistische und nationalistische Elemente. Teile der britischen Nicht-Mehr-Belegschaft versammelten sich beispielsweise vor dem Schiff, auf dem die italienischen Arbeiter untergebracht waren, und forderten diese dazu auf, das Land zu verlassen. Einer der italienischen Lohnabhängigen bemerkte im Guardian:
„Dies ist mein erstes Mal in dem Vereinigten Königreich und das erste Mal in meinen 20 Jahren der Arbeit im Ausland, dass ich ausländerfeindliche Gefühle erlebt habe.“
— Guardian, 7. März 2009
Kein Wunder also, dass auch die faschistische British National Party (BNP) an den Streikpostenketten auftauchte und einer ihrer Sprecher die Verwendung der Losung „British Jobs for British Workers“ (Britische Jobs für britische Arbeiter) im Telegraph vom 30. Januar als „einen großen Tag für den britischen Nationalismus“ bezeichnete. Den Faschisten gefiel diese Losung so gut, dass sie damit auch gleich bei der Anfang Juli stattfindenden Europawahl hausieren gingen.
Pikanter ist jedoch die Tatsache, dass der Labour-Premier Gordon Brown wenige Monate vorher mit diesem Slogan auf Wählerfang ging. Mit dieser reaktionären Losung trieb er einen Keil in die multinationale Arbeiterklasse, der in dieser Auseinandersetzung durchaus wirkungsvoll war. Aber auch andere Arbeiteraristokraten zeigten Begeisterung für den Slogan. Derek Simpson, Führer der Gewerkschaft UNITE, ließ sich gleich neben zwei Models der Boulevard-Zeitung Daily Star ablichten, die „British Jobs for British Workers“-T-Shirts und Schilder mit der gleichen Aufschrift trugen. Die Tatsache, dass der Streik gerade unter diesem Vorzeichen Applaus von der rechten Boulevard-Presse fand, weist einmal mehr auf den problematischen Charakter hin.
Die einzige linke Gruppe, die einigen Einfluss bei dem Konflikt aufbauen konnte, war die britische Schwesterorganisation der Sozialistischen Alternative (SAV), die Socialist Party (SP). Ihr Genosse Keith Gibson wurde ins Streikkomitee gewählt. Allerdings wurde auch unter seinem Einfluss der Slogan nicht hart politisch bekämpft. Neben einigen unterstützenswerten Forderungen, nach gewerkschaftlicher Organisierung der italienischen Arbeiter und der Bereitstellung von Dolmetschern, wurde der Slogan „britische Jobs für britische Arbeiter“ nun abgewandelt in die Forderung nach „gewerkschaftlich kontrollierter Registrierung der Arbeitslosen und ortsansässigen Gewerkschaftsmitglieder mit Nominierungsrechten, sobald Arbeit zur Verfügung steht“. Diese „Nominierungsrechte“ bedeuten de facto, dass die Gewerkschaft Ortsansässigen bevorzugt freie Jobs zuspricht. Der letztliche Abschluss des Streiks, ausgehandelt sowohl von Gewerkschaftsbürokraten und streikenden Arbeitern, gestand 102 „britischen Arbeitern“ Arbeitsplätze in Lindsey zu. Kein Wunder, dass darauf weitere Streiks — zumeist mit eindeutig protektionistisch-nationalistischer Ausrichtung — folgten. Die Arbeiteraristokraten von UNITE sahen darin jedoch kein Problem und kommentierten das Ergebnis in Lindsey folgendermaßen:
„Dies ist ein gutes Abkommen, dass das Prinzip gerechten Zugangs für Arbeiter des Vereinigten Königreichs auf britischen Baustellen etabliert. Wir erwarten nun von anderen Unternehmen in der Bauindustrie das Spielfeld für Arbeiter des Vereinigten Königreichs zu ebnen. Die Arbeiter, die in dem inoffziellen Streik verwickelt waren, können jetzt zurück zur Arbeit gehen.“
— UNITE‘s statement on the Lindsey Oil Refinery dispute (UNITE-Stellungnahme zum Lindsey Ölraffinerie-Streik), 5. Februar 2009
Die mangelnde Kritik der SP an dem protektionistischen Abschluss und den Streiklosungen war jedoch kein vereinzelter Ausrutscher. Dies zeigte sich bei einem späteren, durch Lindsey inspirierten Streik in South Hook in Wales, anlässlich dessen die Zeitung der SP, The Socialist, die bevorzugte Einstellung von „ortsansässigen“, d.h., britischen Arbeitern einmal mehr kritiklos hinnahm:
„Arbeiter in South Hook sind nicht dagegen, dass Isolierer aus Polen an der Baustelle Arbeit bekommen, solange ortsansässigen Isolierern die Möglichkeit gegeben wird, zuerst unter dem Gewerkschaftsabkommen zu arbeiten und dann können ausländische Arbeiter zu gleichem Lohn und gleichen Bedingungen angestellt werden.“
— „Workers strike at South Hook construction site in Wales“, The Socialist, 20. Mai 2009
Auslöser sowohl des Streiks in Lindsey und weiterer Streiks, die auf ihn folgten und zumeist fremdenfeindliche Züge hatten, ist die sogenannte „Posted Workers Directive“ (Entsenderichtlinie) der EU, die es dem europäischen Kapital gestattet, national ausgehandelte Vereinbarungen mit Gewerkschaften zu unterminieren. Die bürgerlichen Agenten innerhalb der Arbeiterbewegung antworteten darauf mit Protektionismus und vor allem Denunziation der EU.
Die alleinige Verurteilung der EU ist eine Nebelkerze, die von der Klassenauseinandersetzung im jeweiligen Land ablenken soll. Verträge zwischen Gewerkschaften und Bossen — wie auch alle sozialen Errungenschaften — stehen von Seiten des Kapitals unter dauerhaftem Beschuss. In Britannien schlägt sich dies in restriktiven gewerkschaftsfeindlichen Gesetzen nieder. Die permanente Unterminierung ernsthafter Klassenkampfbestrebungen europäischer Arbeiter durch Gewerkschaftsbürokraten und bürgerliche Arbeiterparteien stellen an sich eine immense Gefahr dar. Weit größer wird sie dadurch, dass die bürgerlichen Agenten in der Arbeiterbewegung bereitwillig ortsansässige Arbeiter gegen ihre Klassenbrüder und -schwestern aus anderen Ländern ausspielen und damit inhaltliche Anknüpfungspunkte für faschistische Agitation schaffen.
Effektiver Widerstand gegen den Imperialismus beginnt mit der Erkenntnis, dass der Hauptfeind im eigenen Land ist. Unglücklicherweise wird sich an diese Erkenntnis Liebknechts heute nicht sehr oft erinnert. Aber nicht nur in Britannien, sondern auch in Deutschland sind Gewerkschaftsbürokraten in den letzten Jahrzehnten nicht gerade für internationalistisches Engagement bekannt. Sie bevorzugen Klassenzusammenarbeit mit der „eigenen“ Bourgeoisie. Die Weltwirtschaftskrise hat diese Situation weiter verschärft.
Als vor wenigen Monaten General Motors offen mit Plänen kokettierte, seine europäischen Ableger Opel und Vauxhall zu schließen, führte das sowohl an der Basis wie auch der Führung polnischer, deutscher, belgischer, spanischer, ungarischer und britischer Gewerkschaften zu Bestürzung. Diese Tatsache sollte eigentlich ein guter Startpunkt für eine länderübergreifende Kampfaktion zum Erhalt jedes einzelnen Arbeitsplatzes sein. Welche Blüte jedoch die nationalistische Giftsaat trägt, zeigte sich in der Reaktion der unterschiedlichen nationalen Gewerkschaften. Die Zeit fasste das treffend zusammen:
„Die Solidarität der Arbeiterbewegung, die Sache mit dem gemeinsamen Abkommen aller internationalen Standorte, hat nicht funktioniert. Nicht einmal innerhalb der einzelnen Länder hat man sich einigen können.“
— „Übernahmeverhandlungen — Jeder gegen jeden“, Zeit-online, 21. Oktober 2009
Auf internationaler Ebene gab es zwar eine Solidaritätsdemonstration, an der sich Gewerkschaften der meisten Standorte beteiligten, doch die hatte nur den Charakter, dass die Belegschaften Dampf ablassen durften.
Die Gewerkschaftsführungen setzten von Anfang an auf ihre jeweilige nationale Regierung und hofften, dass diese mir protektionistischer Politik den jeweiligen nationalen Standort des Opel-Werkes retten würde. In Deutschland lieferten sich die Betriebsräte in Rüsselsheim und Bochum untereinander eine Fehde darum, welches Werk nun erhalten bleiben sollte.
Wohin dieser nationalistische Schwachsinn führte, zeigten die Reaktionen der nationalen Arbeiterverräter. In Deutschland war man entsetzt über die GM-Entscheidung, Opel zu behalten und verstärkte das Entsetzen durch anti-amerikanische Schimpfparolen. Gleichzeitig bejubelte die britische Gewerkschaft diese Entscheidung.
Das Beispiel Opel unterstreicht einmal mehr die Notwendigkeit der Absetzung der Gewerkschaftsbürokratie. Ihrer beschränkten Ideologie nach, wollen sie nur das Beste für die eigenen Gewerkschaftsmitglieder im Rahmen des Kapitalismus herausholen. Das Ende der sogenannten Sozialpartnerschaft ist nur über den Kampf gegen die Gewerkschaftsbürokratie zu erreichen.
Der national bornierte Standpunkt der einzelnen Gewerkschaftsführungen demonstriert einmal mehr, dass die Klassenkollaboration mit der „eigenen“ Bourgeoisie nur auf Kosten der Arbeiter — national und international - geht. Die sich dahinter verbergende Logik der Akzeptanz von Lohnkürzungen und allgemeiner Verschlechterung der Arbeitsbedingungen führt lediglich zur verschärften Ankurbelung der Abwärtsspirale, in der das internationale Proletariat derzeit gefangen ist.
Leo Trotzki bemerkte im Übergangsprogramm von 1938, dass die Krise des Proletariats die Krise seiner Führung sei. Angesichts des offenkundigen Verrats bürgerlicher Arbeiterparteien und insbesondere der heutigen Gewerkschaftsführer wird der Kampf für die Absetzung letzterer zu einer der wichtigsten Aufgaben von heutigen Revolutionären. Dazu bedarf es jedoch des Aufbaus kommunistischer Gewerkschaftsfraktionen, die unter der programmatischen Führung einer revolutionären Partei die Verteidigung der letzten verbliebenen Errungenschaften des internationalen Proletariats mit der Zielsetzung der sozialistischen Weltrevolution verbindet:
„Im Zeitalter des imperialistischen Verfalls können die Gewerkschaften nur dann wirklich unabhängig sein, wenn sie sich bewußt werden, daß sie in ihrer Tätigkeit die Organe der proletarischen Revolution sind. In diesem Sinne ist das vom letzten Kongreß der Vierten Internationale angenommene Übergangsprogramm nicht nur das Programm für die Tätigkeit der Partei, sondern in seinen Grundzügen auch das Programm für die Tätigkeit der Gewerkschaften.“
— „Die Gewerkschaften in der Epoche des imperialistischen Niedergangs“, Leo Trotzki, August 1940