Rivalitäten unter Räubern — eine Analyse in zwei Teilen

Erster Teil: Räuberstaat USA

Wir leben in einer Welt, in der das Streben nach Profit zu einer schier unglaublichen Kluft zwischen Arm und Reich geführt hat: Die drei Reichsten Familien dieser Welt, allesamt US-Amerikaner, besitzen mehr als 48 Staaten dieser Erde zusammen. 500 Großkonzerne regeln Dreiviertel des Welthandels und tätigen Vierfünftel aller Auslandsinvestitionen. 100 Millionen Flüchtlinge laufen um ihr Leben und alle 3 Stunden sind mehr Menschen an leicht heilbaren Krankheiten und Unterernährung gestorben, als bei dem Anschlag auf das World Trade Center. Nur sterben diese Menschen leise, unauffällig und weniger spektakulär. Ihr Klagen und Schreien verhallt ungehört. Keine geschmacklose, unappetitliche Heuchelkampagne vergießt irgendwelche Tränen über ihr Schicksal.

Hauptverantwortlich für die Ereignisse am 11. September sind natürlich Räuberstaaten wie die USA, die mit ihrer aggressiven und kriegerischen Außenpolitik in jedem Winkel der Welt ihre ökonomischen Interessen durchsetzen wollen. In Hiroshima und Nagasaki wurden beim Abwurf zweier Atombomben über 250.000 Menschen auf einen Schlag ermordet. Im Namen der „Containment Policy“ wurden in Vietnam an die 2.5 Millionen Vietnamesen getötet und 55.000 amerikanische GI's starben für eine ungerechte Sache, mehrere Millionen Krater wurden gebombt, ganze Wälder entlaubt und auch vor dem Einsatz von chemischen Waffen schreckte man nicht zurück: Unter der verheerenden Wirkung von „Agent Orange“ hatten hunderttausende Vietnamesen zu leiden. Erst die heldenhaft kämpfenden Bauern Vietnams konnten diesem Treiben ein Ende bereiten. Die USA erlitten 1975 eine herbe militärische Niederlage.

Mit tatkräftiger Hilfe der Vereinigten Staaten ermordeten Putschisten unter Führung von General Augusto Pinochet den demokratisch gewählten Reformisten Salvador Allende. Der damalige US-Präsident Nixon und sein Außenminister Henry Kissinger waren persönlich in den Putsch verwickelt. Einige Flugzeugpiloten verließen ihren vorgesehenen Kurs und steuerten zu allem entschlossen aufs Stadtzentrum zu. Kurz darauf hörte man Explosionen, man sah berstende Fassaden, Gebäude, die in einem Höllenlärm zusammenstürzten. Staubbedeckte Überlebende versuchten sich zu retten. Die Medien übertrugen die Tragödie live. Alles an einem 11. September, Santiago de Chile im Jahr 1973. Auch heute unterhalten die USA weltweit Terrorzellen.

Im Krieg gegen den Irak starben etwa 125.000 Menschen unmittelbar durch die USA und ihre Verbündeten — für Öl. Selbst die New York Times gibt in einem ihrer aktuellen Leitartikel zu, dass 1991 der Golfkrieg geführt wurde, um das Regime in Riad und damit den Ölfluss in die USA vor zu eigenwilligen Kräften zu schützen. Madeleine Albright, ihres Zeichens ehemalige Außenministerin der Clinton-Adminstration, wurde Mitte der Neunzigerjahre einmal in einem Interview mit der Tatsache konfrontiert, dass zum damaligen Zeitpunkt bereits über eine halbe Million Menschen im Irak an den Folgen des Embargos gestorben sind. Sie antwortete lapidar: „Ich denke es ist eine sehr schwierige Entscheidung, aber der Preis — wir denken, dieser Preis ist gerechtfertigt“. Bei dem über zwei Monate andauernden Luftangriffen auf Serbien und Kosova wurden ebenfalls tausende Menschen getötet. Neben Streubomben und toxischem Nervengas wurden uranhaltige Bomben eingesetzt, viele Landstriche sind radioaktiv kontaminiert. Wohnviertel, Autofabriken, Straßen — die gesamte Infrastruktur des kleinen Landes wurde zerstört. Die USA — aber auch Deutschland — unterstützen die Türkei bei ihrer völkermörderischen Außenpolitik gegenüber den Kurden. Das gleiche gilt für Israel: Obgleich das Verhältnis zwischen Israel und den USA derzeit sehr angespannt ist (im Namen der „Anti-Terror-Allianz“ gegen Afghanistan sind die USA auf das Wohlwollen diverser arabischer Staaten angewiesen und setzen deshalb auf eine Wiederaufnahme der Friedensverhandlungen), billigt man die Verbrechen der israelischen Armee gegen das palästinensische Volk. Die Liste der Grausamkeiten ließe sich beliebig lang fortsetzen.

Der Hintergrund: Krieg um Öl

Der Ölreichtum des mittleren und nahen Osten sowie der kalte Krieg gegen die nicht-kapitalistische Sowjetunion waren für die amerikanische Außenpolitik Anlass, in dieser Region Marionettenregimes aufzubauen. Diese hatten zwar alle ihr Eigenleben, dienten den USA jedoch sehr gut für die Durchsetzung amerikanischer Ansprüche. Saddam Hussein ist ein solches Produkt amerikanischer Außenpolitik: Als Gegengewicht zum Iran wurde er in den Achtzigerjahren von den USA finanziert ehe er 1990 fallengelassen und als „moderner Hitler“ zum Abschuss freigegeben wurde. Das irakische Regime bedrohte schließlich die Ölinteressen der USA am Persischen Golf und geriet partiell in einen Widerspruch zu den USA.

Auch das reaktionäre Taliban-Regime ist ein Kind der US-Imperialismus. Lange Zeit wurden extremistische Mudjahedin direkt über diverse Geheimdienste unterstützt. Eine zentrale Rolle spielten dabei der CIA und der pakistanische Geheimdienst ISI. Die rückschrittlichen Religionsfanatiker Afghanistans wurden im „Kampf gegen die Ungläubigen“ mit 6 Milliarden US-Dollar ausgestattet. Von den westlichen Medien wurde dieser Kampf gegen die Sowjets zu einem Freiheitskampf hochstilisiert. Allen Lügen zum Trotz übernahm die prosowjetische Regierung in Afghanistan im Bildungswesen und im öffentlichen Leben die viele Errungenschaften der Sowjetunion. Sie unternahm Versuche zur Öffnung des Bildungswesens für Frauen und trat für die Abschaffung des Tschador ein. Die westlichen Medien prangerten diese Bemühungen als Vergewaltigung der afghanischen Tradition an. Die tatsächliche Vergewaltigung unzähliger Frauen im klerikalen Afghanistan wurde hingegen weitgehend totgeschwiegen.

Nach dem Zusammenbruch des nicht-kapitalistischen Lagers unternahmen die verschiedenen Großmächte eine diplomatische Offensive in Zentralasien, hinter der vor allem die Aussicht auf die Kontrolle über die riesigen Ölvorkommen des Kaspischen Beckens stand — eine der strategisch wichtigsten und rohstoffreichsten Territorien des Planeten. In Kasachstan befinden sich riesige Ölfelder, in Turkmenistan enorme Gasressourcen. Auf der westlichen Seite des Kaspischen Meeres liegt Baku, die Hauptstadt von Aserbaidschan und das Zentrum der Ölindustrie. Hier wird das Öl direkt aus den Tiefen des weltweit größten Binnensees an die Oberfläche gepumpt.

Das strategische Ziel der „Anti-Terror-Allianz“ ist nicht der Sieg über die Taliban, sondern die Kontrolle über die gesamte Region. Den Vereinigten Staaten geht es vor allem darum, den Verlauf von Pipelines zu bestimmen. Bereits im April 2001 trafen Präsident Bush und Außenminister Powell die Präsidenten von Armenien und Aserbaidschan und diskutierten mit ihnen über den langjährigen Grenzkonflikt zwischen den beiden Ländern. Dieses Gespräch war Teil der Bemühungen, den Weg frei zu machen für eine Pipeline von Baku über Aserbaidschan, Georgien und die Türkei zum Mittelmeer. Einen Monat später billigte ein Konsortium von Ölkonzernen vorläufig das mit drei Milliarden Dollar veranschlagte Projekt. Der wichtigste Partner in diesem Konsortium: British Petroleum (BP). Dieser Hinweis sollte genügen, um das derzeitige Verhalten der Blair-Regierung zu erklären.

Der russische Einfluss hingegen nimmt in ganz Zentralasien ab. Russische Truppen wurden aus allen Republiken abgezogen — mit Ausnahme Tadschikistans, wo sie an der Grenze zu Afghanistan patrouillieren. Die Präsidenten von Usbekistan, Kirgisien und Turkmenistan sagten im Frühjahr ein geplantes Gipfeltreffen mit dem russischen Präsidenten Wladimir Putin ab. Einzig und allein aufgrund seiner Schwäche sagt Russland der „Anti-Terror-Allianz“ seine Unterstützung zu - mal abgesehen davon, dass man ganz zufällig den eigenen Völkermord an den Tschetschenen mit dem Hinweis auf den Kampf gegen den islamistischen Terrorismus rechtfertigen möchte. Auch der Iran und China scheiden für die USA als Partner aus, da man auf diese Staaten ebenfalls keinen direkten Einfluss nehmen kann. Für den Verlauf der Ölpipelines hatte dies entscheidende Konsequenzen …

Zwei treue Vasallen: Pakistan und Saudi Arabien

Ein weiterer prominenter Geldgeber der afghanischen Mudjahedin war Pakistan. Das Land setzte auf die Rekrutierung muslimischer Soldaten für seinen Kampf gegen seinen Erzfeind Indien. Über den mächtigen pakistanischen Geheimdienst ISI flossen Gelder nach Afghanistan — selbstverständlich mit Wissen und tatkräftiger Unterstützung durch die USA. Nach dem Abzug der Sowjetarmee haben sich die verschiedenen afghanischen Clan-Führer über die Zukunft des Landes heillos zerstritten. Die nationalen Konflikte zwischen der paschtunischen Mehrheitsbevölkerung im Süden und den Usbeken und Tadschiken im Norden des Landes taten ihr Übriges. Schlecht für den Bau von Öl-Pipelines: Mit einem instabilen und zudem höchst korrupten Regime konnte man nicht verhandeln. Die miteinander scharf rivalisierenden Ölkonzerne Bridas aus Argentinien und der US-Gigant Unocal handelten 1994 erfolgreich Verträge über die Erschließung von Ölquellen und den Bau eines Verteilungsnetzes aus, so gab es z. B. Lizenzen mit Turkmenistan. Nur der Weg von Turkmenistan durch den Süden Afghanistans nach Pakistan war noch nicht gesichert. Die pakistanische Bhutto-Regierung unterstützte deshalb die Taliban und gewährte massive militärische Hilfe. In etwa einem Jahr waren sie von einer Handvoll Koranschüler zu einer gut organisierten Miliz geworden, die bis zu 20.000 Kämpfer mit Panzern, Artillerie und Luftwaffe aufbot und große Teile des südlichen und westlichen Afghanistans kontrollierte. Gleichwohl spricht einiges dafür, dass auch die Tötung von Massud auf die Kappe des ISI geht. Massud war einer der Führer jener sogenannten Nordallianz, die man jetzt plötzlich mehr oder minder militärisch unterstützt. Diese Allianz besitzt überhaupt keinen fortschrittlichen Charakter, besteht sie doch aus jenen reaktionären Mudjahedinkämpfern, die den Schleierzwang und die Koranschulen zuvor erst ermöglicht hatten. Die Behauptung, dass in den von der Nord-Allianz eroberten Gebieten die Frauen befreit und Andersgläubige tolerant behandelt würden ist nichts als blanker Hohn!

Es bleibt aber abzuwarten, wie weit die militärische Unterstützung seitens der USA und Großbritannien wohl gehen wird. Man ist nicht an einem gleichwertigen Partner interessiert, sondern allenthalben an Handlangern und politischen Marionetten. Die Erfahrung mit der UCK in Kosova haben die Amerikaner gelehrt, dass solche Hilfsregimenter oft eine Eigendynamik entwickeln, die zu unerwünschten Nebenwirkungen führt. Zur Errichtung eines Protektorats ist die Nord-Allianz einfach zu unzuverlässig. Bush und seine Mittäter erklärten schon mehrfach, dass sie auf die paschtunische Mehrheitsbevölkerung im Süden setzen. Konsequente Unterstützung dürfte die Nord-Allianz also nicht mehr erhalten, schließlich handelt es sich hier nicht mehr um einen „Proxy War“, einen Stellvertreterkrieg gegen die nicht-kapitalistischen Staaten Osteuropas und Asiens, sondern jetzt geht es ans Eingemachte. Die Herren in Washington, London und anderswo werden uns bald breit grinsend erklären, dass man zur Vermeidung humanitärer Katastrophen noch sehr lange in Zentralasien bleiben müsse.

Saudi-Arabien gilt als eines der schärfsten islamistischen und frauenverachtenden Länder überhaupt. Amnesty International meldet für das Jahr 2000 über 123 Hinrichtungen in Saudi-Arabien, es existieren weder politische Parteien noch Menschenrechtsvereine. 34 Amputationen wurden für das letzte Jahr gemeldet, davon waren sieben Überkreuzamputationen (der rechten Hand und des linken Fußes). Das alles störte die angeblichen Vorreiter für die Freiheit nicht: Fast 16 Prozent des gesamten Rohölimports beziehen die USA aus Saudi-Arabien. Dafür lieferten die Vereinigten Staaten seit 1950 Waffen im Wert von über 100 Milliarden US-Dollar.

Auch Saudi Arabien leistete massive materielle und ideologische Schützenhilfe für die Taliban. Hierfür gab es zwei Gründe: Auf der politischen Ebene war die fundamentalistische Ideologie der Taliban nicht weit entfernt von der Linie der Saudis. Die Taliban standen der schiitischen Richtung des Islam feindlich gegenüber und waren somit auch Gegner des größten regionalen Rivalen der Saudis - dem Iran. Die wirtschaftliche Grundlage dieser Politik: Der saudische Ölkonzern Delta Oil war Partner bei der Unocal-Pipeline und setzte seine Hoffnungen auf einen Sieg der Taliban, um das Projekt in Gang zu bringen. Ein besonders pikantes Detail der amerikanisch-saudischen Beziehungen ist die Tatsache, dass der Ex-CIA-Chef und spätere Präsident Georg Bush senior enge Kontakte zur Familie Bin Laden unterhielt, einer der einflussreichsten Familien Saudi Arabiens. Auch sein Sohn George Walker kam aus geschäftlichen Gründen mehrfach mit dem Bin-Laden-Clan in Berührung. Es versteht sich von selbst, dass die guten finanziellen und politischen Beziehungen zu den Bushs und zur CIA auch Osama Bin Laden kaum geschadet haben. Mehrfach wurde im Medienterror der vergangenen Wochen erklärt, Al Quaeda ließe sich in etwa mit „die Basis“ übersetzen. Über die weit verzweigte finanzielle Basis des Osamah Bin Laden und seinem Netzwerk in Afghanistan wurde jedoch kaum berichtet.

Noch in diesem Frühjahr erhielt Afghanistan von den Vereinigten Staaten finanzielle Mittel zur „Drogenbekämpfung“. Trotz der antiamerikanischen Rhetorik und der Anprangerung der westlichen Dekadenz sicherten die Taliban die Unterdrückung der Völker Afghanistans. Damit konnte man gut leben — mindestens genauso gut wie mit dem pakistanischen Militärstaat, in dem man auf demokratischen Grundrechte ebenso pfeift. Der gegenwärtige Kurs Pakistans ist natürlich ein guter Nährboden für den wachsenden Einfluss der radikal-islamischen Parteien. Dies soll jedoch nicht zu der Annahme führen, dass heute die Polizeigewalt in Pakistan zu billigen ist. Die Motivation für das Aufbegehren vieler Protestierender mag religiös gefärbt sein, mag antiamerikanisch und eben nicht originär antiimperialistisch sein — trotzdem verurteilen wir das Vorgehen der Musharraf-Diktatur auf das Schärfste! Warum pochen die USA & Verbündete hier nicht auf die Einhaltung von Menschenrechten? Nun, warum sollten sie denn auf „Freiheit und Democracy“ setzen, wenn sich die grausamen pakistanischen Gefängnisse prima mit Demonstranten füllen lassen, die gegen die US-Intervention protestieren?

Kampf der Kulturen?? Eine Unkultur frisst ihre Kinder!

Der für den Kampf gegen den „roten Bären“ gezüchtete afghanische Kampfhund drehte durch; eine gefährliche Eigendynamik kam ins Rollen. Jene langbärtigen Geister die man rief, ward man nicht mehr los. Der viel beschworene fundamentale Gegensatz zwischen der westlichen Welt und islamischen Fundamentalisten existiert also nicht. Der Aufstieg des Islam ist im Wesentlichen ein Produkt der westlichen „zivilisierten“ Welt. Dem jetzt exzessiv gebrauchten Aphorismus des rechten Schreiberlings Samuel Huntington vom „Kampf der Kulturen“ halten wir entgegen: Hier frisst eine Unkultur ihre Kinder. Das größere Übel sind dabei die Eltern, jene vielgepriesene zivilisierte Welt. Kriegsgegner aus den USA — darunter viele Vietnam-Veteranen - brachten es mit ihren Schildern und Transparenten auf den Punkt: Die derzeit größte Terror-Organisation weltweit ist noch immer die US-Army! An der gegenwärtigen Entwicklung zeigt sich erneut, welch weitreichende globale Folgen die kapitalistische Restauration in Osteuropa für die gesamte Menschheit hat. 1989 wurde der Großteil der nicht-kapitalistischen Staaten von Rechts gestürzt: Seit dieser Zeit kennt der Kapitalismus keine Barrieren mehr, der durch die nicht-kapitalistischen Staaten repräsentierte Hemmschuh wurde ihm ausgezogen.

Zweiter Teil: Deutsche Waffen, deutsches Geld…

Durch die Existenz der nicht-kapitalistischen Staaten wurden die zwischen-imperialistischen Rivalitäten bis in die Neunzigerjahre hinein gedämpft. Heute werden die vorhandenen Rohstoffquellen und Absatzmärkte neu verteilt. Ob das sehr heterogene „Anti-Terror-Bündnis“ dauerhafter Natur sein wird, darf also bezweifelt werden. Der Spielraum für Kooperationen zwischen den verschiedenen imperialistischen Staaten ist vor dem Hintergrund immer rascher aufeinander folgender Krisen eng geworden.

Vor knapp mehr als einhundert Jahren haben deutsche und britische Soldaten unter deutschem Oberbefehl der Boxeraufstand in China niedergeschlagen und dabei Hunderttausende Chinesen massakriert. Es standen „deutsche und britische Interessen“ in China und im Fernen Osten auf dem Spiel. Die späteren Erbfeinde im Weltkrieg Nummer 1 gingen hier gemeinsam vor. Dieses Bündnis hielt nicht lange. Die Interessen waren doch zu verschieden. Auch heute dürfen gemeinsam durchgeführte Militäraktionen im Rahmen der NATO nicht als harmonische Angelegenheit interpretiert werden. Der Krieg gegen das serbische Volk, der in seiner Konsequenz gerade auch ein Krieg gegen die Albaner in Kosova war, war nicht nur von gemeinsamen Interessen geprägt: Im Vergleich zu den Vereinigten Staaten ist das von Deutschland dominierte Europa militärisch noch zu schwach, um seine ganz eigenen geostrategischen Interessen wirksam durchzusetzen. Doch genau aus diesem Grund war die Kriegsbeteiligung am Balkan eine wichtige Unterrichtsstunde für den deutschen Imperialismus. Bereits zur Zeit des Boxeraufstands 1900 existierten Gemeinsamkeiten und unterschiedliche Interessen nebeneinander. Das einende Element war die Niederschlagung des chinesischen Aufstandes, an dem beide Seiten interessiert waren. Doch damals wie heute ging es ebenso sehr um ein Kräftemessen zwischen den einzelnen Rivalen gemäß dem Motto: „Was hat der andere drauf? Was muß ich noch lernen?“

Jetzt sagen nicht wenige sogenannte Friedensbewegte und Pazifisten, dass die Welt ein Gegengewicht braucht, eine „Balance auf Power“, die den Amis die Stirn bietet und zusieht, dass die US-Cowboys nicht nach Belieben aus der Hüfte schießen. So amüsant Sprüche wie diese klingen mögen, so fatal sind sie in ihrer politischen Wirkung: Deutschland ist kein „armes kleines Würstchen“, kein blind gehorchender Kraut, der den Amerikanern Nibelungentreue schwor. Nein, ein Blick auf die deutsche Außenpolitik verrät genau das Gegenteil. Nur bedarf es einer Portion Zeit und Geschick, ehe Deutschland militärisch wiedererstarkt ist - denn mühsam ernährt sich das Eichhörnchen. Ein geeignetes Instrument hierfür ist die rot-grüne Regierung: Die alte Koalition aus CDU/CSU/FDP wäre bei der fortschreitenden Remilitarisierung Deutschlands auf einen breiteren Widerstand gestoßen als die sogenannten „Antifaschisten“ um Schröder und Fischer, die mit staatsmännischer Gelassenheit erklären konnten, warum man in Jugoslawien „ein zweites Auschwitz“ verhindern mußte. Im Hinblick auf die Innenpolitik bot der Kosovo-Einsatz Deutschland eine vortreffliche Gelegenheit, die Köpfe der Menschen daheim wieder an das Bild kämpfender deutscher Soldaten zu gewöhnen. Im Augenblick schaden die rechten Intellektuellen, die deutschen Stammtische und die faschistischen Nazimörder in einem bestimmten Maß den deutschen Exportinteressen — dennoch erfüllen sie ihre Aufgabe: All diese Kräfte dienen als rechte Pressure Group der allgemeinen rassistischen Stimmungsmache. Die aufgeheizte Stimmung wird dann von Rot-Grün in neue repressive Gesetze wie das „Anti-Terror-Paket“ übersetzt. Die Forderungen der konservativen Elite und die Realpolitik der rot-grünen Koalition ergänzen sich also. Ihre Differenzen beziehen sich ausschließlich auf die richtige Taktik gegenüber dem US-Imperialismus und den anderen imperialistischen Staaten. Appelle an die deutsche Elite, sie möge sich doch mehr zu Wort melden und mehr auf die eigenen Interessen achten, sind genau im Interesse des deutschen Kapitals.

Geostrategische Interessen

Aufgrund seiner geographischen Lage hat Deutschland seit jeher ein besonderes geostrategisches Interesse an Ost- und Südosteuropa. Dass diese Interessen seit dem Ende des zweiten Weltkrieges nicht mehr wahrgenommen wurden, ist ein Ammenmärchen aus dem Reich nationalpazifistischer Glückseligkeiten. Ohne vorherige Absprache mit Großbritannien oder Frankreich erkannte Deutschland 1991 Kroatien und Slowenien als unabhängige Staaten an. Dabei unterstützte man die Politik des damaligen kroatischen Staatspräsidenten Franjo Tudjman: Die in der Krajina ansässigen Serben wurden erst ihrer demokratischen Rechte beraubt und später vertrieben, die Ermordung tausender Menschen im kroatischen Konzentrationslager Jasenovac im zweiten Weltkrieg geleugnet. Tudjman bezog sich dabei ganz bewusst auf die Tradition der klerikalfaschistischen Ustasa von Ante Pavelic und weckte damit bei vielen Serben unselige Assoziationen. Auch Slobodan Milosevic erfreute sich einer positiven Bewertung durch die deutsche Bourgeoisie, ehe ihm dieselbe bei Kriegsbeginn das Etikett des Balkanhitler verlieh. Als Milosevic 1989 in einem konterrevolutionären Akt die Bergarbeiterstreiks im mehrheitlich von den Albanern bewohnten Kosova mit Waffengewalt beendete und zehntausende von Albanern auf die Straße setzte, als er auf dem historischen Amselfeld in Kosova zusammen mit einer Million nationalistisch aufgepeitschter Serben Affront gegen die anderen Völker Jugoslawiens machte, lobte ihn die politische Kaste in Deutschland: Es hieß, Milosevic würde mit dem alten roten Filz aufräumen und wäre ein Garant für die Schuldenrückzahlung des Landes, das mit über 20 Milliarden US-Dollar beim Internationalen Währungsfond und anderen Kreditgebern in der Kreide stand. Erst als er zu viele Eigenansprüche anmeldete, wurde die korrupte Milosevic-Clique fallen gelassen.

Dem deutschen Staate war die Politik der dummen nationalistischen Führer Jugoslawiens recht und billig. Ein in viele Einzelteile zerfallenes Jugoslawien sollte sich dem Diktat von Bonn bzw. Berlin leichter beugen. Die völlige wirtschaftliche Abhängigkeit tritt besonders in Bosnien zutage, das ähnlich wie Kosova ein De-Facto-Protektorat ist. Die Amerikaner fürchteten ihrerseits einen zu starken Einfluss Deutschlands auf dem Balkan; die Furcht vor dem neuen Konkurrenten führte in der Region zu einem verstärkten Engagement der USA. Ähnliches gilt für den französischen und den britischen Imperialismus, die den deutschen Kurs (bisher) zähneknirschend unterstützten. Natürlich ist der Zerfall Jugoslawiens nicht allein auf äußere Ursachen zurück zu führen. Doch der deutsche Alleingang bei der Anerkennung Sloweniens und Kroatiens war der Brandbeschleuniger für den jugoslawischen Bürgerkrieg. Und selbst die innerjugoslawischen Probleme waren zum Teil Resultat deutscher Außenpolitik. Bereits in den Sechzigerjahren übte Deutschland über die sogenannte „Arbeitsgemeinschaft Alpen-Adria“ massiven wirtschaftlichen und politischen Einfluss auf Jugoslawien aus mit dem Ziel, das Land über die Vergabe von Krediten wirtschaftlich an den Westen zu binden und damit langfristig zu schwächen (in den Siebzigerjahren startete die „sozialliberale Koalition“ unter dem Leitspruch „Wandel durch Annäherung“ eine ähnliche Politik gegenüber dem gesamten Ostblock).

Zwischen 1992 und 1994 verkaufte Deutschland an Kroatien Waffen im Wert von 320 Millionen Dollar. Zwar schließt das Kriegswaffenkontrollgesetz der Bundesrepublik Deutschland Rüstungsexporte an Länder aus, in denen „die Gefahr besteht, dass die Kriegswaffen bei einer friedensstörenden Handlung verwendet werden“. Doch an „friedensstörenden Handlungen“ hat es schon in Indonesien unter der Herrschaft von Suharto nicht gefehlt: Nach vorsichtigen Schätzungen kamen dort allein in den Sechzigerjahren an die 750.000 Menschen ums Leben. Zeitweise war hier die BRD - gleich nach den USA — der zweitwichtigste Waffenlieferant des Suharto-Regimes.

Der deutsche Mann am Bosporus

1952 wurde die Türkei NATO-Mitglied. Doch die Zugehörigkeit zur „westlichen Wertegemeinschaft“ bedeutete für die Menschen in der Türkei nicht den behaupteten „Zuwachs an Demokratie und Freiheit“. Im Gegenteil. Im Zuge des NATO-Beitritts wurde der Staatsterror praktisch institutionalisiert. Unter dem zusammenfassenden Namen „Gladio“ existierten in vielen Staaten geheime NATO-Strukturen, deren Ziel unter anderem der „Kampf gegen den Terrorismus“ war. In der Türkei wurde diese Organisation vorwiegend aus den Reihen der faschistischen „Grauen Wölfe“ rekrutiert und hieß lange Zeit „Amt für besondere Kriegsführung“ Der Name war hier Programm: Bei den „Terroristen“ handelte es sich vorwiegend um Linksintellektuelle und Arbeiterführer. Mit deutschen Waffen und deutschem Geld im Namen deutscher Interessen wurde der wahre Terror gegen die kurdische Bevölkerung im Süden des Landes unterstützt: Über 30.000 Guerillas und Soldaten kamen ums Leben. Dazu ermordeten staatliche Sicherheitskräfte und Todesschwadronen mehrere Tausend kurdische Zivilisten — auch viele Frauen, Kinder und alte Männer. Menschen, die nicht einmal an bewaffneten Aktionen teilgenommen hatten, mussten Jahre, oft Jahrzehnte unter menschenunwürdigen Bedingungen im Gefängnis verbringen. Mehr als 3.000 Dörfer wurden vom Militär niedergebrannt.

Die deutsche Bourgeoisie ist hier nicht allein am Bau und an der Sicherung von Ölpipelines interessiert: Mit Hermes-Bürgschaften sicherte die BRD deutschen Firmen deren Beitrag für das gigantische Staudammprojekt in Südostanatolien (GAP). Dabei nimmt man die Vernichtung kurdischer Dörfer in Kauf, um so die Kontrolle über das Wasser in der gesamten Region um Euphrat und Tigris zu erhalten. Den Imperialisten dient das Land nach wie vor als Brückenkopf zum Nahen Osten und nach Zentralasien. Die Türkei ist ein verlässlicher Partner — deshalb kommt auch niemand auf die Idee, diesen Staat wegen fehlender Menschenrechte militärisch anzugreifen (was wir aus anderen Gründen auch nicht fordern!). Der deutsche Michl und Uncle Sam wetteifern bis heute um die Gunst der Türkei. Was Waffenlieferungen an die Türkei angeht, rangiert Deutschland auch hier gleich an zweiter Stelle nach den USA; die BRD wird die traditionelle Waffenbrüderschaft mit der Türkei unter keinen Umständen aufs Spiel setzen. So ist es nicht verwunderlich, dass die Türkei durch Verbot und Kriminalisierung der PKK in Deutschland weitere tatkräftige Unterstützung erfuhr. Das gelegentlich zu vernehmende scheinheilige Klagen über fehlende Menschenrechte gehört dabei zum Repertoire kapitalistischer Staatskunst.

„Germoney“ und der Iran

In der Türkei sind die Interessen des deutschen Kapitals noch mit einem starken US-Einfluss konfrontiert. Ausdruck für die Konkurrenz der beiden Großmächte waren auch Streitigkeiten innerhalb der diversen türkischen Regierungskoalitionen zwischen dem Lager der Islamisten auf der einen Seite und den Kemalisten auf der anderen. Ergebnis des amerikanischen Einflusses ist ein Mitte der Neunzigerjahre geschlossenes Militärbündnis mit Israel wohingegen der milliardenschwere Handelsvertrag zwischen der Türkei und dem Iran die außenpolitische Autorität Deutschlands widerspiegelt. Schlussendlich wünscht die BRD eine größere Orientierung der Türkei zum Iran.

Die Wirtschaftsbeziehungen zwischen dem Iran und Deutschland blicken auf eine lange Tradition zurück — für Deutschland ist der Iran das zweite Scharnier zur eurasischen Erdölregion. Bereits Ende der Dreißigerjahre war das Deutsche Reich der wichtigste Handelspartner für Persien. Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde man zeitweise von den USA übertroffen, doch der amerikanische Einfluss nahm nach der „islamischen Revolution“ rapide ab. Es bot sich hier ein Machtvakuum in welches das deutsche Kapital mit aller Macht hineindrängte. Schon 1994 waren über 180 deutsche Firmen im Iran aktiv. Deutsche Unternehmen investierten vor allem in strategisch wichtige Bereiche wie Rohstoffförderung und Hafenanlagen. So ist es nicht weiter verwunderlich, dass Deutschland der Hauptimporteur für den iranischen Markt ist. Vor allem Fahrzeuge und elektrische Maschinen gehören zu den wichtigsten Importgütern. Von noch größerer Bedeutung sind jedoch die deutsch-iranischen Finanzbeziehungen, die dem Iran die Zahlungsfähigkeit gegenüber den westlichen Kreditinstituten garantieren: Das schafft Möglichkeiten für die Einflussnahme auf den Iran.

Der iranische Präsident Khatami hielt sich anlässlich seines Staatsbesuches im vergangenen Jahr einige Tage in Deutschland auf. Er führte dabei Gespräche mit verschiedenen Vertretern aus Wirtschaft und Politik. Zehntausende von Exil-Iranern aus ganz Europa sowie jüdische Organisationen protestierten gegen den Besuch Khatamis. Nur wenige Tage vor seiner Ankunft waren in einem antisemitischen Schauprozess zehn iranische Juden und zwei Moslems zu langjährigen Haftstrafen und Auspeitschungen verurteilt worden. Während des Staatsbesuches gab es in Deutschland verstärkte Sicherheitsvorkehrungen: Demonstrationsverbote wurden ausgesprochen, Flughäfen, Bahnhöfe und Autobahnen wurden streng kontrolliert.

Nur zeitweise waren die Beziehungen zwischen den beiden Ländern wegen des „Mykonos-Urteils“ etwas getrübt: 1997 hatte ein deutsches Gericht den Iran praktisch des Staaststerrorismus für schuldig befunden (iranische Agenten ermordeten 1992 iranische Oppositionelle im Berliner „Mykonos“). Doch zu keinem Zeitpunkt waren die Rahmenbedingungen für die wirtschaftlichen Beziehungen beider Länder ernsthaft gefährdet. Der damalige Außenminister Kinkel beschwerte sich regelrecht darüber, dass das Berliner Gerichtsurteil die außenpolitischen Interessen der Bundesrepublik Deutschland gefährden könnte. Auch die antideutschen Proteste im Iran waren außerordentlich höflich und diszipliniert. Deutschland gewährt dem Iran milliardenschwere Hermes-Bürgschaften und setzt sich mit Nachdruck für Kredite bei der Weltbank ein. Außenminister Joseph Fischer behauptete dreist, dass sich alles, was sich gegen Khatami richtet, nur dessen konservativen Gegenspielern nütze und dem „Reformprozess“ schade. Gleichzeitig verwies er auf die „freien Wahlen“ im Iran. Wie üblich „übersah“ Fischer die Tatsachen: Allein 1999 verzeichnete Amnesty International 165 vollstreckte Todesurteile. Mindestens 16 Menschen wurden Finger oder Hände abgehackt. Brutale Polizeiüberfälle und staatliche Folter sind allgegenwärtig. Oppositionelle Parteien, die sich nicht zum islamischen Regime bekennen, sind verboten. Khatami übte sich zwar des öfteren in vager Kritik an staatlicher Repression, ruft jedoch im selben Atemzug zur vertrauensvollen Zusammenarbeit mit den Konservativen, ihren Richtern, Kerkermeistern und Henkern auf.

Wenn Khatami von „Reformen“ redet, meint er damit „Reform der iranischen Währung“ und „Schutz und Förderung ausländischer Investitionen durch die Garantie der Sicherheit investierten Kapitals“ (Khatami). Konsequent verwirklicht würden dies eine soziale Katastrophe bedeuten. Bereits jetzt liegt die Erwerbslosigkeit nach inoffiziellen Schätzungen bei etwa 40 Prozent. Und eines haben die „Reformer“ vom Schlage Khatamis und die radikal-islamistischen Kräfte gemein: Beide fürchten die Macht der iranischen Arbeiter und Studenten. Das ist der Grund, warum Khatami letztes Jahr für die Unterdrückung der Studenten eintrat, von denen ihn viele als Hoffnungsträger sahen. Sobald die sozialen Spannungen sichtbar werden, rückt das Establishment im Interesse der Stabilität der kapitalistischen Herrschaft zusammen. An dieser Stabilität ist auch Deutschland massiv interessiert. Für die liberale Öffentlichkeit heißt es dann „kritischer Dialog“ oder „aktive Einmischung“. Im Sprachgebrauch der deutschen Finanzelite bedeutet das hingegen „Business as usual“.

Unsere Solidarität gilt der iranischen Arbeiterklasse. Sie gilt den iranischen Frauen, die gegen das islamische Recht und gegen den Schleierzwang kämpfen. Wir appellieren nicht an die deutsche Regierung, für Menschenrechte in Nahost einzutreten!

Und noch ein Staatsbesuch

Die Karten im internationalen Machtpoker werden nicht erst seit dem Anschlag auf das World Trade Center neu gemischt. Bereits seit einigen Jahren zeichnet sich eine strategische Partnerschaft zwischen Deutschland und Russland ab: Bei seinem Deutschlandbesuch betonte der russische Präsident Putin, dass Europas wirtschaftliches Gewicht auch in der Weltpolitik seine Entsprechung finden müsste. Unter dem Beifall aller Abgeordneten des Deutschen Reichstags zu Berlin meinte er in seiner auf deutsch gehaltenen Rede: „Niemand bezweifelt den großen Wert der Beziehungen Europas und der Vereinigten Staaten — nur bin ich einfach der Meinung, dass Europa sicher und langfristig den Ruf eines mächtigen und real selbständigen Mittelpunkts in der Weltpolitik festigen wird, wenn es die eigenen Möglichkeiten mit den russischen … vereinigen kann“. Er beschwor die gemeinsame Geschichte Deutschlands und Russlands, indem er an die Prinzessin Sophie von Anhalt-Zerbst erinnerte, die als Katharina die Große, Zarin von Rußland, in die Geschichte einging. „Zwischen Deutschland und Amerika liegen große Ozeane, zwischen Russland und Deutschland aber die große Geschichte“. Um einen allzu großen Antiamerikanismus zu vermeiden, ergänzte er: „Ozeane und Geschichte können nicht nur trennen, sie können verbinden“. Der abmildernde Nachsatz fehlte aber am nächsten Tag beim Frühstück mit Regierungsvertretern und Journalisten: „Mit Deutschland eint uns eine große Geschichte, von Amerika trennt uns ein großer Atlantik“. Er sagte Deutschland Öl- und Gaslieferungen im Konfliktfall zu und sprach ganz unverhüllt genau das aus, was sich das deutsche Establishment schon lange herbeiwünscht: Die Bescheidenheit, die sich Deutschland auferlege, sei seiner Stellung in Europa und in der Welt nicht angemessen. Er fuhr fort, dass kein Land ewig unter der eigenen Schuld zu leiden brauche. Er ermahnte Deutschland zu mehr Selbstbewusstsein in Umgang mit seinen politischen Partnern in Europa und jenseits des großen Teiches. Das ist natürlich genau das, was Schröder hören wollte: Er bedankte sich mit der überraschenden Ankündigung, dass „es in Bezug auf Tschetschenien zu einer differenzierteren Bewertung der Völkergemeinschaft kommen muss und auch sicherlich kommen wird“.

Massenvertreibungen, Folter und Mord kennzeichnen die russische Politik gegenüber dem kleinen Tschetschenien; die mögliche Präsenz von Bin-Laden-Anhängern in Tschetschenien dient ihr als Rechtfertigung für das völkermörderische Vorgehen der russischen Armee mit über 40.000 Toten und 800.000 Flüchtlingen. Russland gilt jetzt sogar als eine Art Vorreiter im Kampf gegen den Terrorismus. So gerechtfertigt der Einmarsch sowjetischer Truppen in Afghanistan war, so ungerechtfertigt ist das Vorrücken russischer Soldaten in Tschetschenien: Sie repräsentieren einen kapitalistischen russischen Staat mit all den zu ihm gehörenden Eroberungsbestrebungen. Mit Hohn und Spott überzieht der russische Staatsterrorismus die tschetschenischen „Separatisten“: Nach einem Telefonat mit Bush stellte Putin den Tschetschenen ein Ultimatum: Sie sollten sich entscheiden, auf welcher Seite sie im Kampf gegen den Terrorismus stehen wollen.

Unter der Decke der globalen „Allianz gegen den Terror“ bemüht sich gegenwärtig jede große und kleinere Macht darum, ihre eigenen Allianzen zu schmieden. Die deutsche Regierung legt dabei eine ungewöhnliche Betriebsamkeit an den Tag. Bei der Achse Berlin-Moskau sieht sich Deutschland als politischer Kopf wohingegen Russland als hinsichtlich seiner Öl- und Erdgasvorkommen als Rumpf betrachtet wird. Ob sich Putin dauerhaft mit der Rolle als Juniorpartner zufrieden geben wird, muss sich noch zeigen.

Warum beteiligt sich der deutsche Imperialismus aktiv an der „Anti-Terror-Allianz“?

Doch nicht erst seit dem Putin-Besuch, nicht erst seit der Debatte über die Rede des rechtsgesinnten Schriftstellers Martin Walser gehört die Forderung nach einem selbstbewussteren Deutschland, dass stolz und aufrecht wie jede andere „normale Nation“ nach vorne schreitet, zum guten Ton. In diesem Zusammenhang kündigte Schröder eine grundlegende Neuorientierung der deutschen Außenpolitik an: Deutschland habe sich nach der staatlichen Einheit und nach der Wiedererlangung seiner Souveränität in einer neuen Weise der internationalen Verantwortung zu stellen. Deutschland müsse sich auch an militärischen Aktionen beteiligen und dürfe nicht nur den Geldbeutel zücken, wenn es um die „Verteidigung demokratischer Menschenrechte“ ginge.

Töne wie diese sind nichts wirklich Neues. Bereits Außenminister Kinkel log sich den Wunsch nach deutschen Truppen herbei bis sich die Balken bogen. Fast gebetsmühlenartig predigte er immer wieder aufs Neue, wie sehr sich die internationalen Partner doch den Einsatz deutscher Truppen herbeisehnten. Auch der geplante Einsatz deutscher Truppen im „Kampf gegen den Terror“ wird von der amerikanisch-britischen Allianz nicht wirklich gewünscht. Der amerikanische Kriegsminister Rumsfeld erklärte diplomatisch, dass man über den deutschen Beitrag erfreut sei, konkrete Anforderungen von deutschen Soldaten habe es aber zu keinem Zeitpunkt gegeben. Diese Aussage spricht Bände. Dass Deutschland nun doch irgendwie mitmachen darf, hat damit zu tun, dass die USA zum gegenwärtigen Zeitpunkt weiteren Alleingängen Deutschlands mittels einer Einbindung vorbeugen möchten. Die politische Kaste in Deutschland wiederum gibt vor, dass man um das „Ansehen Deutschlands bei seinen amerikanischen Freunden“ besorgt sei. Dabei werden Beschwörungsformeln wie „Solidarität ist keine Einbahnstraße“ aus dem Hemdsärmel geschüttelt.

Es geht natürlich nicht um das abstrakte Ansehen Deutschlands bei seinen „Freunden“ diesseits und jenseits des großen Teiches sondern um die Geltungssucht einer Großmacht, die um ihre eigenen Belange besorgt ist. Neben den bereits erwähnten Gründen (Gewöhnung der deutschen Öffentlichkeit an Kriegseinsätze, Sammeln von Erfahrungen bei Auslandseinsätzen) ist folgender Aspekt von entscheidender Bedeutung: Die herrschende Klasse in der BRD möchte nicht am Rand dabei stehen, wenn der zentralasiatische Kuchen verspeist wird, ergo klagt man von den 270 Milliarden Barrel Erdöl „seinen Teil“ ein. Man muß die Dinge einfach beim Namen nennen: Die Beteiligung am Krieg ist — entgegen aller Beteuerungen des Kanzlers — Ausdruck der eigenen Interessen. Die deutsche Kriegsbeteiligung entspringt in erster Linie nicht der Solidarität mit den USA — und erst recht nicht der Verbundenheit mit der amerikanischen Bevölkerung. Im Gegenteil: Sie ist Folge der Rivalität zwischen Deutschland und den USA, den beiden stärksten „Global Players“. Deshalb drängte Schröder mit aller Macht auf die Bereitstellung von 3.900 Bundeswehrsoldaten. Am 16. November stellte die rot-grüne Mehrheit im Reichstag dem Kanzler schließlich die gewünschte Blankovollmacht aus. Weder Gegner noch Einsatzgebiet noch Dauer der Aktion wurden festgelegt. Das Parlament beschloss in einem unter der Regie von Schröder inszenierten „Abstimmungskrimi“ den größten Militäreinsatz seit dem Zweiten Weltkrieg.

Deutsche Truppen sind jedoch nicht erst seit kurzem an ausländischen Aktionen beteiligt: Um die deutsche Öffentlichkeit peu a peu an die Präsenz deutscher Soldaten im Ausland zu gewöhnen, erfolgte zunächst der Einsatz deutscher Truppen in Somalia im Rahmen eines UN-Blauhelm-Einsatzes, es folgte die Mission in Bosnien und der (eigentlich verfassungswidrige) Angriffskrieg gegen Jugoslawien. Heute haben deutsche Truppen in Mazedonien zum ersten Mal seit Ende des Zweiten Weltkrieges ein Oberkommando inne! Zur Rechtfertigung solcher Einsätze spricht man salbungsvoll von Freiheit, Gerechtigkeit und Menschenrechten. In Wahrheit geht es um die „Förderung und Absicherung weltweiter politischer, wirtschaftlicher, militärischer und ökologischer Stabilität“ und die „Aufrechterhaltung des freien Welthandels und des Zugangs zu strategischen Rohstoffen“. So drückte es Generalinspekteur Naumann in seinen 1992 verfassten „verteidigungspolitischen“ Richtlinien der Bundeswehr aus. Bernhard von Bülow hatte 1897 im Reichstag erklärt: „Die Zeiten, wo der Deutsche dem einen seiner Nachbarn die Erde überließ, dem anderen das Meer und sich selbst den Himmel reservierte, wo die reine Doktrin thront - diese Zeiten sind vorüber. Wir wollen niemanden in den Schatten stellen, aber wir verlangen auch unseren Platz an der Sonne.“ Die jüngsten Ereignisse machen ganz unmissverständlich deutlich, dass der Zusammenbruch der nicht-kapitalistischen Staaten der internationalen Politik eine Rückkehr zu den Formen des ausgehenden 19. und des beginnenden 20. Jahrhunderts ermöglicht. Wie wir gesehen haben, wechselten sich damals gemeinsame Aktionen mit heftigen Rivalitäten ab, bis es 1914 in Form des ersten Weltkriegs zu einer gewaltigen Explosion kam.

Gruppe Leo Trotzki