Rede über die russische Frage

James P. Cannon

Gehalten auf dem Mitgliedertreffen der Socialist Workers Party, 15. Oktober 1939 (Veröffentlicht in James P. Cannons The Struggle For a Proletarian Party und in The New International vom Februar 1940)

Die russische Frage beschäftigt uns aufs Neue, wie sie es an jedem kritischen Wendepunkt der internationalen Arbeiterbewegung seit dem 7. November 1917 getan hat. Und daran ist nichts Ungewöhnliches. Die russische Frage ist keine literarische Übung, die man sich vornimmt und beiseite legt, je nach der Laune des Augenblicks. Die russische Frage ist und bleibt die Frage der Revolution. Die russischen Bolschewiki haben am 7. November 1917 ein für alle Mal die Frage der Arbeiterrevolution aus dem Reich der Abstraktion herausgeführt, und sie ist zu einer Realität aus Fleisch und Blut geworden.

Man sagte einmal von einem Buch — ich glaube, es war Whitmans Leaves of Grass — wer dieses Buch anrührt, rührt einen Menschen an. In dem selben Sinne kann man auch sagen, wer mit der russischen Frage in Berührung kommt, kommt mit der Revolution in Berührung. Nehmt sie deshalb ernst. Spielt nicht mit ihr.

Die Oktoberrevolution hat den Sozialismus auf der ganzen Welt auf die Tagesordnung gesetzt. Sie hat die internationale revolutionäre Arbeiterbewegung aus dem blutigen Chaos des Krieges zu neuem Leben erweckt, geformt und entwickelt. Die Russische Revolution zeigte in der Praxis beispielhaft, wie eine proletarische Revolution gemacht wird. Sie zeigte, welche Rolle die Partei im wirklichen Leben spielt, und welche Art von Partei die Arbeiter wirklich brauchen. Die Russische Revolution hat durch ihren Sieg und die Reorganisierung des Gesellschaftssystems für alle Zeit die Überlegenheit des staatlichen Eigentums und der Planwirtschaft über das kapitalistische Eigentum, den planlosen Wettbewerb und die Anarchie in der Produktion bewiesen.



Eine scharfe Trennlinie

Die Frage der Russischen Revolution — und des Sowjetstaates, der ihr Resultat ist — hat seit 22 Jahren eine scharfe Trennungslinie durch die Arbeiterbewegung aller Länder gezogen. All die Jahre hindurch war die Haltung gegenüber der Sowjetunion der entscheidende Trennungsstrich zwischen der revolutionären Tendenz und allen Varianten und Schattierungen von schwankenden Elementen, Abtrünnigen und Kapitulanten vor dem Druck der bürgerlichen Welt — Menschewiken, Sozialdemokraten, Anarchisten und Syndikalisten, Zentristen, Stalinisten.

Die russische Frage war in den letzten zehn Jahren, seitdem die Tendenz der Vierten Internationale auf internationaler Ebene organisierte Form annahm, die Hauptquelle für Spaltungen in unseren eigenen Reihen. Unsere Tendenz, die eine wirkliche, d. h. orthodoxe, marxistische Tendenz von A bis Z ist, ist in der russischen Frage immer von theoretischen Voraussetzungen ausgegangen und ist zu politischen Schlußfolgerungen für die Aktion gelangt. Nur wenn politische Schlußfolgerungen bis zu Ende gedacht werden, erreichen die Differenzen in der russischen Frage eine unerträgliche Schärfe und erlauben keine Zweideutigkeit und keinen Kompromiß. Schlußfolgerungen in der russischen Frage führen direkt zu Positionen über Themen wie Krieg und Revolution, Verteidigung und Defätismus. Solche Fragen erlauben von Natur aus keine Unklarheit, keinen Kompromiß, weil es darum geht, Seite zu beziehen. Im Krieg und in der Revolution muß man sich für eine Seite entscheiden.



Die Bedeutung der Theorie

Aber daß die Trennungslinien nur dann gezogen werden, wenn die politischen Schlußfolgerungen voneinander abweichen, bedeutet ganz und gar nicht, daß wir theoretischen Voraussetzungen gleichgültig gegenüberstehen. Wer theoretischen Voraussetzungen gegenüber eine sorglose und tolerante Haltung einnimmt, ist ein sehr armseliger Marxist — oder besser gesagt, überhaupt kein Marxist. Aus theoretischen Analysen leiten Marxisten politische Schlußfolgerungen ab, die sie stets anhand jener überprüfen und korrigieren. Dies ist der einzige Weg, eine feste und konsequente Politik zu verfolgen.

Gewiß lehnen wir eine Zusammenarbeit mit Leuten nicht ab, die mit unseren politischen Schlußfolgerungen übereinstimmen, aber von unterschiedlichen Voraussetzungen ausgehen. Die Bolschewiki ließen sich z. B. nicht durch die Tatsache abschrecken, daß die Linken Sozialrevolutionäre inkonsequent waren. Wie Trotzki in diesem Zusammenhang bemerkte: "Wenn wir solange warten, bis jeder die richtigen Ideen im Kopf hat, wird es niemals auf dieser Welt irgendwelche erfolgreichen Revolutionen geben" (oder Worte dieses Inhalts). Gleichwohl möchten wir, daß in unseren eigenen Köpfen alles in Ordnung ist. Es gibt für uns überhaupt keinen Grund, theoretische Formeln zu verwischen, die in der Terminologie zum Ausdruck kommen. Wie Trotzki sagt, in theoretischen Dingen müssen wir unser Haus sauber halten.

Unsere Position in der russischen Frage ist programmatisch. Kurz gesagt, die theoretische Analyse — ein degenerierter Arbeiterstaat. Die politischen Schlußfolgerungen — bedingungslose Verteidigung gegen imperialistische Angriffe von außen oder gegen Versuche im Innern, den Kapitalismus wiederherzustellen.



Verteidigung und Defätismus

Verteidigung und Defätismus sind zwei prinzipielle, d.h. unversöhnliche Positionen. Sie werden nicht willkürlich, sondern durch Klasseninteressen bestimmt.

In keiner Partei der Welt haben diese beiden entgegengesetzten Tendenzen für längere Zeit nebeneinander existieren können. Der Widerspruch ist zu groß. Überall auf der Welt vollziehen sich Spaltungen schließlich entlang dieser Linie. Verteidiger zu Hause waren Defätisten gegenüber Rußland. Verteidiger gegenüber Rußland waren Defätisten zu Hause.

Die Degeneration des Sowjetstaates unter Stalin ist mit jedem Schritt von den Bolschewiki-Leninisten analysiert worden und nur von ihnen. Auf jeder Stufe haben sie eine eindeutige Haltung eingenommen. Die Leitlinien der revolutionär-marxistischen Herangehensweise an die Frage sind folgende gewesen:

Seht die Wirklichkeit und seht die ganze Wirklichkeit auf jeder Stufe; gebt niemals eine Position auf, bevor sie verloren ist. Der schlimmste aller Kapitulanten ist derjenige, welcher vor der entscheidenden Schlacht kapituliert.

Die Internationale Linksopposition, die 1923 als Opposition in der russischen Partei entstand (der ursprüngliche Kern der Vierten Internationale) hat immer eine eindeutige Haltung in der russischen Frage eingenommen. In den Anfangsstadien der Degeneration, deren Bannerträger die stalinistische Bürokratie war, hielt es die Opposition für möglich, die Dinge mittels Reformen durch eine Änderung des Regimes in der Kommunistischen Partei der Sowjetunion in Ordnung zu bringen. Später, als es klarer wurde, daß die Kommunistische Partei Lenins unabänderlich zerstört war, und nachdem es offensichtlich wurde, daß die reaktionäre Bürokratie nur durch einen Bürgerkrieg beseitigt werden konnte, trat die Vierte Internationale, die wie früher auch jetzt an ihrer Position der Sowjetunion als Arbeiterstaat festhielt, mit der Position der politischen Revolution hervor.

In dieser ganzen Periode von 16 Jahren haben die Bolschewiki-Leninisten trotz aller Verleumdung und Verfolgung daran festgehalten, daß sie die entschiedensten Verteidiger des Arbeiterstaates sind und daß sie in der Stunde der Gefahr an vorderster Front stehen würden, um ihn zu verteidigen. Wir haben immer gesagt, daß die Genossen der Vierten Internationale im Augenblick der Gefahr bereit sein werden, die Errungenschaften der großen Revolution zu verteidigen, ohne für einen Moment unseren Kampf gegen die stalinistische Bürokratie einzustellen. Jetzt, wo die Stunde der Gefahr da ist — jetzt, da der Krieg tatsächlich an die Tür klopft, mit dem wir schon so lange gerechnet haben — wäre es sehr seltsam, wenn die Vierte Internationale ihr oft wiederholtes Versprechen nicht halten würde.



Konservatismus in der russischen Frage

In dieser langen Zeit sowjetischer Degeneration seit dem Tode Lenins sind die Genossen der Vierten Internationale, die das neue Phänomen eines degenerierten Arbeiterstaates bei jeder Wende analysiert haben, die versucht haben, seine Verwicklungen und Widersprüche zu verstehen, um die fortschrittlichen Merkmale der widersprüchlichen Prozesse zu erkennen und zu verteidigen und die reaktionären zurückzuweisen — in dieser langen Zeit sind wir bei jeder neuen Wende der Ereignisse von den Radikalen mit ungeduldigen Forderungen bedrängt worden, die Frage zu vereinfachen. Weil Stalins Verbrechen und sein Verrat sie aus dem Gleichgewicht geworfen haben, haben sie das neue Wirtschaftssystem aus den Augen verloren, welches Stalin nicht zerstört hatte und auch nicht zerstören konnte.

Wir haben diese voreiligen Prophezeiungen, daß alles verloren sei und daß wir ganz von vorn beginnen müßten, immer energisch zurückgewiesen. Auf jeder Entwicklungsstufe, bei jeder neuen Enthüllung stalinistischer Niederträchtigkeit und stalinistischen Verrats hat sich die eine oder andere Gruppe von der Vierten Internationale wegen ihres Konservatismus in der in russischen Frage abgespalten. Es wäre interessant — wenn wir die Zeit dazu hätten — diese Gruppen aufzulisten, die eine nach der anderen unsere Reihen verlassen haben, um eine angeblich revolutionärere Politik in der russischen Frage zu verfolgen. Haben sie eine militantere, revolutionärere Aktivität als wir entfaltet? Haben sie es geschafft, eine neue Bewegung, wachgerüttelte Arbeiter oder diejenigen anzuziehen, die mit dem Stalinismus gebrochen haben? In keinem Fall.

Wenn wir diese ultralinken Gruppen aufführen würden, böte sich wirklich ein vernichtendes Bild. Diejenigen, die politisch nicht völlig passiv geworden sind, haben sich in der einen oder anderen Form mit der bürgerlichen Demokratie ausgesöhnt. Die Erfahrungen der Vergangenheit sollten uns alle lehren, vorsichtig zu sein, und sogar, wenn ihr wollt, konservativ, wenn es um irgendwelche Vorschläge geht, das Programm der Vierten Internationale in der russischen Frage zu revidieren. Während alle Neuerer in der Versenkung verschwunden sind, hat nur die Vierte Internationale ihre programmatische Festigkeit bewahrt. Sie ist gewachsen, hat sich entwickelt und sie ist die einzig revolutionäre Strömung in der internationalen Arbeiterbewegung geblieben. Ohne eine feste Position in der russischen Frage hätte unsere Bewegung unvermeidlich das Schicksal der anderen geteilt.

Die gewaltige Macht der Oktoberevolution zeigt sich in der Vitalität ihrer Errungenschaften. Das staatliche Eigentum und die Planwirtschaft haben allen Schwierigkeiten und dem Druck kapitalistischer Umzingelung sowie allen Schlägen durch die reaktionäre Bürokratie im Innern standgehalten. In der Sowjetunion hat es trotz der ungeheuren Mißwirtschaft der Bürokratie eine enorme Entwicklung der Produktivkräfte gegeben — und dies in einem derart rückständigen Land — während die kapitalistische Wirtschaft im Niedergang begriffen ist. Schlußfolgerung: die nationalisierte und geplante Wirtschaft, Ergebnis einer Revolution, die die Kapitalisten und Großgrundbesitzer stürzte, ist unendlich überlegen und fortschrittlicher. Sie zeigt den Weg vorwärts. Gebt sie nicht auf, bevor sie verloren ist! Haltet an ihr fest und verteidigt sie!



Die Klassenkräfte

In der russischen Frage gibt es nur zwei wirklich unabhängige Kräfte auf der Welt: zwei Kräfte, die über die Frage unabhängig denken, weil sie sich selbst, ihre Gedanken, ihre Analysen und ihre Schlußfolgerungen auf grundsätzliche Klasseninteressen stützen. Jene beiden unabhängigen Kräfte sind:

1. Die bewußte Avantgarde der Weltbourgeoisie, die Staatsmänner des demokratischen als auch des faschistischen Imperialismus.

2. Die bewußte Avantgarde des Weltproletariats.

Zwischen ihnen bestehen nicht einfach nur zwei Meinungen in der russischen Frage, sondern vielmehr zwei Lager. Alle diejenigen, welche in der Vergangenheit die Schlußfolgerungen der Vierten Internationale abgelehnt und aus diesem Grunde mit unserer Bewegung gebrochen haben, sind fast immer in den Dienst der Imperialisten getreten, mittels des Stalinismus, der sozialen und liberalen Demokratie oder durch Passivität, die ja auch eine Art Dienst ist.

Der Standpunkt der Weltbourgeoisie ist ein Klassenstandpunkt. Sie geht ebenso wie wir von grundlegenden Klasseninteressen aus. Sie will den Weltkapitalismus aufrechterhalten. Dies bestimmt ihren grundsätzlichen Antagonismus zur UdSSR. Sie schätzt Stalins reaktionäre Arbeit, ist aber der Meinung, daß sie unvollständig ist, solange er nicht auch noch das kapitalistische Privateigentum wiederhergestellt hat.

Ihre grundsätzliche Haltung wird durch den unvermeidlichen Versuch zu Beginn oder im Verlauf des Krieges bestimmt, Rußland anzugreifen, das staatliche Eigentum abzuschaffen, das kapitalistische System wiederherzustellen, das Außenhandelsmonopol zu zerschlagen, die Sowjetunion als Markt und Investitionsfeld zu öffnen, Rußland in eine große Kolonie zu verwandeln und dadurch die Krise des Weltkapitalismus zu entschärfen.

Der Standpunkt der Vierten Internationale stützt sich auf die gleichen grundsätzlichen Klasseninteressen. Nur kommen wir von einem gegensätzlichen Klassenstandpunkt zu gegensätzlichen Schlußfolgerungen.

Rein gefühlsmäßige Begründungen, Spekulationen ohne grundsätzliche klassenmäßige Voraussetzungen, sogenannte neue Ideen ohne programmatische Grundlage, dies alles gehört nicht in eine marxistische Partei. Wir wollen die Weltrevolution des Proletariats voranbringen. Dies bestimmt unsere Haltung und Herangehensweise an die russische Frage. Es ist wahr, wir wollen die Realität erkennen, aber wir sind keine desinteressierten Beobachter und Kommentatoren. Wir analysieren die Russische Revolution und das, was von ihren großen Errungenschaften übriggeblieben ist, nicht, als wäre sie ein Insekt unter einem Mikroskop. Wir sind daran beteiligt. Wir nehmen am Kampf teil! Auf jeder Entwicklungsstufe der Sowjetunion, ihren Fortschritten und ihrer Degeneration, suchen wir die Grundlage für revolutionäre Aktionen. Wir wollen die Weltrevolution vorwärtstreiben, den Kapitalismus stürzen, den Sozialismus aufbauen. Die Sowjetunion ist eine wichtige und entscheidende Frage in diesem Zusammenhang.

Unsere Position zur russischen Frage ist in unserem Programm enthalten. Diese Frage ist für uns nicht neu. Sie ist 22 Jahre alt. Wir haben ihre Entwicklung — ob nun fortschrittlich oder rückschrittlich — auf jeder Stufe verfolgt. Wir haben sie diskutiert und haben uns auf jeder Stufe ihrer progressiven Entwicklung und ihrer Degeneration unsere Meinung neu gebildet. Und, was das Wichtigste ist, wir haben immer nach unseren Schlußfolgerungen gehandelt.



Das entscheidende Kriterium

Die Sowjetunion ist aus der Oktoberrevolution als Arbeiterstaat hervorgegangen. Als Ergebnis der Rückständigkeit und Armut des Landes und der Verzögerung der Weltrevolution entstand und triumphierte schließlich eine konservative Bürokratie, zerstörte die Partei und bürokratisierte die Wirtschaft. Dieselbe Bürokratie agiert jedoch immer noch auf der Grundlage des, durch die Revolution entstandenen, staatlichen Eigentums. Das ist das entscheidende Kriterium für unsere Einschätzung der Frage.

Wenn wir uns einmal ansehen, was die Sowjetunion wirklich ist, nämlich vergleichbar einer riesigen Gewerkschaftsorganisation, die ein Sechstel der Erdoberfläche erobert hat, werden wir sie nicht so bereitwillig aufgeben, nur weil wir die Verbrechen und Gräuel der Bürokratie hassen. Wenden wir uns denn von einer Gewerkschaft ab, nur weil sie von Bürokraten und Verrätern kontrolliert wird? Ultralinke haben oft diesen Fehler begangen, aber immer mit schlechten Ergebnissen, manchmal sogar mit reaktionären Konsequenzen.

Erinnern wir uns an den Fall der International Ladies' Garment Workers Union [führende amerikanische Gewerkschaft der Damenkonfektionsbranche, Anm. der Übersetzer] hier in New York. Die Bürokraten dieser Gewerkschaft waren eine üble Bande von Bonzen im Dienste der Kapitalistenklasse, wie man sie sich übler gar nicht vorstellen kann. Im Kampf gegen den linken Flügel Mitte der zwanziger Jahre haben sie sich mit den Bossen und den AFL-Betrügern [AFL: American Federation of Labor, eine berufsständische Gewerkschaft, Anm. der Übersetzer] verschworen. Sie schlössen die linken Ortsgruppen aus und heuerten Schläger an, um sie zu bekämpfen und ihre Streiks zu brechen. Der Unterschied zwischen ihnen und Stalin war nur eine Sache von Opportunität und Macht. Unter dem Einfluß der Kommunistischen Partei in den Tagen ihrer wahnwitzigen Dritten Periode bezeichnete der linke Flügel, der gegen die Verbrechen dieser Bürokraten zu revoltieren begann, die Gewerkschaft — nicht nur ihre verräterische Bürokratie — als gelbe Gewerkschaft.

Aber dieselbe gelbe Gewerkschaft war unter dem Druck der in ihr organisierten Arbeiter und der wachsenden Verschärfung des Klassenkampfes gezwungen, einen Streik auszurufen, um sich gegen den imperialistischen Angriff der Bosse zu verteidigen. Arbeiter, die nicht ganz den Kopf verloren hatten, unterstützten (verteidigten) den Streik gegen die Bosse. Die Stalinisten aber, gefangen in ihrer übereilten, improvisierten Theorie, weigerten sich, den Streik zu unterstützen (zu verteidigen). Sie denunzierten ihn als Pseudo-Streik. So führte sie ihr schlecht beratener Radikalismus zu einer reaktionären Position. Man denunzierte sie, und das mit Recht, in der ganzen Konfektionsbranche als Streikbrecher. Bis heute sind sie durch diese reaktionäre Aktion diskreditiert.

Die Sowjetunion als riesige Gewerkschaftsorganisation gegen Angriffe der Klassenfeinde zu verteidigen, bedeutet nicht, jede einzelne Handlung der Bürokratie oder jede einzelne Aktion der Roten Armee, die ein Instrument der Bürokratie ist, zu verteidigen. Solch ein totalitäres Verteidigungskonzept der Vierten Internationale zuzuschreiben, wäre absurd. Niemand hier wird sich weigern, eine echte Gewerkschaft zu verteidigen, ganz gleich wie reaktionär ihre Bürokratie ist. Aber das hindert uns doch nicht daran, die Aktionen der Bürokratie danach zu unterscheiden, ob es sich dabei um die Verteidigung der Gewerkschaft gegen die Kapitalisten handelt oder um andere Aktionen, die sich gegen die Arbeiter richten.

Die United Mine Workers of America (Vereinigte Bergarbeitergewerkschaft Amerikas) ist eine große Gewerkschaftsorganisation, die wir alle unterstützen. Aber an ihrer Spitze steht ein übler Schuft und Agent der herrschenden Klasse, der sich von Stalin nur durch den Grad an Macht und Opportunität unterscheidet. Ich kann mich daran erinnern, als ich vor Jahren an einem Streik der Bergarbeiter von Kansas teilnahm, der sich gegen die Anwendung eines reaktionären Gewerkschaftsgesetzes richtete, das Kansas Industrial Court Law, ein Gesetz, das Streiks verbietet. Das war eine durch und durch fortschrittliche Aktion der Bergarbeiter von Kansas und ihres Präsidenten, Alex Howat. Howat und die anderen örtlichen Funktionäre wurden ins Gefängnis geworfen. Während sie im Gefängnis saßen, schickte John L. Lewis als Präsident der nationalen (Gewerkschafts-)Organisation seine Agenten in das Kohlerevier von Kansas, um mit den Kapitalisten ein Abkommen über die Köpfe der Funktionäre des Kansas-Distrikts hinweg zu unterzeichnen. Er brachte Streikbrecher, Schläger und Geld mit, um den Streik zu zerschlagen, während die legitimen Funktionäre für eine gute Sache im Gefängnis saßen. Jeder militante Arbeiter im ganzen Land verurteilte diesen verräterischen Streikbruch von Lewis. Aber haben wir deshalb der nationalen Bergarbeitergewerkschaft unsere Unterstützung entzogen? Ja, einige ungeduldige Revolutionäre haben dies tatsächlich getan und waren dadurch in der Gewerkschaftsbewegung völlig orientierungslos. Die United Mine Workers behielten ihren Charakter als Gewerkschaftsorganisation bei, und erst im Frühjahr letzten Jahres kamen sie mit den Kohleunternehmern auf nationaler Ebene in Konflikt. Ich glaube, ihr erinnert euch alle in diesem Zusammenhang daran, daß unsere Presse die Bergarbeitergewerkschaft bedingungslos verteidigt hat trotz der Tatsache, daß der Streikbrecher Lewis weiterhin ihr Präsident war.

Die Hafenarbeitergewerkschaft an der Pazifikküste ist eine echte Organisation von Arbeitern, die von einem Stalinisten eines besonders unattraktiven Typs, einem Stalin im Westentaschenformat namens Bridges geführt wird. Dieser Bridges führte einen Trupp irregeleiteter Hafenarbeiter durch eine Streikpostenkette der Seeleutegewerkschaft mit dem direkten Versuch, diese Organisation zu zerschlagen. Ich denke, ihr erinnert euch alle daran, daß unsere Zeitung mit scharfen Worten diese niederträchtige Aktion von Bridges verurteilte. Aber wenn die von Bridges geführte Hafenarbeitergewerkschaft, die in diesem Moment gerade mit den Bossen verhandelt, gezwungen wäre, einen Streik auszurufen, welche Position werden wir dann einnehmen? Jeder durchschnittliche klassenbewußte Arbeiter, ganz zu schweigen von einem gebildeten Marxisten, wird zusammen mit den Hafenarbeitern Streikposten stehen oder wird sie mit anderen Mitteln verteidigen.

Warum ist es für einige unserer Freunde, einschließlich derer, die im formalen Sinne sehr gebildet sind, so schwierig, die russische Frage zu verstehen? Ich fürchte fast, daß sie nicht in Begriffen des Klassenkampfes denken. Es ist sehr einleuchtend, daß die Arbeiter, besonders die erfahrenen, die bereits in den Gewerkschaften aktiv sind, die an Streiks teilgenommen haben usw., die russische Frage viel besser verstehen als die gebildeten Scholastiker. Aus ihrer Erfahrung im Kampf wissen sie, was es bedeutet, wenn die Sowjetunion mit einer Gewerkschaft verglichen wird, die in schlechte Hände geraten ist. Und jeder, der schon ein paar Streiks mitgemacht hat, in deren Verlauf es zu Krisen kam, die bis an den Rand einer Katastrophe führten, um letztendlich siegreich auszugehen, versteht, was es heißt, wenn man sagt: Keine Position darf aufgegeben werden, solange sie nicht unwiderruflich verloren ist.

Ich habe persönlich das Schicksal von mehr als nur einem Streik miterlebt, der von dem Willen oder dem fehlenden Willen der Führung entschieden wurde, im entscheidenden Augenblick zu kämpfen. Unsere gesamten gewerkschaftlichen Erfolge in Minneapolis gehen direkt zurück auf die entscheidende Wende im Jahre 1934, als die Führer sich weigerten, den allem Anschein nach hoffnungslos verlorenen Streik zu beenden, und das Streikkomitee davon überzeugten, noch ein wenig länger auszuhalten. In der Zwischenzeit kam es in den Reihen der Kapitalisten zu einer Spaltung; die führte wiederum zu einem Kompromiß-Abschluß und schließlich zu einem siegreichen Vorwärtsgehen der ganzen Gewerkschaft.

Wie seltsam ist es doch, daß einige Leute die Schwächen und die Fehler einer Arbeiterorganisation so eingehend analysieren, daß sie aber nicht immer die Schwächen im Lager des Feindes berücksichtigen, die häufig noch größer sind.

Wenn ich unter Streikenden in kritischen Momenten eines Streiks agitiert habe, habe ich oft auf die Analogie zweier miteinander kämpfender Männer zurückgegriffen. Wenn der eine müde wird und offensichtlich am Ende seiner Kräfte ist, sollte er niemals vergessen, daß der andere vielleicht genauso müde, wenn nicht noch müder ist. In diesem Fall wird der gewinnen, der die größte Ausdauer hat. Wenn man die Sache so betrachtet, kann manchmal ein Streik, der so gut wie am Ende ist, durch eine entschlossene Führung zu einem Kompromiß oder zu einem Sieg geführt werden. Wir haben das mehr als einmal erlebt. Warum sollten wir der Sowjetunion, die noch nicht am Ende ist, nicht dieselben Rechte einräumen?



Die Gefahr einer falschen Position

Wir hatten in der Vergangenheit viele Diskussionen über die russische Frage. Für uns wie für jede politische Tendenz in der Arbeiterbewegung war sie eine zentrale und entscheidende Frage. Sie ist nämlich, um es nochmals zu wiederholen, nichts weniger als die Frage der Revolution in verschiedenen Stadien ihrer fortschreitenden Entwicklung oder ihrer Degeneration. Wir sind in der Tat die Partei der Russischen Revolution. Wir und allein wir waren es, die die Russische Revolution in unserem Programm und in unseren Adern hatten. Das ist auch der Hauptgrund, warum die Vierte Internationale die einzige revolutionäre Tendenz auf der ganzen Welt ist. Eine falsche Position in der russischen Frage hätte unsere Bewegung zerstört wie sie alle anderen zerstört hat.

Vor zwei Jahren hatten wir erneut eine ausgedehnte Diskussion über die russische Frage. Die fast einstimmige Schlußfolgerung der Partei wurde in das Programm unseres ersten Parteitages aufgenommen:

1. Auf der Basis ihres nationalisierten Eigentums und ihrer Planwirtschaft, der Früchte der Revolution, bleibt die Sowjetunion ein Arbeiterstaat, wenn auch in degenerierter Form.

2. Deshalb sind wir unverändert für die bedingungslose Verteidigung der Sowjetunion gegen imperialistische Angriffe.

3. Die beste Verteidigung — letztlich das einzige Mittel, um die Sowjetunion zu retten, indem es ihre inneren Widersprüche löst — ist die internationale Revolution des Proletariats.

4. Um den Arbeiterstaat zu regenerieren, sind wir für den Sturz der Bürokratie durch eine politische Revolution.

Nun könnte man einwenden: Diese zwei Aussagen — Verteidigung der Sowjetunion und Rußland ist ein Arbeiterstaat — beantworten doch nicht alles. Es sind nicht einfach zwei Aussagen. Die eine ist eine theoretische Analyse, die andere eine politische Schlußfolgerung für die Aktion.



Was heißt bedingungslose Verteidigung?

Unser Antrag ruft zur bedingungslosen Verteidigung der Sowjetunion gegen imperialistische Angriffe auf. Was bedeutet das? Nichts anderes, als daß wir die Sowjetunion und ihr nationalisiertes Eigentum gegen äußere Angriffe imperialistischer Armeen oder gegen interne Versuche kapitalistischer Restauration verteidigen, ohne den vorherigen Sturz der stalinistischen Bürokratie zur Bedingung zu machen. Jede andere Sorte von Verteidigung stellt unter gegenwärtigen Bedingungen die ganze Position in Frage. Und jetzt gibt es Leute, die reden von bedingter Verteidigung der Sowjetunion. Wenn man so will, sind wir für die bedingte Verteidigung der Vereinigten Staaten. So steht es im Programm der Vierten Internationale. Im Kriegsfall werden wir das Land mit aller Kraft verteidigen — wir stellen nur eine kleine Bedingung: daß wir zuerst die Regierung der Kapitalisten stürzen und sie durch eine Regierung der Arbeiter ersetzen.

Heißt bedingungslose Verteidigung der Sowjetunion, jeden Akt der Roten Armee zu unterstützen? Das wäre absurd. Haben wir die Moskauer Prozesse unterstützt und die Machenschaften von Stalins GPU bei diesen Prozessen? Haben wir die Säuberungen, die regelrechten Mordtaten unterstützt, mit denen diese Kräfte in Spanien gegen die Arbeiter vorgegangen sind? Wenn ich mich recht erinnere, haben wir jene Arbeiter verteidigt, die auf der anderen Seite der Barrikaden in Barcelona gekämpft haben. Das hat uns nicht abgehalten, den militärischen Kampf gegen Franco zu unterstützen und unsere Position zur Verteidigung der Sowjetunion gegen imperialistische Angriffe aufrechtzuerhalten.

Jetzt wird gefordert, wir sollten uns zu einem großen Schritt aufraffen und die Idee eines bewaffneten Kampfes gegen Stalin in den jüngst besetzten, ehemals polnischen Gebieten unterstützen. Was wäre daran neu? Seit drei Jahren propagiert das Programm der Vierten Internationale den bewaffneten Sturz Stalins innerhalb der Sowjetunion selbst. Generell hat die Vierte Internationale anerkannt, daß ein bewaffneter Kampf für die Errichtung einer unabhängigen Sowjetukraine notwendig ist. Wie sollten wir da in den neu besetzten Gebieten eine andere Politik haben? Wenn die Revolution gegen Stalin dort wirklich reif ist, wird die Vierte Internationale sie gewiß unterstützen und nach Kräften versuchen, sie zu führen. In dieser Frage sind in unseren Reihen zwei unterschiedliche Auffassungen gar nicht möglich. Aber was tun wir, wenn Hitler (oder Chamberlain) die sowjetische Ukraine angreift, bevor Stalin gestürzt ist? Genau diese Frage erfordert eine eindeutige Antwort. Sollen wir die Sowjetunion verteidigen und jetzt auch, und aus denselben Gründen, die jüngst annektierten Gebiete? Wir sagen: ja!

Diese Position ist Teil des auf dem Gründungskongreß der Vierten Internationale im Sommer 1938 angenommenen Programms. Es sei erinnert, daß das nach den Moskauer Prozessen und der Niederschlagung der Spanischen Revolution war. Es war nach der mörderischen Säuberung einer ganzen Generation von Bolschewiken, nach der Volksfront, dem Eintritt in den Völkerbund, den Stalin-Laval-Pakt (und dem Verrat an den französischen Arbeitern). Wir entwickelten unsere Position auf der Basis der Wirtschaftsstruktur des Landes, die eine Frucht der Revolution ist. Die großen Errungenschaften darf man nicht aufgeben, bevor sie wirklich verloren sind. Das ist das Kampfprogramm der Vierten Internationale.



Der Hitler-Stalin-Pakt

Der Hitler-Stalin-Pakt ändert in grundsätzlicher Hinsicht überhaupt nichts. Wäre Stalin mit den Vereinigten Staaten verbündet, und Genossen würden die Verteidigung der Sowjetunion negieren aus Furcht, in eine Verteidigerrolle zugunsten von Stalins amerikanischem Bündnispartner gedrängt zu werden, so hätten diese Genossen Unrecht, aber ihre Position wäre als eine subjektive, von revolutionären Gefühlen hervorgerufene Reaktion verständlich. Der Defätismus, der sich in unserer französischen Sektion als Folge des Stalin-Laval-Paktes ausbreitete, war zweifellos derart motiviert und mußte demgemäß mit größter Toleranz und Geduld bekämpft werden. Aber eine Epidemie von Defätismus im demokratischen Lager wäre einfach schändlich. Wir stehen in Amerika nicht unter dem Druck, die Sowjetunion verteidigen zu müssen. Umso größer ist der Druck für einen demokratischen Heiligen Krieg gegen die Sowjetunion. Das sollen wir nie vergessen. Der Hauptfeind steht noch immer im eigenen Land.

Was hat sich seit unserer letzten Diskussion eigentlich ereignet? Gab es irgendeine grundsätzliche Änderung in der sowjetischen Ökonomie? Nichts dergleichen kann behauptet werden. Nichts geschah, außer daß Stalin einen Pakt mit Hitler unterzeichnet hat! Für uns bestand nicht der geringste Grund, deshalb unsere Analyse der sowjetischen Ökonomie und unsere Haltung ihr gegenüber zu ändern. All unsere vergangene theoretische Arbeit, konzentriert in unserem Programm, hatte genau zum Ziel, uns auf Krieg und Revolution vorzubereiten. Jetzt haben wir den Krieg, und Revolution steht als nächstes auf der Tagesordnung. Müßten wir jetzt innehalten, um ein neues Programm zu finden, wäre das ein sehr schlechtes Zeichen.

Haltet euch eins vor Augen: Da gibt es Leute, die waren Zeugen aller Verbrechen und Verrätereien Stalins, die wir besser als jeder andere verstanden und effektiver als jeder andere denunziert haben — all das haben sie miterleben können, ohne die Verteidigung der Sowjetunion aufzugeben. Aber das Bündnis mit dem faschistischen Deutschland statt mit dem imperialistischen England oder Frankreich — das konnten sie nicht ertragen!



Die Invasion Polens

Natürlich gab es ein riesiges Geschrei über die sowjetische Invasion der polnischen Ukraine. Aber diese war nur eine der Konsequenzen des Krieges und des Bündnisses mit Hitler-Deutschland. Die Idee, wir sollten unsere Analyse des sozialen Charakters des sowjetischen Staates und unsere Haltung in der Verteidigungsfrage nur deswegen ändern, weil die Rote Armee die polnische Grenze verletzt hat, ist noch absurder als eine solche Umorientierung mit dem Hitler-Stalin-Pakt zu begründen. Die Invasion Polens ist nur ein Ereignis in einem Krieg, und in einem Krieg werden immer Grenzen verletzt. Würden alle Armeen zuhause bleiben, gäbe es schließlich keinen Krieg. Die Unverletzlichkeit von Grenzen — die letztlich alle durch Krieg festgelegt worden sind — interessiert nur demokratische Pazifisten und niemanden sonst.

Bei all dem demokratischen Geschrei kann man sich nur immer wieder fragen: Wissen die Leute nicht, daß die Westukraine und Weißrußland nie rechtmäßig zu Polen gehört haben? Wissen sie nicht, daß diese Territorien 1920 von Pilsudski mit französischer Hilfe gewaltsam der Sowjetunion entrissen wurden?

Sicherlich rechtfertigt das keineswegs Stalins Invasion dieses Territoriums in Zusammenarbeit mit Hitler. Wir haben das nie unterstützt und wir haben genauso wenig die verlogene Behauptung unterstützt, Stalin bringe den Völkern der polnischen Ukraine die "Befreiung". Gleichzeitig aber fällt uns nicht ein, der demokratischen Hysterie gegen die Sowjetunion auf Basis der polnischen Ereignisse auch nur einen Zoll nachzugeben. Die demokratischen Kriegshetzer kreischen mit schriller Stimme auf allen Straßen und Plätzen. Von diesem demokratischen Geschrei sollten wir uns nicht ungebührlich beeindrucken lassen. Euer Nationalkomitee jedenfalls war überhaupt nicht beeindruckt.

Um in diese Frage noch etwas tiefer einzudringen und ihre Wurzeln aufzuspüren, will ich ein anderes hypothetisches Beispiel erörtern, und zwar kein phantastisches, sondern ein sehr logisches. Angenommen, Stalin hätte mit den imperialistischen Demokratien ein Bündnis gegen Hitler abgeschlossen, während Rumänien sich mit Hitler verbündet hätte. Angenommen, die Rote Armee hätte, was in diesem Fall höchstwahrscheinlich gewesen wäre, gegen Rumänien, Hitlers Verbündeten, losgeschlagen und nicht gegen das mit den Demokratien verbündete Polen und hätte Bessarabien besetzt, das ja auch einmal zu Rußland gehört hat. Hätten die demokratischen Kriegshetzer in diesem Fall über den roten Imperialismus geheult und geschrien? Nie im Leben!

Ich bin sehr froh, daß unser Nationalkomitee seine Unabhängigkeit gegenüber dem bürgerlich-demokratischen Druck zur Frage der Invasion Polens bewahrt hat. Höchst erregt hat man uns gefragt, geradezu die Pistole auf die Brust gesetzt: Seid ihr für oder gegen die Invasion Polens? Aber revolutionäre Marxisten antworten nicht einfach mit ja oder nein, um nicht auf diese Weise mit Leuten in einen Topf geworfen zu werden, die entgegengesetzte Ziele verfolgen. Im Klassenkampf genügt es nicht, für oder gegen etwas zu sein. Man muß erklären, von welchem Standpunkt aus man für oder gegen etwas ist. Manchmal fragen uns Spießbürger: Seid ihr für oder gegen Mafia-Gangster in den Gewerkschaften? Da klappen wir nicht die Hacken zusammen wie ein Rekrut, der einen Offizier auf der Straße trifft, und rufen: Dagegen! Erst prüfen wir, wer uns die Frage stellt und von welchem Standpunkt. Und welchen Stellenwert diese Frage gegenüber anderen Fragen hat. Wir haben unseren eigenen Standpunkt, und wir passen auf, daß unsere Antworten nicht mit denen von Klassenfeinden und pazifistischen Wirrköpfen verwechselt werden können.

Einige Leute — vor allem betroffene Unternehmer — sind gegen Mafia-Gangster in den Gewerkschaften, weil sie an diese blechen sollen. Diese Seite der Frage interessiert uns herzlich wenig. Andere — vor allem pazifistische Prediger — sind gegen Gangster, weil die Gewalt anwenden. Wir aber sind nicht grundsätzlich und bei jedem Anlaß gegen Gewalt. Wir nehmen uns Zeit, um unseren Gesichtspunkt präzise zu formulieren, und sagen: Wir sind gegen Gangstertum in den Gewerkschaften, weil es der Gewerkschaft im Kampf gegen die Bosse schadet. Aus diesem Grund sind wir dagegen. Wir gehen von unserem besonderen Klassenstandpunkt in der Gewerkschaftsfrage aus.

Genauso bei Polen. Wir unterstützen nicht den Kurs Stalins im allgemeinen. Sein Verbrechen liegt in seiner gesamten Politik, nicht in einem Vorfall hier oder da. Er demoralisiert die Arbeiterbewegung und diskreditiert die Sowjetunion. Dagegen sind wir. Er verrät die Revolution mit seinem gesamten Kurs. Jeder einzelne Fall paßt unserer Meinung nach in diesen allgemeinen Rahmen; aus einem solchen Blickwinkel betrachtet, erhält er erst seine richtigen Proportionen.



Die Invasion Finnlands

Wer also die Invasion Polens — nur ein Glied in einer großen Kette von Ereignissen — einer grundsätzlichen Revision unseres Programms zugrundelegt, hat jedes Augenmaß verloren. Das ist noch das Höflichste, was man dazu sagen kann. Solche Leute werden den ganzen Krieg hindurch blind und orientierungslos durch die Gegend rennen. Schon jetzt hinken sie vier Schritte hinter den Ereignissen hinterher. Denn da gibt's ja auch noch Lettland, Estland, Litauen und Finnland.

Wir können erwarten, daß wir hier wieder mit Geschrei aufgefordert werden, ohne Umschweife und mit einem Wort uns dazu zu äußern, ob wir für oder gegen die Erpressung des armen, kleinen, bürgerlich-demokratischen Finnlands sind. Unsere Antwort darauf: Haltet mal einen Moment inne! Bleibt auf dem Teppich, Leute! An Protesten zugunsten der bürgerlichen Schweine, die Finnland regieren, mangelt es ja nicht. Der New Leader hat protestiert. Charles Yale Harrison hat einen tränenreichen Artikel geschrieben. Der Renegat Lore hat sich in den Spalten der New York Post ausgeweint. Der Präsident der Vereinigten Staaten hat protestiert. Finnland ist mit moralischer Unterstützung reichlich eingedeckt. Also kann das bürgerliche Finnland wohl einen Moment warten, bis wir unsere Haltung erläutert haben, ohne uns um das Ultimatum für oder gegen zu scheren.

Persönlich bewegt mich Finnland zutiefst, und dies ist keineswegs beschränkt auf den gegenwärtigen Konflikt zwischen Stalin und dem finnischen Premierminister. Wenn ich an Finnland denke, dann denke ich an die Tausende toter Märtyrer, an die proletarischen Helden, die unter dem weißen Terror Mannerheims zugrunde gingen. Ich wollte, ich könnte sie aus ihren Gräbern auferstehen lassen. Da das nicht sein wird, würde ich gerne eine proletarische Armee finnischer Arbeiter organisieren, um sie zu rächen und ihre Mörder in den finnischen Meerbusen zu treiben. Ich würde die Rote Armee einer regenerierten Sowjetunion entsenden, um im entscheidenden Moment Hilfe zu leisten.

Wir unterstützen Stalins Invasion nur deswegen nicht, weil er nicht mit revolutionären Absichten dort auf den Plan getreten ist. Die finnischen Arbeiter, deren Vertrauen er verspielt hat, haben ihn nicht gerufen. Nur deshalb sind wir dagegen. Die Grenzen haben damit nicht das geringste zu tun. Verteidigung heißt im Krieg immer auch Angriff. Glaubt ihr, wir würden Grenzen respektieren, wenn wir unsere Revolution machen? Wenn eine feindliche Armee zum Beispiel Truppen in Quebec landen würde, glaubt ihr, wir würden dann gemütlich an der kanadischen Grenze auf deren Angriff warten? Nein, wenn wir echte Revolutionäre und nicht pazifistische Wirrköpfe sind, werden wir die Grenze überschreiten und sie dort angreifen, wo sie gelandet sind. Und wenn unsere Verteidigung die Besetzung von Quebec erfordert, werden wir das tun, genauso wie Lenin Georgien besetzt hat und Warschau einzunehmen versucht hat.



Das Programm der Vierten Internationale hat sich bestätigt

Einige mögen denken, der Krieg und das Bündnis mit Hitler änderten alle unsere bisherigen Überlegungen; daher müßte die ganze Frage der Sowjetunion mindestens neu aufgerollt oder sogar unser Programm geändert werden. Dazu können wir antworten:

Der Krieg wird in unserem Programm ausgiebig behandelt. Die entscheidenden Thesen des 1934 angenommenen Dokuments Krieg und die Vierte Internationale lauten:

Jeder große Krieg, wie immer auch die Konstellation zu Beginn sein mag, muß zwangsläufig die Frage der militärischen Intervention gegen die Sowjetunion ins Spiel bringen, um frisches Blut in die verkalkten Adern des Kapitalismus zu pumpen...
Unabhängig von den Umständen und den unmittelbaren Ursachen des Konfliktes ist die Verteidigung der Sowjetunion gegen die Schläge der kapitalistischen Feinde die elementare und zwingende Pflicht jeder aufrechten und ehrlichen Arbeiterorganisation.

Zur Frage möglicher Bündnisse drücken sich die Thesen unmißverständlich aus:

Gegenwärtig kann im Kriegsfall ein Bündnis der UdSSR mit einem imperialistischen Staat oder mit der einen imperialistischen Kombination gegen eine andere nicht ausgeschlossen werden. Unter dem Druck der Umstände mag ein zeitweiliges Bündnis dieser Art unumgänglich sein; doch auch dann bleibt es eine Quelle höchster Gefahr, sowohl für die UdSSR wie für die Weltrevolution.
Das internationale Proletariat wird sich nicht weigern, die UdSSR zu verteidigen, selbst wenn diese sich zu einem militärischen Bündnis mit den einen Imperialisten gegen andere gezwungen sieht. Doch muß das internationale Proletariat in diesem Fall, noch mehr als in jedem anderen, seine völlige politische Unabhängigkeit gegenüber der Sowjetdiplomatie und damit auch gegenüber der Bürokratie der Dritten Internationale bewahren.

Unsere Haltung zur Verteidigung ergab sich aus dieser Perspektive.

Eine Verteidigungslosung erhält ihre konkrete, präzise Bedeutung gerade im Kriegsfall. Es wäre ein seltsamer Zeitpunkt, sie gerade jetzt fallen zu lassen. Das hieße, all unsere theoretische Vorbereitung auf den Krieg in den Wind zu schlagen. Das hieße, völlig neu anzufangen. Von welcher Grundlage aus? Niemand weiß es.

Es wurde viel von Unabhängigkeit in der russischen Frage geredet. Ein wahres Wort! Ein Revolutionär, der nicht unabhängig ist, ist keinen Pfifferling wert. Nur muß man erläutern: von wem unabhängig? Was unsere Partei bei jeder Wende braucht, ist Klassenunabhängigkeit: Unabhängigkeit von den Stalinisten und vor allem Unabhängigkeit von der Bourgeoisie. Unser Programm sichert eine solche Unabhängigkeit unter allen denkbaren Bedingungen. Es soll und darf nicht geändert werden!