Lenin
und die
Avantgardepartei

Lenin

Kautskyanertum und die Ursprünge der russischen Sozialdemokratie

Vor kurzem haben zwei Gruppen, die zu den größten der britischen „extremen Linken“ zählen, die International Marxist Group (IMG) und die International Socialists (nunmehr die Socialist Workers Party: SWP/IS), sich darangemacht, die Geschichte der Bolschewiki umzuschreiben. Die Absicht dieser Gruppen ist es, das Prinzip der demokratisch-zentralistischen Avantgardepartei zu leugnen bzw. zu vernebeln, indem sie auf die von den Bolschewiki in der Zeit vor 1914 beibehaltenen Elemente der klassischen Sozialdemokratie sowie auf Lenins taktische Manöver gegenüber den Menschewiki hinweisen.

Die IMG, britische Sektion des pseudotrotzkistischen Vereinigten Sekretariats, hat das bemerkenswerte Kunststück fertiggebracht, Lenin als Versöhnler hinzustellen, dem Einheit das Allerwichtigste war; und zwar verweisen sie auf die Tatsache, daß bis zum Jahre 1912 die Bolschewiki und Menschewiki formal Fraktionen einer einheitlichen Russischen Sozialdemokratischen Arbeiterpartei (SDAPR) waren. Ziel dieses Revisionismus ist es, ein großangelegtes Manöver der IMG zwecks Herstellung einer breiten Einheit der britischen Linken zu rechtfertigen. Die Linie der IMG ist: „Die politischen Differenzen, die Lenin und Trotzki für vereinbar mit einer einheitlichen Organisation hielten, waren erheblich größer als diejenigen, die heute die revolutionären Linken in Britannien trennen“ (Red Weekly, 11. November 1976). Für eine eingehende Behandlung des Revisionismus und des schäbigen taktischen Ziels der IMG siehe „IMG Turns Lenin into a Menshevik“ [IMG verwandelt Lenin in einen Menschewiken], Workers Vanguard, Zeitung der Spartacist League/U.S., Nr. 164,1. Juli 1977.

Der anspruchsvollste Versuch, die Geschichte der Bolschewiki umzuschreiben, stammt von Tony Cliff, dem langjährigen Chef der arbeitertümelnden/reformistischen SWP/IS. Heute kultiviert seine Tendenz eine „linke“ Fassade und stolziert sogar manchmal mit Bildern von Lenin und Trotzki herum. Diese Gruppe hat jedoch schon lange ihren 4. August hinter sich, sie weigerte sich nämlich 1950 unter dem Druck der fanatisch antikommunistischen öffentlichen Meinung, Nordkorea gegen den US-Imperialismus zu verteidigen, und brach darüber mit der trotzkistischen Bewegung. Doch erdreistet sich gerade dieser ganz und gar schamlose CIA-„Sozialist“, uns jetzt darüber zu belehren, was Lenin in Was tun? eigentlich sagen wollte.

In der Vergangenheit hat Cliff auf explizit antileninistischer Basis mit Menschewismus gehandelt, so z.B. in seiner Broschüre Rosa Luxemburg aus dem Jahre 1959, wo es heißt: „Für Marxisten in den fortgeschrittenen Industrieländern kann Lenins ursprüngliche Position viel weniger als Richtlinie dienen als die Rosa Luxemburgs.“ Diese dreiste Behauptung wurde aus der zweiten Auflage (1968) gestrichen, aber Cliffs Position blieb im wesentlichen die gleiche. Cliffs Anhänger passen sich jedoch immer der neuesten Mode an, und im Gegensatz zu den 50er und 60er Jahren ist „harter“ Bolschewismus jetzt bei jungen Linken „in“. Dementsprechend hat Cliff neulich eine scheinbar wohlwollende Lenin-Biographie geschrieben, von der jetzt zwei von drei geplanten Bänden erschienen sind. In diesem Werk stellt Cliff nach seinem Ebenbild Lenin als nationalbornierten, arbeitertümelnden Eklektiker hin. Seine Hauptbotschaft ist: Es gibt keine leninistischen Prinzipien oder auch nur Normen in der Organisationsfrage:

„Lenins Haltung gegenüber Organisationsformen war immer historisch konkret, daher ihre Stärke. Niemals hat er sich auf abstrakte, dogmatische Organisationsschemata eingelassen; statt dessen war er immer bereit, die Organisationsstruktur der Partei zu ändern entsprechend der Entwicklung des Klassenkampfes.

Organisation ist der Politik untergeordnet. Das heißt nicht, daß sie keinen unabhängigen Einfluß auf die Politik hat. Aber sie wird der konkreten Tagespolitik untergeordnet, und das muß so sein. Wie Lenin immer wieder sagte, ist die Wahrheit immer konkret. Und das gilt auch für die Organisationsformen, die man braucht, um die konkreten Aufgaben anzugehen.“ (Hervorhebung im Original)

Mit anderen Worten: Was immer gerade funktioniert, tu es. Authentische Leninisten erkennen dagegen, daß die Prinzipien, die durch die ersten vier Weltkongresse der Kommunistischen Internationale verkörpert werden, Vorrang haben vor der Praxis der Bolschewiki vor 1914. Darüber hinaus hat Trotzki beim Aufbau der Vierten Internationale die während des revolutionären Aufruhrs 1917-23 in rudimentärer Form entwickelten leninistischen Konzeptionen systematisiert und vertieft. Die Evolution des Bolschewismus von 1903 bis 1917 zu leugnen heißt, die prinzipienfeste Opposition des Leninismus gegen das Kautskyanertum wegzuwischen. An die Praxis der Bolschewiki vor 1914 gegen den demokratischen Zentralismus von Trotzkis Vierter Internationale zu appellieren ist gleichbedeutend damit, Lenins „demokratische Diktatur des Proletariats und der Bauernschaft“ gegen Trotzkis „permanente Revolution“ zu zitieren.

Die kautskyanische Partei der Gesamtklasse

Der erste Band von Cliffs Biographie mit dem Untertitel „Aufbau der Partei“ endet 1914. Dieses Werk erwähnt Kautsky ganze zwei Mal und die Zweite Internationale überhaupt nicht! Eine solch unglaubliche Unterlassung ist Grund genug, den Anspruch von Cliffs Werk, eine seriöse Untersuchung von Lenins Position zur Parteifrage zu sein, kurzerhand zurückzuweisen.

Von August Bebeis Angebot 1905, die Spaltung zwischen den Bolschewiki und Menschewiki zu schlichten, bis zur „Vereinigungskonferenz“, die das Internationale Sozialistische Büro am Vorabend des Ersten Weltkrieges arrangierte, spielte die Führung der Internationale eine bedeutende Rolle im internen Leben der SDAPR. Insbesondere die Elemente, die für Einheit waren, vor allem Luxemburg und Trotzki, versuchten durch die deutsch-zentrierte Internationale das zu erreichen, was sie innerhalb der russischen Bewegung nicht erreichen konnten.

Tony Cliff Workers Hammer

Tony Cliff

Lenin war revolutionärer Sozialdemokrat, und wie Cliff selber in seinem zweiten Band bemerkt, war Kautsky „der einzige lebende sozialistische Führer, den Lenin verehrte“. (Das ist eigentlich eine Übertreibung: Als Kautsky 1905 die Menschewiki unterstützte, hat Lenin ihn scharf kritisiert.) Ein Verständnis von Lenins Position zur Parteifrage muß daher mit der orthodoxen kautskyanischen Position beginnen; dies war die Doktrin von der „Partei der Gesamtklasse“ oder „eine Klasse — eine Partei“. Kautskys „Partei der Gesamtklasse“ bedeutete nicht die Rekrutierung des gesamten Proletariats zur Partei. Ihm war es ja klar, daß die politischen Aktivisten innerhalb der Arbeiterklasse eine Minderheit, eine Elite, sein würden. Kein Sozialdemokrat leugnete, daß man, um Mitglied zu sein, einen gewissen Grad an sozialistischem Bewußtsein, Aktivismus und Disziplin aufweisen mußte. Die kautskyanische Auffassung bedeutete in Wirklichkeit, daß alle Tendenzen, die sich für sozialistisch hielten, in einer einheitlichen Partei organisiert sein sollten.

Kautsky behauptete, daß sich revolutionäre Sozialdemokraten selbst mit nichtmarxistischen Reformisten vereinigen und sogar als Genossen zusammenarbeiten könnten. So arbeitete die Führung der deutschen Sozialdemokratie (SPD) mehrmals mit dem offen reformistischen, eklektischen Sozialisten Jean Jaures aus Frankreich eng zusammen.

Die Führung der SPD war auf die disziplinierte Einheit ihrer Partei, die sie als Hauptquelle ihrer Stärke sah, äußerst stolz. Bebel/Kautsky spielten eine entscheidende Rolle bei der Wiedervereinigung der französischen Sozialisten 1905, wo die Spaltung zwischen der von Jules Guesde geführten marxistischen Parti Socialiste de France und der reformistischen Parti Socialiste Francis von Jaures rückgängig gemacht wurde.

Während der Kampagne zur Wiedervereinigung der Franzosen nahm die Internationale die Doktrin „eine Klasse, eine Partei“ auf dem Amsterdamer Kongreß 1904 als Resolution an:

„Um der Arbeiterklasse ihre volle Kraft in dem Kampf gegen den Kapitalismus zu verleihen, ist es unerläßlich, daß es in jedem Lande gegenüber den bürgerlichen Parteien nur eine sozialistische Partei gebe, wie es nur ein Proletariat gibt. Darum haben alle Genossen und alle sozialistischen Organisationen die gebieterische Pflicht, sich mit aller Kraft zu bemühen, diese Einheitlichkeit der Partei auf Grund der von den Internationalen Kongressen bestimmten Prinzipien herbeizuführen, diese Einheitlichkeit, die notwendig ist im Interesse des Proletariats, dem gegenüber sie für die verhängnisvollen Folgen der Fortdauer von Spaltungen verantwortlich sind.“ (Internationaler Sozialisten-Kongreß zu Amsterdam [Berlin, 1904], Hervorhebung im Original)

Vor dem Ersten Weltkrieg hat Lenin dieses Prinzip nie in Frage gestellt und sogar gelegentlich bekräftigt. Als die Bolschewiki 1909 die ultralinken Otsowisten (die „Ultimatisten“) ausschlössen, rechtfertigte Lenin dies damit, daß er die Exklusivität einer Fraktion der Inklusivität einer sozialdemokratischen Partei entgegenstellte.

„Der Bolschewismus ist bei uns als bolschewistische Fraktion der Partei vertreten. Die Fraktion ist aber nicht die Partei. Die Partei kann eine ganze Skala von Schattierungen umschließen, von denen die extremsten sogar einander schroff widersprechen können. In der deutschen Partei haben wir neben dem ausgeprägt revolutionären Flügel Kautskys den erzrevisionistischen Flügel Bernsteins.“ („Mitteilung über eine Beratung der erweiterten Redaktion des Proletari, Juli 1909, Hervorhebung im Original)

In der Praxis strebte Lenin in Rußland den Aufbau einer disziplinierten, programmatisch homogenen revolutionären Avantgarde an. Bis zum Ersten Weltkrieg hat er aber mit dem Prinzip der kautskyanischen Doktrin der „Partei der Gesamtklasse“ nicht gebrochen. Die Lösung dieses dialektischen Widerspruchs war eins der wichtigen Elemente, die den Leninismus als welthistorische Lehre hervorbrachte, als den Marxismus unserer Epoche.

Kautskys Analyse des Opportunismus

Die kautskyanische Doktrin von der inklusiven Partei beruhte auf einer besonderen historisch-soziologischen Opportunismus-Theorie. Opportunistische Tendenzen, so wurde argumentiert, seien ein Überbleibsel der kleinbürgerlichen Demokratie, die hauptsächlich von der Intelligenz getragen wurde und durch die wirtschaftliche und ideologische Rückständigkeit bzw. die Unreife der arbeitenden Massen bedingt war. Das Wachstum des Proletariats und seiner Organisation würde schließlich die revolutionäre Sozialdemokratie stärken. Daher konnte Kautsky eine Strömung wie den Jauresismus als eine Art unvermeidlichen Übergang von der radikalen Demokratie zum revolutionären Marxismus tolerieren.

Kautskys Identifizierung des Opportunismus mit vormarxistischen Tendenzen läßt sich aus der Geschichte der europäischen Linken in den Jahrzehnten nach den Revolutionen von 1848 erklären. Die Haupttendenzen gegen den Marxismus (z.B. Proudhonismus, Lassalleanismus, Bakunismus) spiegelten alle das Bestreben der Handwerkerklasse wider, ihren Abstieg in das Industrieproletariat zu verhindern. Marx/ Engels verstanden, daß der utopische Handwerkersozialismus nicht einfach durch Propaganda und Agitation besiegt werden konnte, sondern daß dafür die tatsächliche Entwicklung der kapitalistischen Gesellschaft nötig war. In der Zweiten Internationale war es allgemein anerkannt, daß der Marxismus solche primitivistischen Tendenzen wie den Lassalleanismus in Deutschland und den Proudhonismus in Frankreich in erster Linie durch die Verwandlung der städtischen Handwerkerklassen in ein modernes Proletariat überwunden hat. Dieser Prozeß, durch den der Marxismus den Lassalleanismus, Proudhonismus, Bakunismus usw. überwand, wurde für Kautsky beispielhaft für den Kampf gegen den Opportunismus überhaupt.

Die Deutung des Reformismus als historische Verzögerung bzw. Zurückentwicklung erklärt Kautskys begrenzte Ziele in dem „Revisionismusstreit“ mit Bernstein. Er zog eine scharfe Linie zwischen den naiven, vormarxistischen Reformisten wie Jaures und den bewußten Revisionisten. In einem Brief vom 23. Mai 1902 an Victor Adler verteidigte Kautsky die Führung der belgischen Sozialisten gegen den Vorwurf des Revisionismus mit der Begründung, sie seien sowieso nie Marxisten gewesen und hätten auch nie so getan, als ob:

„Ich stehe ihnen vollkommen unbefangen gegenüber, das Gerede von ihrem Revisionismus läßt mich kalt. Sie haben nichts zu revidieren, denn sie haben keine Theorie. Über den eklektischen Vulgärsozialismus, auf den der Revisionismus den Marxismus herabbringen will, sind sie noch gar nicht hinausgekommen. Proudhon, Schäffle, Marx, das ist ihnen alles eins, das war seit jeher so, sie haben theoretisch keine Rückschritte gemacht, ich habe ihnen darin nichts vorzuwerfen.“ (Victor Adler, Briefwechsel mit August Bebel und Karl Kautsky …, herausgegeben von Friedrich Adler [Wien, 1954])

Kautskys Ziel im „Revisionismusstreit“ war nicht, die Zweite Internationale von reformistischen Tendenzen oder selbst Praktiken zu säubern, sondern die ideologische Integrität des marxistischen Lagers zu erhalten. Sollte dies gelingen, so Kautsky, würde die Entwicklung des Klassenkampfes schließlich den Sieg der revolutionären Sozialdemokratie sicherstellen.

Die Schwäche der revolutionären Sozialdemokratie führte Kautsky auf die Rückständigkeit des Proletariats zurück, die entweder eine fortgesetzte Identifizierung mit dem Kleinbürgertum oder einen Mangel an Vertrauen in die Stärke der Arbeiterbewegung ausdrückte:

„Zum großen Teil dem Kleinbürgertum und Kleinbauernstand entsprossen, tragen viele Proletarier noch lange dessen Eierschalen mit sich herum; sie fühlen sich nicht als Proletarier, sondern als möchte-gern Besitzende… Wieder andere sind schon weiter gekommen, erkennen bereits die Notwendigkeit, den ihnen gegenüberstehenden Kapitalisten zu bekämpfen, fühlen sich aber immer noch nicht sicher und stark genug, dem ganzen kapitalistischen System den Krieg zu erklären. Sie suchen Hilfe bei bürgerlichen Parteien und Regierungen.“ (Karl Kautsky, Der Weg zur Macht, Frankfurt/M., 1972, 1. Auflage 1909)

Paul Axelrod und August Bebel Dietz Verlag

Paul Axelrod und August Bebel

Das Wachstum des Proletariats, der Gewerkschaften usw. stärkte für Kautsky die objektiv revolutionären Kräfte in der Gesellschaft. Die Sozialdemokratie müßte also geduldig und pädagogisch an die rückständigen Arbeiter herangehen, obwohl auch Kautsky erkannte, daß sich das Klassenbewußtsein während einer revolutionären Krise sprunghaft entwickeln könnte. Kein Vorkriegssozialdemokrat, Luxemburg teilweise ausgenommen, führte die Hauptquelle des Reformismus auf den Konservatismus der gesellschaftlich privilegierten Bürokratie zurück, die durch das Wachstum und die Stärke der Arbeiterbewegung, der sozialdemokratischen Parteien und ihrer angeschlossenen Gewerkschaften erzeugt worden war.

Lenins soziologische Analyse des Menschewismus

Lenin betrachtete, Kautskys Methodologie folgend, den Menschewismus als eine Ausdehnung des kleinbürgerlichen Radikalismus des 19. Jahrhunderts in die Arbeiterbewegung hinein. Weil er die Menschewiki für eine „intellektualistische“ Tendenz hielt, die im gewissen Sinne außerhalb der Arbeiterbewegung stand, konnte er die Spaltung von ihnen durchführen, ohne die Existenz von zwei konkurrierenden sozialdemokratischen Parteien zu postulieren — die eine revolutionär, die andere reformistisch. Lenin war überzeugt, daß die zunehmende sozialdemokratische Organisierung des russischen Proletariats den Sieg des Bolschewismus garantierte.

Lenin betrachtete die Gruppierung um Martow 1903 als Ausdruck der Gesinnungen und Werte der alten, ungebundenen, individualistischen revolutionären Intelligenz, als eine Rebellion des Zirkelwesens gegen den Aufbau einer wirklichen Arbeiterpartei:

„Und doch betrachten wir diese Krankheit der Partei als eine Wachstumskrankheit. Die Wurzel der Krise sehen wir im Übergang von der Zirkelform des Lebens der Sozialdemokratie zu Parteiformen, den Kern ihres inneren Kampfes im Konflikt zwischen Zirkelwesen und Parteiprinzip. Und deshalb kann unsere Partei erst, nachdem sie diese Krankheit überwunden hat, eine wirkliche Partei werden…

Als Hauptkader der Opposition dienten schließlich überhaupt alle jene Elemente unserer Partei, die vorwiegend der Intelligenz angehörten. Im Vergleich zum Proletariat ist die Intelligenz stets individualistischer, schon kraft der Grundbedingungen ihres Lebens und ihrer Arbeit, die ihr nicht unmittelbar eine weitgehende Zusammenfassung der Kräfte gestatten und somit keine unmittelbare Erziehung durch organisierte gemeinsame Arbeit geben. Daher fällt es den intellektuellen Elementen schwerer, sich der Disziplin des Parteilebens anzupassen, und diejenigen von ihnen, die außerstande sind, mit dieser Aufgabe fertig zu werden, entrollen natürlich das Banner des Aufstands gegen die notwendigen organisatorischen Beschränkungen…“ („An die Partei“, August 1904, Hervorhebung im Original)

Delegierte des Amsterdamer Kongresses der Zweiten Internationale, 1904 Dietz Verlag

Delegierte des Amsterdamer Kongresses der Zweiten Internationale, 1904

Genauso analysierte Lenin das menschewistische Liquidatorentum (Widerstand gegen eine illegale Partei) in der Periode zwischen 1908 und 1912 als Gegensatz zwischen Intellektuellen und Proletariat:

„Aus der Illegalität flüchtete vor allem und in erster Linie die bürgerliche Intelligenz, die der konterrevolutionären Stimmung erlegen war, jene ‚Mitläufer‘ der sozialdemokratischen Arbeiterbewegung, die sich auch bei uns wie in Europa an der Befreierrolle des Proletariats … in der bürgerlichen Revolution begeistert hatten. Es ist bekannt, wie viele Marxisten die illegale Arbeit nach 1905 verlassen haben und in allerlei legalen Intellektuellennestchen untergekrochen sind.“ („Wie W Sassulitsch das Liquidatorentum erledigt“, September 1913)

Lenins soziologische Analyse des Menschewismus traf soweit zu. Die Gruppierung um Martow 1903 verkörperte tatsächlich teilweise die Gewohnheiten der alten revolutionären Intelligenz; man denke dabei an Wera Sassulitsch. Das menschewistische Liquidatorentum stellte ja zum Teil eine Flucht der Intelligenz aus der SDAPR in Richtung bürgerliche Respektabilität während einer Periode der Reaktion dar. Doch der Menschewismus war nicht in erster Linie eine außerhalb der Arbeiterbewegung stehende Tendenz. Die russischen Menschewiki nahmen den Reformismus der Arbeiterbewegung in der Zweiten Internationale insgesamt vorweg, darunter besonders in deren Massenparteien. Erst während des Ersten Weltkrieges, in den Studien zum Imperialismus, ortete Lenin die Quelle des sozialdemokratischen Opportunismus innerhalb der Arbeiterbewegung — in einer auf der Oberschicht der Arbeiterklasse beruhenden Arbeiterbürokratie.

Der Iskrismus

Der organisierte russische Marxismus entstand 1883, als Plechanow mit der vorherrschenden populistischen Strömung brach, um die winzige Exilgruppe Befreiung der Arbeit zu bilden. Ende der 1880er, Anfang der 1890er Jahre bestand der Marxismus in Rußland aus lokalen Propagandazirkeln, deren Ziel es war, eine dünne Schicht fortgeschrittener Arbeiter zu schulen. Mitte der 1890er Jahre wandten sich die marxistischen Propagandazirkel der Massenagitation zu und intervenierten in eine große Streikwelle hinein. Diese Wende war zum Teil vom jüdischen Bund inspiriert. Ethnische Solidarität ermöglichte es der jüdischen marxistischen Intelligenz, jüdische Arbeiter zu erreichen und zu organisieren, bevor es der russischen Sozialdemokratie insgesamt gelang.

Zum Teil wegen der Inhaftierung der erfahreneren marxistischen Führer (z.B. Lenin, Martow) degenerierte die Wende zur Massenagitation rapide zum Reformismus. Diese Tendenz, die von ihrem Gegner Plechanow Ökonomismus getauft wurde, beschränkte ihre Agitation auf elementare gewerkschaftliche Forderungen und unterstützte ansonsten passiv die Bemühungen des bürgerlichen Liberalismus, den zaristischen Absolutismus zu reformieren. Was die internationale Sozialdemokratie betrifft, so standen die Ökonomisten dem orthodoxen Marxismus feindlich gegenüber und hatten daher lose Verbindungen mit Bernsteins Richtung in Deutschland und dem Possibilismus in Frankreich. Ende der 1890er Jahre war der Ökonomismus unter den russischen Sozialdemokraten die vorherrschende Tendenz. 1900 ging die zweite Generation von russischen Marxisten (Lenin, Martow) mit der Gründergeneration (Plechanow, Axelrod, Sassulitsch) zusammen, um die russische Sozialdemokratie zu ihren revolutionären Traditionen zurückzuführen, verkörpert im ursprünglichen Programm der Gruppe Befreiung der Arbeit. Die revolutionäre marxistische Tendenz war um die Zeitung Iskra organisiert. Lenin war der Organisator der Iskra-Gruppe. Er leitete die Kader in Rußland, deren Aufgabe es war, die lokalen sozialdemokratischen Komitees zu gewinnen oder notfalls zu spalten. Mit der Iskra gab es zum ersten Mal eine organisatorische Zentrale für eine russische sozialdemokratische Partei.

In ihren Polemiken gegen Lenins erfolgreiche Spaltungstaktik wiesen die Ökonomisten darauf hin, daß die deutsche Zentrale nicht versuchte, die Bernsteinianer auszuschließen. Für einen Ausschluß der Opportunisten aus der sozialdemokratischen Partei argumentierte Lenin nicht prinzipiell, in gewissem Sinne konnte er es auch nicht. Statt dessen rechtfertigte er seine Spaltungstaktik mit einer Reihe von Argumenten, die auf den Besonderheiten der russischen Parteisituation beruhten. Noch bis zum Ersten Weltkrieg sollte sich Lenin auf die eine oder andere Besonderheit der russischen Verhältnisse berufen, um den Aufbau einer programmatisch homogenen, revolutionären Avantgarde zu rechtfertigen.

Was waren Lenins Argumente für den Aufbau der SDAPR ohne und gegen die Ökonomisten? Die deutsche Partei besaß starke revolutionäre Traditionen und eine Führung mit Autorität. Die russische Partei existierte nur im Keim und konnte sehr leicht zum Opfer des Opportunismus werden. Die deutsche Führung Bebel/Kautsky war revolutionär, die Anhänger Bernsteins nur eine kleine Minderheit; im Gegensatz dazu waren die Ökonomisten in der russischen Sozialdemokratie zeitweilig die vorherrschende Tendenz. Die deutschen „Revisionisten“ akzeptierten die Parteidisziplin, die russischen Ökonomisten waren unfähig, die Parteidisziplin zu akzeptieren. Und sowieso existierte die SDAPR nicht als zentralisierte Organisation. Diese Argumente werden in Was tun? (1902) vorgebracht:

„Die Hauptsache jedoch ist, daß die Positionen der Opportunisten in ihrem Verhältnis zu den revolutionären Sozialdemokraten in Deutschland und in Rußland diametral entgegengesetzt sind. In Deutschland sind bekanntlich die revolutionären Sozialdemokraten für die Aufrechterhaltung dessen, was ist: für das alte Programm und für die Taktik, die alle kennen… Die ‚Kritiker‘ aber wollen Änderungen vornehmen, und da diese Kritiker nur eine verschwindende Minderheit sind und ihre revisionistischen Bestrebungen sehr schüchtern hervortreten, so kann man die Beweggründe verstehen, die die Mehrheit veranlassen, sich auf eine kühle Ablehnung der ‚Neuerungen‘ zu beschränken. Bei uns in Rußland hingegen sind es die Kritiker und Ökonomisten, die für die Aufrechterhaltung dessen eintreten, was ist: die ‚Kritiker‘ wollen, daß man sie auch weiterhin als Marxisten betrachte und ihnen die ‚Freiheit der Kritik‘ gewähre, von der sie in jeder Weise Gebrauch machten (denn irgendeine Parte/bindung haben sie eigentlich nie anerkannt; außerdem besaßen wir gar kein allgemein anerkanntes Parteiorgan, das die Freiheit der Kritik, sei es auch nur durch einen Ratschlag, hätte ‚beschränken‘ können)…“ (Hervorhebung im Original)

Wie allgemein anerkannt, war Lenins Was tun? von 1902 die maßgebliche Darstellung des Iskrismus. Trotz seiner geheuchelten Sympathie für Lenin ist Cliff viel zu sehr Arbeitertümler und Menschewik, um Was tun? akzeptieren zu können. Ja, ein Hauptziel seiner Biographie ist die Argumentation, daß die Polemik von 1902 eine übertriebene, einseitige Darstellung sei, die Lenin später im wesentlichen abgelehnt habe.

Zunächst vulgarisiert Cliff Lenins Position und polemisiert dann gegen seinen selbstgeschaffenen Pappkameraden: „Im allgemeinen ist Marx die Trennung zwischen ökonomischem und politischem Kampf fremd. Eine ökonomische Forderung, wenn sie nur einen Sektor betrifft, wird bei Marx als ‚ökonomisch‘ definiert. Sollte aber dieselbe Forderung an den Staat gerichtet werden, wird sie ‚politisch‘… In vielen Fällen gehen aus ökonomischen (partiellen) Kämpfen keine politischen (klassenweiten) Kämpfe hervor, aber es gibt keine Chinesische Mauer zwischen den beiden, und viele ökonomische Kämpfe schwappen doch in politische über.“ (Hervorhebung im Original)

Lenin hat die Ökonomisten nicht wegen Gleichgültigkeit gegenüber der Regierungspolitik angegriffen. Die russischen Ökonomisten agitierten für vom Staat initiierte Wirtschaftsreformen und setzten sich für demokratische Rechte ein, besonders für das Recht, sich zu organisieren. Mit diesem Ziel unterstützten sie passiv die Liberalen. In Was tun? greift Lenin das politische Programm der Ökonomisten an, wie es in der Parole „dem eigentlichen ökonomischen Kampf politischen Charakter zu verleihen“ zusammengefaßt war:

„Dem ‚eigentlichen ökonomischen Kampf politischen Charakter‘ verleihen heißt folglich die Durchsetzung derselben gewerkschaftlichen Forderungen, derselben gewerkschaftlichen Verbesserung der Arbeitsbedingungen durch ‚gesetzgebende und administrative Maßnahmen‘ … anstreben. Das eben tun alle gewerkschaftlichen Arbeiterverbände und haben es stets getan…

So verbirgt sich hinter der pompösen Phrase ‚dem eigentlichen ökonomischen Kampf politischen Charakter verleihen‘ die ‚schrecklich‘ tiefgründig und revolutionär klingt, eigentlich nur das traditionelle Bestreben, die sozialdemokratische Politik zu einer trade-unionistischen Politik zu degradieren!“

Für Lenin bestand politisches Klassenbewußtsein oder sozialistisches Bewußtsein darin, daß das Proletariat die Notwendigkeit erkennt, die herrschende Klasse zu werden und die Gesellschaft auf sozialistischen Grundlagen wiederaufzubauen. Alles darunter ist trade-unionistisches Bewußtsein.

Wie alle heutigen Arbeitertümler und Sozialdemokraten muß Cliff Lenins berühmte Erklärung angreifen, daß sozialistisches Bewußtsein den Arbeitern von außen durch revolutionäre Intellektuelle gebracht wird, daß politisches Klassenbewußtsein nicht einfach durch die Kämpfe des Proletariats um die Verbesserung seiner Lage entsteht. Hier sind Cliffs alberne Bemerkungen zu dieser Frage:

„Ohne Zweifel überbetont diese Formulierung den Unterschied zwischen Spontaneität und Bewußtsein. Denn eine völlige Trennung zwischen Spontaneität und Bewußtsein ist tatsächlich mechanisch und undialektisch. Wie wir sehen werden, hat dies Lenin später zugegeben. Reine Spontaneität gibt es im Leben nicht…

Die Logik der mechanischen Nebeneinanderstellung von Spontaneität und Bewußtsein war die völlige Trennung der Partei von den tatsächlichen Elementen der Führung der Arbeiterklasse, die bereits im Kampf entstanden waren. Man nahm an, die Partei habe Antworten auf all die Fragen, die der spontane Kampf aufwerfen könnte. Die Blindheit der Vielen, die im Kampf stehen, ist die Kehrseite der Allwissenheit der Wenigen.“ (Hervorhebung im Original)

Es ist wichtig, Lenins Erklärung vollständig zu zitieren, um zu verstehen, was sie besagt und was nicht:

„Wir haben gesagt, daß die Arbeiter ein sozialdemokratisches Bewußtsein gar nicht haben konnten. Dieses konnte ihnen nur von außen gebracht werden. Die Geschichte aller Länder zeugt davon, daß die Arbeiterklasse ausschließlich aus eigener Kraft nur ein trade-unionistisches Bewußtsein hervorzubringen vermag, d.h. die Überzeugung von der Notwendigkeit, sich in Verbänden zusammenzuschließen, einen Kampf gegen die Unternehmer zu führen, der Regierung diese oder jene für die Arbeiter notwendigen Gesetze abzutrotzen u.a.m. Die Lehre des Sozialismus ist hingegen aus den philosophischen, historischen und ökonomischen Theorien hervorgegangen, die von den gebildeten Vertretern der besitzenden Klassen, der Intelligenz, ausgearbeitet wurden. Auch die Begründer des modernen wissenschaftlichen Sozialismus, Marx und Engels, gehörten ihrer sozialen Stellung nach der bürgerlichen Intelligenz an. Ebenso entstand auch in Rußland die theoretische Lehre der Sozialdemokratie ganz unabhängig von dem spontanen Anwachsen der Arbeiterbewegung, entstand als natürliches und unvermeidliches Ergebnis der ideologischen Entwicklung der revolutionären sozialistischen Intelligenz.“ (Hervorhebung im Original)

W.l. Lenin mit Mitgliedern des St. Petersburger Kampfbundes zur Befreiung der Arbeiterklasse Dietz Verlag

W.l. Lenin mit Mitgliedern des St. Petersburger Kampfbundes zur Befreiung der Arbeiterklasse

Dies ist keine programmatische Erklärung, sondern eine historische Analyse mit Implikationen für die Organisationsfrage. Die sozialistische Bewegung entstand vor der Entwicklung der ökonomischen Massenorganisationen des Industrieproletariats. Sie entstand aus bürgerlich-demokratischen revolutionären Strömungen (die vom Blanquismus repräsentierte Tradition Babeufs in Frankreich und der Bund der Gerechten in Deutschland). Außer in Britannien entstanden die frühesten Gewerkschaften über die Umwandlung des alten Zunftsystems der Handwerker des Handelskapitalismus.

So beruhte in der deutschen Revolution von 1848 Stephan Borns gewerkschaftliche Massenbewegung, die Arbeiterverbrüderung, größtenteils auf der traditionellen Zunftstruktur. Die Führer der embryonalen Gewerkschaften waren in der Regel die traditionellen Respektspersonen der plebejischen Gemeinde. Methodisten-Pfarrer wie der radikale Tory J.R. Stephens spielten Anfang des W.Jahrhunderts eine bedeutende Führungsrolle in der britischen Arbeiterbewegung. Katholische Priester spielten eine ähnliche Rolle in den ersten französischen Gewerkschaften, beispielsweise unter den aufständischen Seidenarbeitern von Lyon. In den meisten Ländern entstand eine sozialistische Arbeiterbewegung durch den politischen Sieg der revolutionären Intelligenz über die traditionalistischen Führer der frühen Arbeiterorganisationen. Als Lenin Was tun? schrieb, waren die ökonomischen Massenorganisationen der russischen Arbeiterklasse die von der Polizei geführten Gewerkschaften (Anhänger von Subatow), deren prominentester Führer der Priester Gapon war.

Lenin war ein Dialektiker, der verstand, daß das Bewußtsein und die Führung der Arbeiterklasse historisch qualitative Änderungen erfahren. Mit der wichtigen Ausnahme der Vereinigten Staaten ist der gewerkschaftliche Ökonomismus (verbunden mit bürgerlich-liberalen Illusionen und religiösem Obskurantismus) nicht mehr die vorherrschende Ideologie des Weltproletariats. In den fortgeschrittenen kapitalistischen Ländern kettet gerade der sozialistische Reformismus, dessen Träger die sozialdemokratischen und stalinistischen Arbeiterbürokratien sind, die Arbeiterklasse an die bürgerliche Ordnung. In den rückständigen Ländern ist der populistische Nationalismus mit sozialistischer Färbung (z.B. Peronismus, Nasserismus) die charakteristische Form der Vorherrschaft bürgerlicher Ideologie über die arbeitenden Massen.

Im Rußland des Jahres 1902 konnte eine kleine, homogene marxistische Avantgarde, zusammengesetzt aus deklassierten Intellektuellen und einer dünnen Schicht fortgeschrittener Arbeiter, die Masse der Arbeiter vom polizeilichen Trade-Unionismus und der orthodoxen Kirche losreißen. Heute ist eine internationale trotzkistische Avantgarde erforderlich, die im Anfangsstadium notwendigerweise aus deklassierten Intellektuellen und relativ wenigen fortgeschrittenen Arbeitern zusammengesetzt ist, um die Arbeiterklasse weltweit von der Vorherrschaft des sozialdemokratischen und stalinistischen Reformismus und des populistischen Nationalismus zu befreien.

Was tun? kann nicht als die definitive leninistische Erklärung zur Parteifrage betrachtet werden, aber in einem Sinn, der Cliff entgegengesetzt ist. Trotz ihrer kantigen Formulierungen geht die Polemik von 1902 nicht über den Rahmen der orthodoxen Sozialdemokratie vor 1914 hinaus. Hätte dieses Werk einen radikalen Bruch mit der Sozialdemokratie dargestellt, hätten Plechanow, Martow usw. es nie unterstützt. Erst nach der Spaltung 1903 entdeckten Martow, Axelrod und andere Führer der Menschewiki in Was tun? angebliche substitutionalistische und blanquistische Vorstellungen. Lenins unnachgiebige Haltung in der Praxis gegenüber dem Opportunismus, dem cliquistischen Zirkelwesen und allen Hindernissen zum Aufbau einer revolutionären SDAPR verursachte die Spaltung mit den Menschewiki, und nicht so sehr die in Was tun? ausgedrückten Ideen. Wenn Was tun? allzu leninistisch für Cliffs Geschmack ist, dann deshalb, weil seine Feindseligkeit gegenüber dem Bolschewismus so groß ist, daß er sogar den Lenin ablehnen muß, der noch ein revolutionärer Sozialdemokrat war. In Wirklichkeit ist das Werk von 1902 eine Vorwegnahme — und keine voll entwickelte Darlegung — des Kommunismus nach 1917.

In linken Kreisen ist es üblich, Was tun? als die definitive leninistische Erklärung zur Parteifrage zu betrachten. So konzentriert sich der amerikanische Shachtman-Anhänger Bruce Landau in seiner kritischen Besprechung von Cliffs Lenin-Biographie (Revolutionary Marxist Papers Nr. 8) auf die Iskra-Periode. Diese enge Begrenzung rechtfertigt er mit einem Trotzki-Zitat über Lenins Entwicklung:

„… weil Lenin gerade während jener wenigen Jahre Lenin wurde. Das heißt nicht, daß er nicht mehr gewachsen sei: Im Gegenteil, er ist gewachsen sowohl vor als nach dem Oktober. Dabei handelt es sich aber schon um ein mehr organisches Wachsen.“ (Über Lenin. Material für einen Biographen, Berlin 1933 [1924])

Trotzki bezieht sich hier auf die Entwicklung von Lenins politischer Persönlichkeit, nicht auf seine Ideen und ihren programmatischen Ausdruck. Die entscheidende Periode für die Entwicklung von Lenins kommunistischer Lehre war 1914 bis 1917, nicht 1900 bis 1903.

Lenin

Bolschewismus kontra Menschewismus
Die Spaltung von 1903

Der II. Parteitag der Russischen Sozialdemokratischen Arbeiterpartei (SDAPR), abgehalten im Juli/August 1903 zuerst in Brüssel und dann in London, sollte der Höhepunkt des iskristischen Projekts sein, eine zentralisierte Partei auf der Grundlage eines umfassenden Programms zu schaffen. (Teilweise wegen der Repression hat der formale Gründungsparteitag der SDAPR 1898 den Charakter der russischen Sozialdemokratie als einer Bewegung örtlicher Propagandazirkel nicht geändert.) Die Ökonomisten wurden vom Parteitag nicht ausgeschlossen, aber es wurde arrangiert, daß die Iskristen eine entscheidende Mehrheit haben würden. Die Iskra-Gruppe stellte rund zwei Drittel der 46 Delegierten des II. Parteitags. Vom restlichen Drittel waren etwa die Hälfte Anti-Iskristen. Zu diesen gehörten ein paar prominente Ökonomisten (Martynow, Akimow) und der halbnationalistische Bund, der den Anspruch erhob, der einzige Vertreter des jüdischen Proletariats zu sein, und eine föderalistische Partei forderte.

In der ersten Phase des Parteitags setzte eine solide iskristische Mehrheit ihre Linie durch. Die iskristische Gruppe, darunter künftige Menschewiki, nahm einstimmig ein Programm an, das Elemente enthielt, die später ganz typisch für Leninismus waren. So enthielt der Abschnitt „Über den gewerkschaftlichen Kampf“ die folgende Passage:

„… sofern dieser Kampf sich in Isolierung vom politischen Kampf des Proletariats entwickelt, der von der Sozialdemokratischen Partei geführt wird, führt er zur Zersplitterung der proletarischen Kräfte und zur Unterwerfung der Arbeiterbewegung unter die Interessen der besitzenden Klassen.“ (Robert H. McNeal, Hrsg., Resolutions and Documents ofthe Communist Party ofthe Soviet Union, 1974)

Hinter der scheinbar festen Front der Iskra -Gruppe existierten aber sehr beträchtliche Spannungen. Da gab es etwa die potentielle Polarität zwischen Lenin und Martow, der stets versöhnlicher gegenüber den nicht- und anti-iskristischen Elementen der russischen Sozialdemokratie war. Schon vor dem Parteitag galt Martow allgemein als „weicher“ und Lenin als „harter“ Iskrist. Folglich sahen diejenigen /s/cra-Unterstützer, die eine größere Rolle für Nicht-Iskristen in der einheitlichen Partei befürworteten, in Martow ihren natürlichen Führer; diejenigen, die weiterhin eine feste Kontrolle der Iskristen über die Partei wollten, schauten auf Lenin.

Die Spannung zwischen Lenins „Harten“ und Martows „Weichen“ zeigte sich vom Beginn des Parteitags an in einer Reihe von kleineren Auseinandersetzungen. Wie bekannt, entlud sich diese Spannung über den ersten Absatz des Parteistatuts, der die Mitgliedschaft definierte. Martows Entwurf definierte ein Parteimitglied als jemanden, der der Partei „unter der Leitung einer ihrer Organisationen regelmäßig persönlichen Beistand leistet“. Lenins Mitgliedschaftskriterium war, daß man die Partei „durch die persönliche Betätigung in einer der Parteiorganisationen unterstützt“.

Lenins engere Definition der Mitgliedschaft war sowohl durch den allgemeinen Wunsch motiviert, Opportunisten auszuschließen (die die Härten und Gefahren der vollen organisatorischen Teilnahme wahrscheinlich weniger akzeptieren würden), als auch durch den Wunsch, die Dilettanten loszuwerden, die zur russischen Sozialdemokratie gerade wegen des losen Zirkelwesens hingezogen worden waren. Interessanterweise war es Plechanow, der den antiopportunistischen Aspekt einer engeren Partei betonte, während Lenin mehr die praktischen, zeitbedingten Überlegungen hervorhob. Hier der Kern von Plechanows Argument:

„Vor einem Beitritt zu der Organisation werden viele Intellektuelle Angst haben, die durch und durch von bürgerlichem Individualismus durchdrungen sind. Aber das ist gerade gut. Diese bürgerlichen Individualisten sind gewöhnlich auch Vertreter jeder Art von Opportunismus. Wir müssen sie uns vom Leibe halten. Lenins Entwurf kann als Bollwerk gegen ihr Eindringen in die Partei dienen, und schon deshalb allein müssen alle Gegner des Opportunismus für ihn stimmen.“ (Protokolle des II. Parteitags der SDAPR, zitiert in Leopold H. Haimson, The Russian Marxists and the Origins ofBolshevism, 1955)

Lenin argumentierte mit einer etwas anderen Begründung:

„Die Wurzel des Fehlers jener, die für Martows Formulierung eintreten, liegt darin, daß sie ein Hauptübel unseres Parteilebens nicht nur ignorieren, sondern dieses Übel sogar sanktionieren. Dieses Übel besteht darin, daß es in der Atmosphäre der fast allgemeinen politischen Unzufriedenheit, unter Verhältnissen, die erfordern, die Arbeit völlig im Verborgenen zu leisten und den größten Teil der Tätigkeit in engen Geheimzirkeln und sogar in privaten Zusammenkünften zu konzentrieren, für uns höchst schwierig, ja beinahe unmöglich ist, die bloßen Schwätzer von den wirklich Arbeitenden zu unterscheiden. Und es dürfte sich kaum ein zweites Land finden, in dem die Vermengung dieser beiden Kategorien so üblich wäre und soviel Verwirrung und Schaden stiftet wie in Rußland. Nicht nur in der Intelligenz, auch in Kreisen der Arbeiterklasse leiden wir furchtbar unter diesem Übel, und die Formulierung des Gen. Martow erhebt dieses Übel zum Gesetz. In dieser Formulierung liegt unbedingt das Bestreben, all und jeden zum Parteimitglied zu machen; Gen. Martow mußte das selber mit Vorbehalt zugeben — ‚wenn ihr wollt, ja‘, sagte er. Gerade das wollen wir aber nicht! Gerade deshalb wenden wir uns so entschieden gegen Martows Formulierung. Es ist besser, zehn Arbeitende bezeichnen sich nicht als Parteimitglieder (die wirklich Arbeitenden jagen Titeln nicht nach!), als daß ein Schwätzer das Recht und die Möglichkeit hat, Parteimitglied zu sein. Das ist der Grundsatz, der mir unwiderleglich erscheint und der mich veranlaßt, gegen Martow zu kämpfen.“ („Zweite Rede in der Diskussion über das Parteistatut“, 1903)

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Mit Unterstützung der Ökonomisten, Bundisten und Zentristen wurde Martows Formulierung angenommen. Bald danach aber verließen die Ökonomisten und Bundisten den Parteitag, als er sich weigerte, ihre jeweiligen organisatorischen Ansprüche zu akzeptieren. Dadurch erhielten Lenins „Harte“ eine knappe Mehrheit. Zur entscheidenden Spaltung kam es wegen der Wahl der Iskra- Redaktion. Die alte Redaktion setzte sich aus vier „weichen“ Martow-Anhängern plus Lenin und Plechanow zusammen. Lenin schlug vor, die Redaktion auf drei zu verkleinern, mit ihm selbst und Plechanow als „harter“ Mehrheit. Dieser Vorschlag war ein hoch emotionaler Streitpunkt, da die Veteranen Axelrod und Sassulitsch aus sentimentalen Gründen Lieblinge der Partei waren. Als Lenins Vorschlag angenommen wurde, weigerten sich Martows Anhänger, sich an der Redaktion oder dem Zentralkomitee zu beteiligen.

Viele erbitterte Debatten drehten sich darum, ob Lenin Martow über seinen Plan, die Redaktion zu verkleinern, vor dem Parteitag informiert und ob Martow zugestimmt hätte usw. Die Vorgeschichte des Redaktionsstreits ist unklar, da es auch um Privatgespräche ging. Klar ist aber, daß Lenins mangelnde Kompromißbereitschaft in dieser Frage auf die Abstimmung über die Mitgliedschaftskriterien zurückging. Es war eindeutig Lenin, der den Fraktionskampf begann. Er weigerte sich, die Differenz über diese Kriterien als nebensächlichen Streit zu betrachten, sondern bestand darauf, sie zur Basis der Vertretung von Mehrheit und Minderheit in den leitenden Parteigremien zu machen.

Die Periode zwischen dem II. Parteitag und dem Ausbruch der Revolution von 1905 war durch das Zerbröckeln der leninistischen „harten“ Mehrheit gekennzeichnet. In dieser ganzen Periode richtete Lenin seine politischen Energien hauptsächlich gegen diejenigen Anhänger der Mehrheit, die durch eine Kapitulation vor den Menschewiki die Einheit wiederherstellen und damit die Beschlüsse des II. Parteitags umstoßen und die bolschewistische Tendenz liquidieren wollten. Der erste Gegenangriff der Menschewiki fand im Oktober 1903 bei einer Konferenz der Auslandsliga der russischen revolutionären Sozialdemokratie statt, wo sie sich eine knappe Mehrheit sicherten. Als die Liga sich weigerte, die Autorität der auf dem II. Parteitag gewählten Führungsgremien anzuerkennen, verließen die Bolschewiki den Saal. Das war die endgültige Spaltung. Obwohl Plechanow die bolschewistische Fraktion unterstützte, schreckte er vor einer definitiven Spaltung wegen einer scheinbar rein organisatorischen statt prinzipiellen Frage zurück. Auf einer Fraktionssitzung der Bolschewiki im November soll er damit herausgeplatzt sein: „Auf meine eigenen Genossen schiessen — das kann ich nicht. Lieber eine Kugel in den Kopf als eine Spaltung“ (zitiert in Samuel H. Baron, Plekhanov: Father ofRussian Marxism, 1963). Daraufhin benutzte er seine Autorität, um die vier Martow-Anhänger von der alten Redaktion in die neue Iskra- Redaktion zu kooptieren; aus Protest trat Lenin zurück.

Das rein bolschewistische Zentralkomitee, dem Lenin nach seinem Rücktritt von der Iskra angehörte, folgte im Jahre 1906 Plechanows Kurs. In der Meinung, seine Anhänger seien bei den Komiteeleuten in Rußland stärker vertreten als in dem eher intellektuellen Exilmilieu, trat Lenin für einen neuen Parteitag ein, um seine Mehrheit wiederzugewinnen und das nunmehr menschewistische Zentralorgan Iskra zurückzuerobern. Das Zentralkomitee war gegen einen neuen Parteitag, kooptierte drei Menschewiki und schloß Lenin effektiv aus diesem Gremium aus.

Ende 1904 brach Lenin völlig mit den offiziellen zentralen Parteigremien und gründete ein de facto bolschewistisches Zentralkomitee unter dem Namen Büro der Komitees der Mehrheit. Anfang 1905 gründeten die Bolschewiki ihr eigenes Organ, Wperjod.

Die Logik des Fraktionskampfes trieb die Menschewiki nach rechts; nach und nach kopierten sie die Politik der besiegten Ökonomisten. Martow und Plechanow schrieben selbstkritische Artikel über die alte Iskra und erklärten, sie seien bei ihren Angriffen auf die Ökonomisten einseitig (mit anderen Worten Leninisten) gewesen. Die organische Fusion der Menschewiki und Ökonomisten wurde deutlich durch die Kooptierung von A. S. Martynow in die Redaktion der neuen Iskra.

Die Leninisten sahen in ihrem Kampf gegen die Menschewiki, politisch wie organisatorisch, eine Neuauflage des Kampfes von Iskrismus kontra Ökonomismus. Einer von Lenins führenden Leutnants, Ljadow, instruierte Ende 1904 einen Anhänger der Bolschewiki, die Kampagne gegen den Ökonomismus erneut durchzukämpfen:

„Wir sollen die Partei nicht verlassen, sondern kämpfen, mit ganzer Kraft… Wir müssen Rußland gewinnen [d.h. die Komitees] trotz der Zentralkörperschaften, und wir werden es so machen wie ehemals die Iskra. Wir müssen die Arbeit der Iskra wiederholen und zur Vollendung bringen.“ (zitiert in J. L. H. Keep, The Rise of Social Democracy in Russia, 1963)

Schon Anfang 1905 war Lenin überzeugt, daß die führenden Menschewiki unverbesserliche und organisatorisch prinzipienlose Opportunisten waren, und er trat für eine vollständige Spaltung ein. Im Gegensatz zur Politik gegenüber den Ökonomisten war Lenin dagegen, den führenden Menschewiki die Teilnahme an einem neuen Parteitag zu erlauben, auf dem er eine neue bolschewistische Partei gründen wollte:

„Man kann und soll die [menschewistischen] zentralen Körperschaften einladen, aber ihre Stimmen als entscheidend anerkennen, das ist, ich wiederhole es, Wahnsinn. Natürlich werden die zentralen Körperschaften zu unserem Parteitag sowieso nicht kommen, aber warum sollen wir ihnen ein übriges Mal Gelegenheit geben, uns ins Gesicht zu spucken? Was soll das Heucheln und Versteckspielen? Das ist einfach eine Schande. Wir haben die Spaltung verkündet, wir rufen zu einem Parteitag der Wperjod-Anhänger, wir wollen eine Partei im Sinne des Wperjod organisieren und brechen, brechen sofort sämtliche Beziehungen zu den Desorganisatoren ab — und da redet man uns von Loyalität, tut so, als ob ein gemeinsamer Parteitag der ‚Iskra‘ und des ‚Wperjod‘ möglich wäre.“ („Brief an A. A. Bogdanow und S. I. Gussew“, 11. Februar 1905, Hervorhebung im Original)

Wie von Lenin vorausgesehen, boykottierten die Menschewiki den im April 1905 in London abgehaltenen III. [rein bolschewistischen] Parteitag und beriefen ihre eigene konkurrierende Versammlung ein. Was stellte Leninismus 1904 dar? Vor allem ein festes Bekenntnis zur revolutionären Sozialdemokratie, besonders zur führenden Rolle der proletarischen Partei im Kampf gegen den zaristischen Absolutismus. Außerdem eine unnachgiebige Haltung gegenüber erwiesenen Opportunisten, wie den führenden Ökonomisten, und eine mißtrauische Haltung gegenüber ihrer möglichen Wandlung hin zu revolutionärer Politik. Lenin setzte sich für eine zentralisierte, disziplinierte Partei ein und war daher ein unversöhnlicher Feind des für die russische sozialdemokratische Bewegung typischen Zirkelwesens und Cliquismus. Abgesehen von den Mitgliedschaftskriterien ließen sich 1904 die Differenzen zwischen Bolschewismus und Menschewismus nur schwer als entgegengesetzte Prinzipien darstellen. Sie manifestierten sich über konkrete organisatorische Fragen und erschienen den meisten Außenstehenden (wie Kautsky) als graduelle und nicht prinzipielle Differenzen.

Trotzkis menschewistische Polemik

Von den zahlreichen polemischen Attacken auf Lenin 1903/04 hatte Trotzkis „Unsere politischen Aufgaben“ viel weniger Bedeutung als diejenigen von Axelrod, Plechanow und Luxemburg. Aber wegen Trotzkis späterer Autorität als großer Revolutionär haben verschiedene Reformisten und Zentristen seine Polemik von 1904 stark in den Vordergrund gestellt. Tony Cliff, langjähriger Chef der International Socialists ( j e t z t Socialist Workers Party) in Britannien, widmete einen ganzen Aufsatz der „Prophezeiung“ Trotzkis, Lenins organisatorische Konzeption würde die Partei dazu bringen, „die arbeitenden Klassen zu substituieren“ („Trotsky on Substitutionism“, International Socialism, Herbst 1960: neuaufgelegt in der IS-Schriftensammlung Party and Class [London, o. D.]). Insbesondere zitieren solche linken Sozialdemokraten, die behaupten, Trotzki habe vorausgesehen, daß Leninismus zum Stalinismus führen müsse, unweigerlich folgende Stelle:

„In der inneren Politik der Partei führen diese Methoden [Lenins], wie wir noch sehen werden, dazu, daß die Parteiorganisation die Partei selbst, das ZK die Parteiorganisation und schließlich ein Diktator das ZK ersetzt…“ („Unsere politische Aufgaben“, Leo Trotzki, Schriften zur revolutionären Organisation, Hamburg, 1970)

Umgekehrt haben die Stalinisten „Unsere politische Aufgaben“ dazu ausgeschlachtet zu argumentieren, daß Trotzkis Feindseligkeit gegenüber der Sowjetbürokratie nichts anderes sei als ein Ausdruck von unverbesserlichem Menschewismus.

Abgesehen von einem kräftigen Schuß subjektiver Feindlichkeit gegenüber Lenin, motiviert durch eine sentimentale Zuneigung zu den Pionieren des russischen Marxismus, beruht Trotzkis Polemik, wie die von Luxemburg, auf einer ultrakautskyanischen Konzeption der Parteifrage. Die Aufgaben der Partei sieht Trotzki darin, die gesamte Klasse in einem langen pädagogischen Prozeß zum sozialdemokratischen Bewußtsein zu bringen:

„Die eine [Methode] besteht in der Übernahme des Denkens für das Proletariat, in der politischen Substitution des Proletariats, die andere in der politischen Erziehung des Proletariats, seiner politischen Mobilisierung, für einen zweckgemäßen Druck auf den Willen aller politischen Gruppen und Parteien…

Die Partei stützt sich auf das gegebene Bewußtseinsniveau des Proletariats und schaltet sich in jedes große politische Ereignis mit dem Bemühen ein, die Entwicklungslinie zu den unmittelbaren Interessen des Proletariats hinzulenken und, noch wichtiger, mit dem Bemühen, dies mit einer Erhöhung des Bewußtseinsniveaus zu erreichen, um sich sodann auf dieses erhöhte Bewußtseinsniveau zu stützen und es erneut für jenes zweifache Ziel einzusetzen.“ (Hervorhebung im Original)

Trotzki wird hier stark von Axelrod beeinflußt, den er in dieser Polemik häufig zitiert und der zu dieser Zeit für einen nicht von der Partei einberufenen, inklusiven „Arbeiterkongreß“ eintrat. Dies hätte die schwache, gerade flügge gewordene SDAPR faktisch liquidiert.

Den revolutionären Kampf um die Macht so lange zu vertagen, bis die ganze Arbeiterklasse sozialistisches Bewußtsein erlangt hat, heißt, ihn „bis zu den griechischen Kaienden“ hinauszuschieben; unter dem Kapitalismus kann die Arbeiterklasse in ihrer überwiegenden Mehrheit den Einfluß der bürgerlichen Ideologie nicht völlig überwinden. Die revolutionäre Avantgardepartei muß die Masse der aktiven Arbeiter im Kampf führen, unter diesen Arbeitern wird es aber viele geben, deren sozialistische Überzeugung unvollständig, widersprüchlich und episodenhaft ist.

In seiner wichtigsten Polemik gegen die Menschewiki aus dieser Periode, „Ein Schritt vorwärts, zwei Schritte zurück“ (Mai 1904), antwortet Lenin auf die Position von Axelrod/ Trotzki kurz und bündig:

„Man darf doch wirklich die Partei als Vortrupp der Arbeiterklasse nicht mit der ganzen Klasse verwechseln. Und gerade eine solche Verwechslung (die für unseren opportunistischen Ökonomismus überhaupt kennzeichnend ist) unterläuft Gen. Axelrod…

Wir sind die Partei der Klasse, und deshalb muß fast die gesamte Klasse (und in Kriegszeiten, in der Epoche des Bürgerkriegs, restlos die gesamte Klasse) unter der Leitung unserer Partei handeln, sie muß sich unserer Partei so eng wie möglich anschließen, doch wäre es … ‚Nachtrabpolitik‘, wollte man glauben, daß irgendwann unter der Herrschaft des Kapitalismus fast die gesamte Klasse oder die gesamte Klasse imstande wäre, sich bis zu der Bewußtheit und der Aktivität zu erheben, auf der ihr Vortrupp, ihre sozialdemokratische Partei, steht.“ (Hervorhebung im Original)

Man sollte beachten, daß Lenins Formulierung über die Beziehungen zwischen Klasse und Partei hier noch nicht vollständig mit der kautskyanischen „Partei der Gesamtklasse“ bricht, da er offensichtlich nur eine einzige auf dem Proletariat basierende Partei voraussetzt.

Es ist kein Substitutionalismus für eine revolutionäre Partei, wenn sie — durch die Gewerkschaften, Fabrikkomitees, Sowjets usw. — Massen von Arbeitern führt, die keine bewußten Sozialisten sind. Darin besteht gerade die Aufgabe der revolutionären Avantgarde. Substitutionalismus ist, wenn die Avantgarde militärische Aktionen gegen die Bourgeoisie ohne die Unterstützung der außerhalb der Partei stehenden Massen durchführt. Substitutionalismus zeigt sich in Putschismus, Terrorismus/Guerillaismus, in „roter Gewerkschaftspolitik“ oder Versuchen einer Minderheit, eine Generalstreikaktion durchzuführen (wie die Märzaktion in Deutschland 1921). Obwohl die Menschewiki ihnen wiederholt Blanquismus vorwarfen, ließen sich Lenins Bolschewik! nicht auf solch abenteuerliche Aktivitäten ein. Am Vorabend des Ersten Weltkriegs waren die Bolschewiki zur Massenpartei des russischen Industrieproletariats geworden und hatten die schlecht organisierten, heterogenen Menschewiki weit überholt.

Auf jeden Fall müssen diejenigen, die die antileninistische Polemik des jungen Trotzki benutzen wollen, erklären, wie sich Trotzki später selbst von seiner menschewistischen und versöhnlerischen Position jener Jahre lossagte und diese kritisierte. In Mein Leben (1929) schrieb er über den Parteitag der SDAPR von 1903:

„Meine Trennung von Lenin erfolgte also gleichsam auf ‚moralischem‘, ja sogar auf persönlichem Gebiet. Doch schien es nur äußerlich so. Im Grunde hatte unser Auseinandergehen einen politischen Charakter, der nur auf organisatorischem Gebiet nach außen durchbrach. Ich zählte mich zu den Zentralisten. Aber es ist außer Zweifel, daß ich mir in jener Periode keine klare Rechenschaft darüber abzugeben vermochte, welch strenger und gebieterischer Zentralismus für eine revolutionäre Partei erforderlich sein würde, um eine Millionenmasse in den Kampf gegen die alte Gesellschaft zu führen.“

Eine Neuauflage von „Unsere politischen Aufgaben“ hat Trotzki nie autorisiert, und es wurde ausdrücklich nicht in die russische Ausgabe seiner Werke aufgenommen, die vor der stalinistischen Usurpation veröffentlicht wurden.

Hinter Luxemburgs antileninistischer Polemik

Rosa Luxemburgs „Organisationsfragen der russischen Sozialdemokratie“, erschienen in der theoretischen SPDZeitschrift Neue Zeit und in der menschewistischen Iskra, ist wohl die an sich bedeutendste antileninistische Polemik nach der Spaltung von 1903. Sie hält Distanz zu den unmittelbaren Streitfragen und persönlichen Anschuldigungen der Spaltung, und sie verzichtet auf oberflächliche Einheitstreiberei. Luxemburgs Differenzen mit Lenin bestehen sowohl auf der Ebene der Probleme, Aufgaben und Perspektiven der russischen Bewegung als auch auf der Ebene des organisatorischen Charakters der Sozialdemokratie im allgemeinen. Sowohl in bezug auf Rußland als auch allgemein drehen sich diese Differenzen um die Natur des Opportunismus und darum, wie man ihn bekämpft.

Die Differenzen über den sozialdemokratischen Opportunismus in Rußland kann man kurz wie folgt zusammenfassen: Vor der Revolution 1905 sah Lenin die opportunistische Hauptgefahr in der Anpassung an den zaristischen Absolutismus; Luxemburg sah sie in der Unterordnung des russischen Proletariats unter die von der Macht ausgeschlossene revolutionäre bürgerliche Demokratie. Für Lenin war ein sozialdemokratischer Opportunist ein Dilettant, der schnell bereit ist, mit der zaristischen Gesellschaft persönlich Frieden zu schließen, und vielleicht auch ein aufstrebender Gewerkschaftsfunktionär. Für Luxemburg war ein sozialdemokratischer Opportunist ein bürgerlich-radikaler Demagoge, der selbst nach Regierungsmacht strebte, eine russische Version des französischen Radikalen-Führers Georges Clemenceau, ein ehemaliger Blanquist.

Für Lenin von 1901 bis Ende 1904, und für die Iskra-Tendenz als ganze, drückte sich der Opportunismus in der russischen Sozialdemokratie hauptsächlich im Ökonomismus aus, einem Gemisch aus minimalistischer Gewerkschaftsagitation, passiver Anpassung an den liberalen Zarismus, organisatorischer Lokalborniertheit und individualistischer Funktionsweise. Luxemburg war genauso wie Lenin gegen reinen Trade-Unionismus, betrachtete aber offensichtlich den Ökonomismus nicht als ernstzunehmende opportunistische Strömung in Rußland, nicht als ernsthaften Konkurrenten um den Einfluß auf die Arbeiterklasse. Was das Zirkelwesen und den anarchistischen Individualismus betraf, die Lenin für seinen Hauptfeind auf der organisatorischen Ebene hielt, so betrachtete Luxemburg diese Eigenschaften anscheinend als allgemeine Unkosten, die bei dem damaligen Stadium der sozialdemokratischen Bewegung in Rußland unvermeidlich waren. Wenn das sozialistische Proletariat klein ist, so Luxemburg, ist eine lockere Bewegung von örtlich begrenzten Propagandazirkeln der normale und gewissermaßen gesunde organisatorische Ausdruck der Sozialdemokratie:

„Das Problem, an dem die russische Sozialdemokratie seit einigen Jahren arbeitet, ist eben der Übergang vom Typus der zersplitterten, ganz unabhängigen Zirkel- und Lokalorganisation, die der vorbereitenden [unsere Hervorhebung], vorwiegend propagandistischen Phase der Bewegung entsprach, zur Organisation, wie sie für eine einheitliche politische Aktion der Masse im ganzen Staate erforderlich ist. Da aber der hervorstechendste Zug der unleidlich gewordenen und politisch überholten alten Organisationsformen die Zersplitterung und die völlige Autonomie, die Selbstherrlichkeit der Lokalorganisationen war, so wurde naturgemäß die Losung der neuen Phase, des vorbereiteten großen Organisationswerkes: Zentralismus [Hervorhebung im Original]…

Schon aus der Untersuchung dieses eigentlichen Inhalts des sozialdemokratischen Zentralismus wird klar, daß für einen solchen heutzutage in Rußland die erforderlichen [unsere Hervorhebung] Bedingungen noch nicht in vollem Maße gegeben sein können. Es sind dies nämlich: das Vorhandensein einer beträchtlichen Schicht im politischen Kampfe bereits geschulter Proletarier und die Möglichkeit, ihrer Dispositionsfähigkeit durch direkte Ausübung des Einflusses (auf öffentlichen Parteitagen, in der Parteipresse usw.) Ausdruck zu geben.

Letztere Bedingung kann offenbar erst mit der politischen Freiheit in Rußland geschaffen werden, die erstere aber — die Heranbildung einer klassenbewußten, urteilsfähigen Vorhut des Proletariats — ist eben erst im Werden begriffen und muß als der leitende Zweck der nächsten agitatorischen wie auch organisatorischen Arbeit betrachtet werden.“ (Luxemburg, „Organisationsfragen der russischen Sozialdemokratie“ in Gesammelte Werke, Bd. 1/2)

Luxemburgs Glaube an den allmählichen Übergang von einer aus örtlichen Zirkeln bestehenden Bewegung zu einer zentralisierten, einheitlichen Partei war nicht nur dem Leninismus entgegengesetzt, sondern stellte sie auch logisch außerhalb und rechts von der gesamten Iskra-Tendenz vor der Spaltung.

Die oben ausgedrückte Ansicht stimmt nicht ganz mit Luxemburgs tatsächlicher organisatorischer Praxis im polnischen Teil des Russischen Reichs überein. Die Sozialdemokratie des Königreiches Polen und Litauen (SDKPiL) von Luxemburg/Jogiches war eine sehr kleine, aber hochzentralisierte Propagandaorganisation. Und anders als Lenins Bolschewiki beging Luxemburgs SDKPiL ernsthafte sektiererische und ultralinke Fehler (siehe „Lenin vs. Luxemburg on the National Question“ [Lenin kontra Luxemburg über die nationale Frage], Workers Vanguard Nr. 150, 25. März 1977).

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Die Erwähnung der SDKPiL erinnert daran, daß man die „Organisationsfragen der russischen Sozialdemokratie“ nicht einfach für bare Münze nehmen kann. Luxemburgs polnische Sozialdemokratie bewachte ihre organisatorische Autonomie genauso eifersüchtig wie der Bund, wenn auch aus ganz anderer Motivation heraus. Die SDKPiL schickte zwei Beobachter zum II. Parteitag der SDAPR, wo sie über eine breite Autonomie innerhalb einer allrussischen Partei verhandelten. Lenin trat für eine zentralisierte Partei aller Sozialdemokraten des Russischen Reichs ein und stellte damit, wenigstens im Prinzip, die hoch geschätzten organisatorischen Vorrechte von Luxemburgs SDKPiL in Frage.

Den russischen sozialdemokratischen Opportunismus suchte Luxemburg in genau entgegengesetzter Richtung wie Lenin. Luxemburg befürchtete, die russische sozialdemokratische Intelligenz würde eine radikal-bürgerliche Partei hervorbringen, die sozialistische Rhetorik benutzt, und so die Entwicklung politischen Klassenbewußtseins im russischen Proletariat unterdrücken. Mit dieser Prognose sah Luxemburg die wahrscheinlichste Quelle des Opportunismus (d. h. Anpassung an die Bourgeoisie) nicht im Menschewismus, sondern in Lenins Zentralismus. Daß Lenin auf der führenden Rolle der Sozialdemokratie im Kampf gegen den Absolutismus und auf der führenden Rolle der Berufsrevolutionäre in der Partei bestand, schien Luxemburg (und nicht nur ihr) typisch für eine bürgerlich-radikale Partei. Tatsächlich war es in menschewistischen Kreisen dieser Zeit üblich, den Leninisten vorzuwerfen, bürgerliche Radikale im sozialdemokratischen Gewand zu sein. Der führende Menschewik Potressow zum Beispiel verglich die Bolschewiki mit den Radikalen von Clemenceau. Luxemburg sah in Lenins „Jakobinertum“ den unbewußten Wunsch von bürgerlich-radikalen Intellektuellen, ihre Arbeiterbasis zu unterdrücken, nachdem sie den Zarismus gestürzt und die Macht ergriffen hätten. Sie trat für eine breite, lockere sozialdemokratische Bewegung ein, um radikal-bürgerliche Demagogen wie Clemenceau, den Ex-Blanquisten, im Zaum zu halten:

„Eben vom Standpunkt der Befürchtungen Lenins vor den gefährlichen Einflüssen der Intelligenz auf die proletarische Bewegung bildet seine eigene Organisationsauffassung die größte Gefahr für die russische Sozialdemokratie.

Tatsächlich liefert nichts eine noch junge Arbeiterbewegung den Herrschaftsgelüsten der Akademiker so leicht und so sicher aus wie die Einzwängung der Bewegung in den Panzer eines bürokratischen Zentralismus …

Vergessen wir nicht, daß die Revolution, an deren Vorabend wir in Rußland stehen, nicht eine proletarische, sondern eine bürgerliche Revolution ist, die die ganze Szenerie des sozialdemokratischen Kampfes stark verändern wird. Alsdann wird sich auch die russische Intelligenz recht bald mit stark ausgeprägtem bürgerlichem Klasseninhalt füllen. Ist heute die Sozialdemokratie die einzige Führerin der russischen Arbeitermasse, so wird am Morgen nach der Revolution das Bürgertum und in erster Reihe seine Intelligenz naturgemäß die Masse zum Piedestal seiner parlamentarischen Herrschaft formen wollen. Je weniger nun in der gegenwärtigen Kampfperiode die Selbstbetätigung, die freie Initiative, der politische Sinn der aufgewecktesten Schicht der Arbeiterschaft entfesselt, je mehr sie durch ein sozialdemokratisches Zentralkomitee politisch geleithammelt und gedrillt wird, um so leichter wird das Spiel der bürgerlichen Demagogen in dem renovierten Rußland sein …“ (ebenda, unsere Hervorhebung)

Eine zentrale Prämisse von Luxemburgs antileninistischer Polemik von 1904 war, daß der zaristische Absolutismus bald durch die bürgerliche Demokratie ersetzt werden würde („Vergessen wir nicht, daß die Revolution, an deren Vorabend wir in Rußland stehen, nicht eine proletarische, sondern eine bürgerliche Revolution ist“). Deshalb erwartete sie, daß radikale parlamentarische Demagogie der Hauptausdruck des sozialdemokratischen Opportunismus sein würde. Die Revolution von 1905 hat Luxemburgs Prognose widerlegt. Die Revolution zeigte, daß der bürgerliche Liberalismus völlig feige und impotent war. Sie zeigte auch, daß die Sozialdemokratie die einzige konsequent revolutionär-demokratische Kraft im Russischen Reich war.

Während der Revolution verdammte Luxemburg die Menschewiki dafür, daß sie hinter den konstitutionellen Monarchisten (den Kadetten) hinterherkrochen, und sie näherte sich den Bolschewiki an. In bezug auf die führende Rolle der proletarischen Partei in der antizaristischen Revolution stimmte die SDKPiL von Luxemburg/Jogiches mit Lenin überein und ging 1906 ein Bündnis mit den Bolschewiki ein; das Bündnis dauerte bis 1912 und gab Lenin die Führung der formal einheitlichen SDAPR. Auf dem V Parteitag der SDAPR 1907 verteidigte Luxemburg die Enge und Unnachgiebigkeit der Bolschewiki, wenn auch mit „weichen“ Vorbehalten:

„Ihr, Genossen des rechten Flügels, beklagt Euch sehr über die Enge, die Intoleranz, über eine gewisse Mechanistik in den Auffassungen der sogenannten Genossen Bolschewiki… Und wir sind mit Euch in dieser Hinsicht ganz einverstanden (Beifall.) …

Aber wißt Ihr, Genossen, woraus alle diese unangenehmen Züge entstehen? Für einen Menschen, dem die innerparteilichen Verhältnisse in anderen Ländern bekannt sind, sind dies sehr bekannte Züge: Es ist das typische geistige Antlitz jener Richtung des Sozialismus, die gegen eine andere, ebenfalls starke Richtung das Prinzip der selbständigen Klassenpolitik des Proletariats verteidigen muß. (Beifall.)

Unbeugsamkeit ist die Form, die die sozialdemokratische Taktik auf dem einen Pol unweigerlich annimmt, wenn sie sich auf dem anderen Pol in eine formlose Gallerte verwandelt, die unter dem Druck der Ereignisse in alle Richtungen auseinandergeht. (Beifall der Bolschewiki und eines Teils des Zentrums.)“ (Gesammelte Werke, Bd. 2)

Liberale und Sozialdemokraten haben alle Hinweise auf Luxemburgs enges Bündnis mit den Bolschewiki zwischen 1905 und 1912 und noch einmal zwischen dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs und ihrer Ermordung während des Spartakusaufstandes 1919 systematisch unterdrückt. Ihre Polemik von 1904 haben sie jedoch im Dienste des Antikommunismus voll ausgeschlachtet. So brachte die weitverbreitete Schriftenreihe „Ann Arbor Paperbacks for the Study of Communism and Marxism“ eine Neuauflage der „Organisationsfragen der russischen Sozialdemokratie“ heraus unter dem verleumderischen Titel Leninism or Marxism ? [Leninismus oder Marxismus?].

Nicht weniger schädlich sind die Bemühungen vieler linker Reformisten und Zentristen, die die leninistische demokratisch-zentralistische Avantgardepartei nur für rückständige Länder gültig erklären, während sie sich gleichzeitig in bezug auf die fortgeschrittenen kapitalistischen Länder mit der antibolschewistischen Polemik Luxemburgs von 1904 solidarisieren. Wir haben schon bemerkt, daß genau dies die Position des reformistischen Arbeitertümlers Tony Cliff war, bevor der „harte“ Leninismus in den 60er Jahren unter radikalen Jugendlichen in Mode kam.

Von einem offenen Revisionisten wie Cliff war zu erwarten, daß er sich mit Luxemburg gegen Lenin solidarisieren würde. Nicht zu erwarten war, daß eine vorgeblich orthodox trotzkistische (d. h. leninistische) Organisation in bezug auf die fortgeschrittenen Länder die „luxemburgistische“ Linie annehmen würde. Genau das tut aber die französische Organisation Communiste Internationaliste (OCI). In der Einleitung zu einer populären französischen Ausgabe von Was tun? tut OCI-Führer Jean-Jacques Marie Lenins Eintreten für eine demokratisch-zentralistische Avantgarde damit ab, es handle sich um eine Eigentümlichkeit Rußlands Anfang des 20. Jahrhunderts. Und er behauptet, Luxemburgs Position von 1904 sei zweckmäßig für ein fortgeschrittenes Land mit einer hochentwickelten Arbeiterbewegung:

„Die zentralistische Starrheit von Was tun? ist mit den besonderen Merkmalen des russischen Proletariats verbunden, d.h. eines im Entstehen begriffenen Proletariats, das erst kürzlich das flache Land verlassen hatte, durchdrungen von Charakterzügen des Mittelalters, ohne Bildung, niedergedrückt durch Lebensbedingungen wie die des französischen oder englischen Proletariats Anfang des 19. Jahrhunderts…

Die Rolle der revolutionären Intelligenz als Faktor der Organisation und des Bewußtseins, wie sie von Lenin beschrieben wurde, entspricht daher der relativen Rückständigkeit eines Proletariats, dem alle Formen gewerkschaftlicher oder politischer Organisation gesetzlich vorenthalten wurden.

Der Konflikt zwischen Lenin und Luxemburg erscheint daher — wenn man ihre persönlichen Eigenschaften beiseite läßt — als Ausdruck des enormen Unterschieds, das ein Proletariat, das unter den ungebildetsten Europas war, vom deutschen Proletariat trennte, damals das mächtigste und politisch energischste und reifste der Welt…

Wenn der Kampf um die sozialistische Revolution seinem Wesen nach international ist, so hängen doch seine unmittelbaren Formen wie auch die Methoden, ihn zu führen, von zahlreichen Faktoren ab, darunter die nationalen Bedingungen, unter denen jede Partei ihre Reife erreicht.“ (Einleitung zu Que faire?, Paris 1966)

Der Standpunkt, den J.-J. Marie hier Luxemburg zuschreibt, ist derart diametral entgegengesetzt zu ihrer tatsächlichen Position, daß es einem schwer fällt zu glauben, daß er „Organisationsfragen der russischen Sozialdemokratie“ jemals gelesen hat. Wie wir gesehen haben, basierte Luxemburgs Opposition zum leninistischen Zentralismus für Rußland gerade auf der t/nrerentwicklung der proletarischen Bewegung. 1904 war Luxemburg für Zentralisierung und Disziplin in der deutschen Partei, gerade weil die revisionistische Rechte formell eine Minderheit war. Und das wird in „Organisationsfragen der russischen Sozialdemokratie“ ausdrücklich gesagt:

„Es kommt nur darauf an, daß [die Sozialdemokratie] die Gegenwartsschmerzen dieser bunten Schar von Mitläufern nachhaltig den Endzielen der Arbeiterklasse zu unterordnen, den nichtproletarischen Oppositionsgeist der revolutionären proletarischen Aktion einzugliedern … versteht. Letzteres ist aber nur möglich, wo, wie bis jetzt in Deutschland, bereits kräftige, geschulte proletarische Kerntruppen in der Sozialdemokratie den Ton angeben und klar genug sind, die deklassierten und kleinbürgerlichen Mitläufer ins revolutionäre Schlepptau zu nehmen. In diesem Falle ist auch eine strengere Durchführung des zentralisüschen Gedankens im Organisationsstatut und die straffere Paragraphierung der Parteidisziplin als ein Damm gegen die opportunistische Strömung sehr zweckmäßig. Das Organisationsstatut kann unter diesen Umständen zweifellos als eine Handhabe im Kampfe mit dem Opportunismus dienen, wie es der französischen revolutionären Sozialdemokratie tatsächlich gegen den Ansturm des jauresistischen Mischmasches gedient hat und wie auch eine Revision des deutschen Parteistatuts in diesem Sinne jetzt eine Notwendigkeit geworden ist.“ {Gesammelte Werke, Bd. 1/2, unsere Hervorhebung)

Luxemburgs Drängen auf größere Zentralisierung in der SPD war auf dem von den Radikalen dominierten Jenaer Kongreß (1905) erfolgreich, wo eine wirklich zentralistische Organisationsstruktur beschlossen wurde. Zum ersten Mal mußten sich die Funktionäre der Grundeinheiten der Partei vor dem Parteivorstand verantworten. Später wurde natürlich dieser berühmte zentralisierte Apparat der SPD eingesetzt, um die von Rosa Luxemburg geführte revolutionäre Linke zu unterdrücken.

Der Kern der Differenzen zwischen Luxemburg und Lenin 1904 wie auch später war nicht der Grad der Zentralisierung, sondern der Charakter des Opportunismus und wie man ihn bekämpfen könnte. Die Zentralismus- und Disziplinsfrage erhält erst in diesem Zusammenhang ihre Bedeutung.

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Luxemburgs antileninistische Polemik 1904 wurde stark bedingt durch ihre Frustration über ihren Scheinsieg über den bernsteinschen Revisionismus. Der Revisionismus wurde von der SPD formell verworfen, die Opportunisten änderten ihre Taktik, und die politische Tätigkeit der Partei lief im wesentlichen unverändert weiter, im Geiste der passiven Erwartung. Kurz nachdem Luxemburg „Organisationsfragen der russischen Sozialdemokratie“ schrieb, beschrieb sie in einem Brief an die niederländische linke Sozialistin Henriette Roland-Holst (1. Dezember 1904) ihre Desillusionierung über interne Fraktionskämpfe im allgemeinen:

„Der Opportunismus ist überhaupt eine Sumpfpflanze, die sich in stehendem Wasser der Bewegung rasch und üppig entwickelt; bei forschem starkem Strom verkümmert sie von selbst. Hier in Deutschland ist ein Vorwärtskommen direkt ein dringendes, brennendes Bedürfnis! Und das empfinden die wenigsten. Die einen verzetteln sich im kleinen Geplänkel mit den Opportunisten, die andern glauben, daß das automatische, mechanische Anwachsen an Zahl (bei den Wahlen und in den Organisationen) schon an sich vorwärts kommen heißt!“ (zitiert in Henriette Roland-Holst van der Schalk, Rosa Luxemburg. Ihr Leben und Wirken, Zürich 1937)

Luxemburgs Überzeugung, daß ein Aufschwung militanter Klassenkämpfe die opportunistischen Kräfte in der SPD auf natürlichem Weg vertreiben würde, erwies sich als grundfalsch. 1905 und wieder 1910 wurde die aufsteigende Massenagitation gegen das Dreiklassenwahlrecht auf Initiative der Gewerkschaftsbürokratie effektiv unterdrückt. 1910 weigerte sich sogar Die Neue Zeit — Kautsky war Chefredakteur —, Luxemburgs Artikel zu veröffentlichen, in dem sie für einen Generalstreik eintrat.

Am Schluß der „Organisationsfragen“ entwickelt Luxemburg eine Theorie über die Unvermeidlichkeit des Opportunismus und sogar über opportunistische Phasen in einer sozialdemokratischen Partei. Versuche, die Partei durch interne organisatorische Maßnahmen vor dem Opportunismus zu bewahren, würden, behauptet sie, die Partei schließlich in eine Sekte verwandeln. Hierin liegt Luxemburgs grundlegende Differenz zu Lenin im Jahre 1904 und danach:

„Die Vereinigung der großen Volksmasse mit einem über die ganze bestehende Ordnung hinausgehenden Ziele, des alltäglichen Kampfes mit der revolutionären Umwälzung, das ist der dialektische Widerspruch der sozialdemokratischen Bewegung, die sich auch folgerichtig auf dem ganzen Entwicklungsgang zwischen den beiden Klippen: zwischen dem Preisgeben des Massencharakters und dem Aufgeben des Endziels, zwischen dem Rückfall in die Sekte und dem Umfall in die bürgerliche Reformbewegung, vorwärtsarbeiten muß. Es ist deshalb eine ganz unhistorische Illusion, zu denken, die sozialdemokratische Taktik im revolutionären Sinne könne im voraus ein für allemal sichergestellt, die Arbeiterbewegung könne vor opportunistischen Seitensprüngen ein für allemal bewahrt werden. Zwar liefert die Marxsche Lehre vernichtende Waffen gegen alle Grundtypen des opportunistischen Gedankens. Da aber die sozialdemokratische Bewegung eben eine Massenbewegung und die ihr drohenden Klippen nicht aus den menschlichen Köpfen, sondern aus den gesellschaftlichen Bedingungen entspringen, so können die opportunistischen Verirrungen nicht von vornherein verhütet werden, sie müssen erst, nachdem sie in der Praxis greifbare Gestalt angenommen haben, durch die Bewegung selbst — allerdings mit Hilfe der vom Marxismus gelieferten Waffen — überwunden werden. Unter diesem Gesichtswinkel betrachtet, erscheint der Opportunismus auch als ein Produkt der Arbeiterbewegung selbst, als ein unvermeidliches Moment ihrer geschichtlichen Entwicklung.“ (Gesammelte Werke, Bd. 1/2)

Weil halbsyndikalistische und ultralinke kommunistische Elemente (z. B. „Rätekommunisten“) versucht haben, Rosa Luxemburg für sich zu beanspruchen, wird oft übersehen, daß ihre Polemik gegen Lenin über die Organisationsfrage in orthodoxen sozialdemokratischen Konzeptionen wurzelte. Die oben zitierte Passage ist ultrakautskyanisch in der Identifizierung der sozialdemokratischen Partei mit der gesamten Arbeiterbewegung. Von Kautskys Standpunkt der „Partei der Gesamtklasse“ aus ist ihre Logik unanfechtbar. Nicht nur gibt es einen opportunistischen Flügel in einer sozialdemokratischen Partei, sondern es kommen zwangsläufig auch Perioden, in denen sich der Einfluß dieses Flügels ausbreitet.

Ihr deutscher Aussichtspunkt ermöglichte es Luxemburg zu begreifen, daß die Gründung einer leninistischen Partei notwendigerweise einen Bruch bedeuten würde mit bedeutenden Tendenzen in der Arbeiterklasse unter Führung und Einfluß der Opportunisten. Diese antisozialdemokratische Schlußfolgerung war für Lenin wegen des unorganisierten Zustands der russischen Partei nicht klar ersichtlich. Im Gegensatz zu Luxemburg wurde Lenin nicht mit opportunistischen sozialdemokratischen Tendenzen konfrontiert, die über eine Massenbasis verfügten. Er hielt die Menschewiki für eine intellektualistische Tendenz, die unfähig war, eine proletarische Massenbewegung aufzubauen.

Kautsky/Bebel greifen ein, um die Einheit wiederherzustellen

Obwohl Luxemburgs antileninistische Polemik von 1904 heute viel bekannter ist, hatte es damals größere Bedeutung, daß die zentrale SPD-Führung, Kautsky und Bebel, aktiv für Einheit intervenierten. Es ist wichtig, die Intervention von Kautsky/Bebel anzusehen, wenn man überlegt, daß Lenin gegen die Opposition der führenden Denker der Zweiten Internationale eine programmatisch homogene revolutionäre Partei in Rußland aufbaute.

Anfang 1904 schrieb ein Mitarbeiter Lenins, Lidin-Mandelstam, einen Artikel über die Spaltung zur Veröffentlichung in Kautskys Neue Zeit. Kautsky weigerte sich, ihn zu veröffentlichen, und sein Antwortbrief an Lidin (Mitte Mai 1904) ist seine erste schriftliche Stellungnahme zu der Spaltung. Er hielt die Spaltung für völlig ungerechtfertigt und zutiefst unverantwortlich. Er war auch scharfsinnig genug zu sehen, daß es Lenins Unnachgiebigkeit in der Organisationsfrage war, die die Spaltung auslöste.

„Eine große Verantwortung ruht auf der russischen Sozialdemokratie. Kann sie sich nicht einigen, dann wird sie vor der Geschichte und dem internationalen Proletariat als eine Gruppe von Politikern dastehen, die eine kostbare, nie wiederkehrende Gelegenheit, den russischen Absolutismus zu treffen, über persönlichen und organisatorischen Schwierigkeiten versäumt hat… Lenin aber würde die Verantwortung treffen, diesen unheilvollen Zwist begonnen zu haben.“ (zitiert in Dietrich Geyer, „Die russische Parteispaltung im Urteil der deutschen Sozialdemokratie 1903-1905“, International Review of Social History, 1958)

Was die substantielle Organisationsfrage betraf, die zur Spaltung führte, sah Kautsky „weder einen prinzipiellen Gegensatz zwischen proletarischen und intellektuellen Bedürfnissen, noch zwischen Demokratie und Diktatur, sondern einfach eine Zweckmäßigkeitsfrage …“ (ebenda)

Kautsky schickte der Führung der Menschewiki eine Kopie seines Antwortbriefs an Lidin, die sie mit Recht als Unterstützung für ihre Seite betrachtete. Mit der Genehmigung des Verfassers erschien die Antwort in der neuen Iskra. In einem Brief an Axelrod (4. Juni 1904) vertiefte Kautsky seine promenschewistische Haltung soweit, ihnen sogar Ratschläge zu geben, wie man Lenin am besten besiegen könne:

„Aber zum großen Teil scheinen die Differenzen zwischen Euch und der anderen Seite auf Mißverständnissen zu beruhen. Nicht zwischen Euch und Lenin, das halte ich für ausgeschlossen, aber zwischen Euch und den Anhängern Lenins in Rußland. Ich habe wenigstens Gelegenheit gehabt, mit verschiedenen Anhängern Lenins, die aus Rußland kommen, zu sprechen und keine Anschauungen bei ihnen gefunden, die ein Zusammenarbeiten … unmöglich machten. Ihre Voreingenommenheit gegen Euch scheint vielfach nur auf falschen Informationen zu beruhen. Ist das so, dann müßte doch eine Einigung mit ihnen möglich sein, über Lenins Kopf hinweg, wenn man diese Elemente klug behandelt, ihnen entgegenkommt, sie nicht abstößt…“ (ebenda)

Und die Menschewiki versuchten tatsächlich, mit einigem Erfolg, die eher versöhnlerisch eingestellten Bolschewiki zu gewinnen.

Als weiteres, öffentlicheres Indiz für Kautskys antileninistische Haltung erschien Luxemburgs „Organisationsfragen der russischen Sozialdemokratie“ in der Neuen Zeit, ohne daß die Zeitschrift sich irgendwie von den darin ausgedrückten Ansichten distanzierte. Als Lenin eine Antwort schrieb, weigerte sich Kautsky, sie zu veröffentlichen, mit der Begründung, die Neue Zeit sei nicht die richtige Arena, die SDAPR-Spaltung auszukämpfen. In einem Brief an Lenin (27. Oktober 1904) rechtfertigte er die Veröffentlichung von Luxemburgs Artikel mit der Behauptung:

„Den Artikel der Rosa Luxemburg brachte ich nicht deswegen, weil er die russischen Streitigkeiten behandelte, sondern trotzdem. Ich brachte ihn, weil er die Organisationsfrage theoretisch behandelt und uns in Deutschland diese Frage auch beschäftigt. Die russischen Streitigkeiten werden darin nur gestreift in einer Weise, die den unkundigen Leser nicht auf sie aufmerksam macht.“ (ebenda, Hervorhebung im Original)

Kautskys letzte Behauptung ist unaufrichtig.

Kautsky riet Lenin, seine Antwort theoretischer zu verfassen, falls er sie im deutschen Organ gedruckt sehen wollte. Soweit wir wissen, hat Lenin nicht darauf geantwortet. Man kann annehmen, daß Lenin gerade die Einzelheiten der SDAPR-Spaltung als entscheidend betrachtete und sich nicht auf eine abstrakte Diskussion über Organisationsprinzipien einlassen wollte.

Im Oktober 1904 schlug August Bebel, der verehrte Vorsitzende der SPD, der Führung der Menschewiki die Einberufung einer Einheitskonferenz aller Gruppen vor, die am II. Parteitag der SDAPR teilgenommen hatten. Kurz danach drängte die deutsche Führung auf eine viel breitere Konferenz unter Einbeziehung auch der kleinbürgerlichen populistischen Sozialrevolutionäre und der auf nationale Befreiung orientierten Polnischen Sozialistischen Partei. Die Führung der deutschen Sozialdemokratie befürwortete also 1904 einen Block, wenn nicht eine Partei, aller Oppositionskräfte im Zarenreich links von den bürgerlichen Liberalen. Die Menschewiki lehnten eine derart breite Einheit als opportunistisch ab. Dies war ein frühes Indiz dafür, daß die Anhänger Martows nicht rechts von der SPD-Zentralführung standen.

Kautsky glaubte, die Menschewiki seien genauso eifrig für die Wiederherstellung der Einheit wie er selber. Aber das Eintreten der Menschewiki für die Einheit war zum Teil eine Pose für den ausländischen Konsum. Obwohl theoretisch einer breiten, umfassenden Partei verpflichtet, wollte die Führung der Menschewiki nicht in der gleichen Organisation wie Lenins „Harte“ sein. Als Antwort auf Bebeis Vorschlag stimmten sie der Einberufung einer „Einheits“-konferenz zu, zu der der Bund, Luxemburgs und Jogiches‘ SDKPiL und einige kleinere sozialdemokratische Gruppen eingeladen werden sollten. Aber sie weigerten sich, die Leninisten einzuladen! Inzwischen hatte Lenin formal die Führung der SDAPR verloren und das Büro der Komitees der Mehrheit gegründet.

Kautsky kritisierte jetzt die Führer der Menschewiki als unverantwortliche Spalter. In einem Brief an Axelrod (10. Januar 1905) schrieb er:

„Daß Ihr Lenin nicht zuzieht, begreife ich nicht. Aus formellen Gründen mag das gerechtfertigt sein, aber so formell darf man die Sache doch nicht auffassen. Vom politischen Standpunkt scheint mir der Ausschluß [Lenins] von der Einladung ein Fehler. Mag er formell keine besondere Organisation repräsentieren, er hat einen starken Anhang und Eure Aufgabe ist es, entweder ihn samt seinem Anhang zu gewinnen oder den Anhang von ihm loszulösen, ihn zu isolieren… In der jetzigen Situation, die eine Zusammenfassung aller revolutionären Kräfte erfordert, wäre es meines Erachtens Eure Aufgabe, in der Versöhnlichkeit bis an die äußerste Grenze zu gehen. Erweist sich dann eine Einigung [als] unmöglich, dann hat sich Lenin in‘s Unrecht gesetzt, dann könnt ihr mit ganz anderer Kraft und ganz anderem Erfolg gegen ihn vorgehen als jetzt, wo Euer Conflict fast nur als ein reiner Competenzstreit erscheint…“ (ebenda, Hervorhebung im Original)

Nach dem Massaker am Blutsonntag im Januar 1905 versuchte die SPD-Führung noch einmal die russische sozialdemokratische Bewegung zu vereinigen. Bebel bot öffentlich an, die Differenzen zu schlichten. Bebeis Angebot schloß mit einer paternalistischen Schelte an die Adresse der russischen Sozialdemokratie:

„Die Nachrichten über diese Spaltung haben große Konfusion und merkbare Unzufriedenheit in der internationalen Sozialdemokratie erregt, und alle erwarten, daß nach einer freien Diskussion beide Seiten eine gemeinsame Basis für den Kampf gegen den gemeinsamen Feind finden.“ (zitiert in Olga Hess Gankin und H. H. Fisher, The Bolsheviks and the World War, 1940) Die Menschewiki, die wußten, daß Bebel ihnen politisch nahestand, nahmen seinen Vorschlag bereitwillig an. Lenin lehnte den Einheitsvorschlag faktisch ab. In seiner Antwort an den deutschen Parteivorsitzenden (7. Februar 1905) erklärte er, daß er nicht befugt sei, das Schlichtungsangebot anzunehmen, worüber nur ein neuer Parteitag zu entscheiden habe. Er fügte dann hinzu, angesichts Kautskys einseitigen Eingreifens „wird es mich nicht überraschen, wenn ein Eingreifen durch Vertreter der deutschen Sozialdemokratie bei unseren Anhängern auf Schwierigkeiten stößt“ (ebenda).

Der III., rein bolschewistische Parteitag im April nahm keine Stellung zu Bebeis Vorschlag, was auf eine Ablehnung hinauslief. Das Selbstbewußtsein der Bolschewiki und ihre Abneigung, Vormundschaft durch die Deutschen zu akzeptieren, spricht klar aus einer Rede des Delegierten Barsow über Bebeis Angebot:

„… unsere deutschen Genossen stellen eine Macht dar, sie sind gereift durch einen unerbittlich kritischen internen Kampf gegen alle Formen des Opportunismus auf Parteitagen und anderen Treffen — und auch wir müssen auf eben diese Weise reifen, um unsere große Rolle zu spielen, indem wir unabhängig unsere eigene Organisation zu einer Partei schmieden, nicht bloß ideologisch, sondern in Wirklichkeit… Wir müssen die aktiven Führer der gesamten proletarischen Klasse Rußlands werden, indem wir uns sogleich vereinen und organisieren für den Kampf gegen die Selbstherrschaft und für die glorreiche Zukunft der Herrschaft des Sozialismus.“ (ebenda)


Lenin

Die Revolution von 1905

Rußlands Niederlagen im Krieg mit Japan 1904 lösten eine Welle liberal-bürgerlicher Opposition gegen die zaristische Selbstherrschaft aus. Diese bedeutende Veränderung in der politischen Szene Rußlands vertiefte die Differenzen zwischen Menschewismus und Bolschewismus. Da die Menschewiki den Liberalen die führende Rolle in der kommenden antizaristischen Revolution zuschrieben, wollten sie durch eine Milderung ihrer Kritik die liberale Opposition ermutigen. Diese versöhnliche Einstellung gegenüber den Liberalen markierte einen weiteren Rückschritt auf demselben Weg, den die Ökonomisten gegangen waren; damit beschränkten sie die sozialdemokratische Partei darauf, die sektoralen Interessen des russischen Proletariats zu verteidigen.

Lenin griff dieses Versöhnlertum gegenüber den Liberalen in seinem Artikel „Die Semstwokampagne und der Plan der Jskra“ vom November 1904 scharf an und eröffnete damit eine neue, verschärfte Phase im Konflikt zwischen Bolschewiki und Menschewiki. (Die Semstwos waren lokale Regierungsgremien, durch die die Liberalen den Zarismus reformieren wollten.) Der Kern von Lenins Polemik ist:

„Die bürgerliche Demokratie ist ihrer Natur nach nicht imstande, diesen Forderungen nachzukommen, sie ist daher ihrer Natur nach zu Unentschlossenheit und Halbschlächtigkeit verurteilt. Die Sozialdemokraten stoßen durch ihre Kritik dieser Halbschlächtigkeit die Liberalen ständig vorwärts, ziehen immer mehr Proletarier und Halbproletarier, zum Teil auch Kleinbürger, von der liberalen Demokratie auf die Seite der proletarischen Demokratie herüber…

Die bürgerliche Opposition ist ja deshalb nur eine bürgerliche und nur eine Opposition, weil sie nicht selber kämpft und kein eigenes Programm hat, das sie vorbehaltlos verficht, weil sie zwischen den beiden kämpfenden Lagern (der Regierung und dem revolutionären Proletariat mit seinem wenig zahlreichen intellektuellen Anhang) steht und das Ergebnis des Kampfes auf ihr Konto verbucht.“

Diese Differenz über die Rolle der liberalen Bourgeoisie in der antizaristischen Revolution war die Hauptfrage auf den konkurrierenden Versammlungen der Menschewiki und der Bolschewiki im April 1905. Aus der Prämisse der Menschewiki, die liberale bürgerliche Partei müsse mit dem Sturz des Absolutismus an die Macht kommen, folgte ihre Position, daß die sozialdemokratische Partei, egal wie stark sie sei, die zaristische Regierung militärisch nicht stürzen solle. Diese Politik der passiven Erwartung und des Nachtrabens hinter den Liberalen wurde in Form einer Resolution auf der April-Konferenz der Menschewiki angenommen:

„Unter diesen Umständen muß die Sozialdemokratie danach streben, während des ganzen Verlaufs der Revolution eine solche Stellung zu behaupten, die ihr am besten die Möglichkeit sichert, die Revolution vorwärtszutreiben, ihr im Kampfe gegen die inkonsequente und eigennützige Politik der bürgerlichen Parteien nicht die Hände bindet und sie davor bewahrt, in der bürgerlichen Demokratie aufzugehen.

Deshalb darf sich die Sozialdemokratie nicht das Ziel setzen, durch Bildung einer provisorischen Regierung die Macht zu ergreifen oder die Macht in einer solchen zu teilen, sie muß vielmehr die Partei der äußersten revolutionären Opposition bleiben.“ (Zitiert in „Zwei Taktiken der Sozialdemokratie in der demokratischen Revolution“)

Dieser Konzeption der Menschewiki stellte Lenin „die revolutionär-demokratische Diktatur des Proletariats und der Bauernschaft“ entgegen, eine Konzeption, auf die er am ausführlichsten in seiner Broschüre „Zwei Taktiken der Sozialdemokratie in der demokratischen Revolution“ vom Juli 1905 eingeht. Lenin ging davon aus, daß die russische Bourgeoisie unfähig war, die historischen Aufgaben der bürgerlich-demokratischen Revolution durchzuführen. Er war aber davon überzeugt, daß aus einer auf die Bauernschaft gestützten radikalen populistischen Bewegung eine revolutionär-demokratische Massenpartei entstehen könne und werde. (Bezeichnenderweise hielt Lenin die Sozialrevolutionäre nicht für eine solche Partei. Er betrachtete sie als eine „Intellektuellengruppe“, die noch am Terrorismus hing.) Das Bündnis zwischen der bäuerlichen revolutionär-demokratischen und der proletarischen sozialdemokratischen Partei, einschließlich der Koalition in einer „provisorischen revolutionären Regierung“, würde den Absolutismus stürzen und ein radikal-demokratisches Programm durchführen — das „Minimalprogramm der Russischen Sozialdemokratischen Arbeiterpartei (SDAPR). Der operative Kern von Lenins Strategie wurde auf dem rein bolschewistischen III. Parteitag der SDAPR angenommen:

„…je nach dem Kräfteverhältnis und den anderen Faktoren, die im voraus nicht genau bestimmt werden können, ist die Teilnahme von Bevollmächtigten unserer Partei an der provisorischen revolutionären Regierung zu dem Zweck zulässig, alle konterrevolutionären Anschläge schonungslos zu bekämpfen und die selbständigen Interessen der Arbeiterklasse zu wahren …“ (zitiert in „Zwei Taktiken…“)

Blutsonntag, 9. Januar 1905: Arbeiter marschieren zum Winterpalais, um Zar Nikolaus II. eine Petition zu übergeben. Ohne Warnung schießt die Garde in die Menge, tötet 300 und verwundet 3000 Dietz Verlag

Blutsonntag, 9. Januar 1905: Arbeiter marschieren zum Winterpalais, um Zar Nikolaus II. eine Petition zu übergeben. Ohne Warnung schießt die Garde in die Menge, tötet 300 und verwundet 3000

Als Lenin seine Konzeption der „revolutionär-demokratischen Diktatur“ entwickelte, ging es ihm in erster Linie um die Motivierung einer militärisch und politisch aktiven Rolle der russischen Sozialdemokratie in der Revolution. Über das künftige Schicksal der „revolutionär-demokratischen Diktatur“ äußerte sich Lenin absichtlich vage; es ist klar, daß er sie nicht für eine stabile Form der Klassenherrschaft hielt. In „Zwei Taktiken…“ bekräftigt er:

„Die revolutionär-demokratische Diktatur des Proletariats und der Bauernschaft ist zweifellos nur eine vorübergehende, zeitweilige Aufgabe der Sozialisten, aber es ist geradezu reaktionär, diese Aufgabe in der Epoche der demokratischen Revolution zu ignorieren.“

Die künftige Entwicklung der russischen Gesellschaft ab der „revolutionär-demokratischen Diktatur“ würde vom Kräfteverhältnis der Klassen nicht nur in Rußland, sondern in ganz Europa bestimmt werden. Lenins Formulierung ist daher eine algebraische Konzeption. Träfe der revolutionärste Fall ein, würde sie in Richtung von Trotzkis „permanenter Revolution“ tendieren: eine radikal-demokratische Revolution in Rußland ist der Funke für die proletarische Revolution in Europa, was unmittelbar die sozialistische Revolution in Rußland ermöglicht. Bei einem Sieg der Reaktion wird die „revolutionär-demokratische Diktatur“ zu einer revolutionären Episode, etwas Ähnliches wie die Diktatur der Jakobiner 1793 oder die Pariser Kommune 1871, und ermöglicht die Stabilisierung einer normalen bürgerlich-demokratischen Herrschaft.

Anfang 1905 war die Frage der politischen Dynamik der Revolution zum Hauptstreitpunkt zwischen Bolschewismus und Menschewismus geworden anstelle der engen Organisationsfrage. Die Kritik an den Menschewiki, die auf dem Parteitag der Bolschewiki im April 1905 angenommen wurde, erwähnte tatsächlich noch nicht einmal die Frage, die die ursprüngliche Spaltung ausgelöst hatte. Statt dessen verurteilte sie die Menschewiki wegen ihres Ökonomismus und ihrer Nachtrabpolitik gegenüber den Liberalen:

„… die allgemeine Tendenz […], die Bedeutung der Elemente der Bewußtheit im proletarischen Kampf herabzusetzen und sie den Elementen der Spontaneität unterzuordnen… In taktischen Fragen zeigen sie [die Menschewiki] das Bestreben das Ausmaß der Parteiarbeit einzuengen, indem sie sich dagegen aussprechen, daß die Taktik der Partei gegenüber den bürgerlich-liberalen Parteien völlig unabhängig ist, daß die Übernahme der organisierenden Rolle im Volksaufstand durch unsere Partei möglich und wünschenswert ist und daß unsere Partei unter bestimmten Bedingungen an einer provisorischen demokratisch-revolutionären Regierung teilnimmt.“ (Zitiert in „Zwei Taktiken…“)

Bekanntlich trabten nicht alle führenden Menschewiki von 1903 im Jahre 1905 den Liberalen nach. Im Laufe des Jahres 1904 entwickelte der junge Trotzki in bezug auf Rußland die Theorie der „permanenten Revolution“. Aufgrund der ungleichmäßigen Entwicklung Rußlands würde sich keine revolutionäre bürgerlich-demokratische Kraft entwickeln, die den Absolutismus stürzen würde, auch keine bäuerliche radikale populistische Partei. Die proletarische Partei wäre bei der Durchführung der antiabsolutistischen Revolution gezwungen, die Staatsmacht zu ergreifen und auch die ersten Ansätze der Vergesellschaftung durchzuführen. Wenn die russische proletarische Revolution sich nicht auf das fortgeschrittene kapitalistische Europa ausweitete, würde der rückständige Arbeiterstaat zwangsläufig durch die imperialistische Reaktion gestürzt. Mit der Position der „permanenten Revolution“ stand Trotzki in der Frage der revolutionären Strategie links von den Leninisten, aber er blieb, abgesehen von einem historischen Augenblick 1905, eine isolierte Figur in der russischen Vorkriegssozialdemokratie.

Revolution und Massenrekrutierung

Die Differenzen mit den Menschewiki über den Charakter der russischen Revolution schwächten die Versöhnler unter den Bolschewiki, die für eine Wiedervereinigung der SDAPR waren, ließen sie aber nicht völlig verschwinden. Doch der revolutionäre Aufschwung rief neue Trennlinien im bolschewistischen Lager hervor, und diesmal bezog Lenin eine für ihn ungewohnte Position in der Organisationsfrage. Im Zuge der Massenradikalisierung, besonders nach dem Blutsonntag am 9. Januar 1905, waren Zehntausende militanter junger Arbeiter bereit, in eine revolutionäre sozialistische Partei einzutreten, sich den Bolschewiki anzuschließen. Viele bolschewistische „Komiteeleute“ (die Kader, die unter den schwierigen Bedingungen der Klandestinität gefestigte sozialdemokratische Zellen aufgebaut hatten) sträubten sich jedoch gegen eine radikale Änderung des Charakters und der Funktionsweise ihrer Organisation, weil sie an das kleine Untergrundnetz gewöhnt waren. Sie waren gegen eine Politik der Massenrekrutierung und bestanden darauf, an einer längeren Periode der Anleitung als Vorbedingung für die Mitgliedschaft festzuhalten.

Lenin bekämpfte unnachgiebig diesen Apparatkonservatismus und wollte die Bolschewiki von einer agitatorischen Organisation in eine proletarische Massenpartei verwandeln. Schon im Februar 1905 drückte Lenin in dem Artikel „Neue Aufgaben und neue Kräfte“ seine Sorge darüber aus, daß die Radikalisierung der Massen bei weitem das Wachstum der bolschewistischen Organisation übertreffe:

„Man muß den Bestand aller Parteiorganisationen und aller der Partei nahestehenden Organisationen stark erweitern, um mit dem hundertfach stärker gewordenen Strom der revolutionären Energie des Volkes auch nur einigermaßen Schritt halten zu können. Das bedeutet selbstverständlich nicht, daß man die ständige Ausbildung und systematische Unterweisung in den Erkenntnissen des Marxismus zurücktreten lassen soll. Gewiß nicht; man darf aber nicht vergessen, daß jetzt von viel größerer Bedeutung für die Ausbildung und Unterweisung die Kampfhandlungen selbst sind, die die Unausgebildeten eben in unserem, ganz in unserem Sinne unterrichten. Man darf nicht vergessen, daß unsere ‚doktrinäre‘ Treue zum Marxismus jetzt dadurch bekräftigt wird, daß der Gang der revolutionären Ereignisse überall der Masse Anschauungsunterricht erteilt und daß alle diese Unterrichtsstunden gerade unser Dogma bestätigen…

Notwendig ist es, kühner, schneller und in breiterem Umfang junge Kämpfer für alle, auch für die letzten unserer Organisationen zu werben. Zu diesem Zweck ist es notwendig, ohne eine Minute zu verlieren, Hunderte neuer Organisationen zu gründen. Jawohl, Hunderte, das ist keine Übertreibung, und erwidert mir nicht, es sei jetzt ‚zu spät‘, sich mit einer solch umfangreichen Organisationsarbeit zu befassen. Nein, es ist niemals zu spät, sich zu organisieren. Die Freiheit, die wir gesetzlich erringen, und die Freiheit, deren wir uns ohne Gesetz bemächtigen, müssen wir dazu ausnutzen, die verschiedenen Parteiorganisationen zu vervielfachen und alle, bis zur letzten, zu stärken.“ (Hervorhebung im Original)

Der Konflikt zwischen Lenins Politik der Massenrekrutierung und den konservativen Komiteeleuten war eine der hitzigsten Streitfragen auf dem Parteitag der Bolschewiki im April 1905. Lenins Antrag dazu wurde sogar von einer knappen Mehrheit abgelehnt. Dieser Antrag ruft die Bolschewiki dazu auf,

„… mit allen Kräften die Verbindung dieser Partei mit der Masse der Arbeiterklasse zu festigen, immer breitere Schichten von Proletariern und Halbproletariern zum vollen sozialdemokratischen Bewußtsein emporzuheben, ihre revolutionäre und sozialdemokratische Selbsttätigkeit zu entwickeln und dafür zu sorgen, daß die Arbeitermasse selber eine möglichst große Zahl von Arbeitern hervorbringt, die wirklich fähig sind, die Bewegung und alle Organisationen der Partei zu leiten… möglichst viele unserer Partei angehörende Arbeiterorganisationen zu schaffen…“ („Resolution über das Verhältnis zwischen Arbeitern und Intellektuellen, in der Sozialdemokratischen Partei“, Februar 1905)

Aus Opposition gegen die Politik der Massenrekrutierung zitierten die konservativen bolschewistischen Komiteeleute Was tun? mit der Linie: „Je enger, desto besser“. Darauf antwortete Lenin, daß seine Polemik von 1902 als Leitfaden zur Bildung einer oppositionellen Gruppierung innerhalb einer politisch heterogenen Bewegung von Propagandazirkeln im Untergrund dienen sollte. Die Aufgaben der bolschewistischen Organisation Anfang 1905 waren gelinde gesagt andere.

Lenin hatte absolut Recht, die konservative Haltung zur Rekrutierung während der Revolution von 1905 zu bekämpfen. Wenn die Zehntausende subjektiv revolutionärer, aber politisch unerfahrener junger Arbeiter, die hervortraten, nicht von den Bolschewiki rekrutiert würden, würden sie sich natürlich den opportunistischen Menschewiki, den radikal-populistischen Sozialrevolutionären oder den Anarchisten anschließen. Die revolutionäre Partei wäre einer großen und wichtigen proletarischen Generation beraubt. Ohne Massenrekrutierung wäre die bolschewistische Partei während der Revolution und danach sterilisiert worden.

Ein weiterer Aspekt des Apparatkonservatismus der bolschewistischen Komiteeleute war eine sektiererische Haltung gegenüber den durch die Revolution geschaffenen Massenorganisationen: den Gewerkschaften und vor allem den Sowjets. Der äußerst wichtige Sowjet (Rat) der Arbeiterdeputierten in St. Petersburg entstand im Oktober 1905 als zentralisiertes Generalstreikkomitee. Die Menschewiki begrüßten die Gewerkschaften und die Sowjets gerade wegen ihres lockeren, politisch heterogenen Charakters, doch ein Teil der bolschewistischen Führung mißtraute solchen Organisationen als Konkurrenten zur Partei.

So verfaßte das bolschewistische Zentralkomitee in Rußland im Oktober 1905 (Lenin war noch im Exil) einen „Brief an alle Parteiorganisationen“, worin stand:

„Jede derartige Organisation entspricht einem bestimmten Stadium in der politischen Entwicklung des Proletariats; wenn sie aber außerhalb der Sozialdemokratie steht, läuft sie objektiv Gefahr, das Proletariat auf einem politisch primitiven Niveau zu halten und es dadurch den bürgerlichen Parteien unterzuordnen.“ (zitiert in Tony Cliff, Lenin, Bd. I: Building the Party, 1975)

Die anfängliche sektiererische Haltung der Bolschewiki gegenüber den Sowjets erlaubte es den Menschewiki, darin das politische Vakuum zu füllen und dadurch eine führende Rolle zu spielen. So wurde Trotzki 1905 als Führer des Petersburger Sowjets zum prominentesten revolutionären Sozialisten.

Genauso wie Lenin für eine Politik der Massenrekrutierung kämpfte, intervenierte er, um die Haltung des sektiererischen Abstentionismus gegenüber den Sowjets zu korrigieren. In einem Brief an die bolschewistische Presse, „Unsere Aufgaben und der Sowjet der Arbeiterdeputierten“ (November 1905), schrieb er:

„… Sowjet der Arbeiterdeputierten oder Partei? Mir scheint, man darf die Frage nicht so stellen, die Antwort muß unbedingt lauten: Sowohl Sowjet der Arbeiterdeputierten als auch Partei. Die Frage — eine äußerst wichtige Frage — besteht lediglich darin, wie die Aufgaben des Sowjets und die Aufgaben der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei Rußlands voneinander abzugrenzen und miteinander zu verbinden sind. Mir scheint, es wäre nicht zweckmäßig, wenn sich der Sowjet voll und ganz irgendeiner einzigen Partei anschließen würde.“ (Hervorhebung im Original)

Wie Trotzki sah Lenin in den Sowjets die organisatorische Basis für eine revolutionäre Regierung:

„Meines Erachtens ist der Sowjet der Arbeiterdeputierten als politisch führendes revolutionäres Zentrum keine zu breite, sondern im Gegenteil eine zu enge Organisation. Der Sowjet muß sich zur provisorischen revolutionären Regierung ausrufen oder eine solche bilden und hierzu unbedingt neue Deputierte nicht nur der Arbeiter, sondern auch erstens der Matrosen und Soldaten …, zweitens der revolutionären Bauernschaft und drittens der revolutionären bürgerlichen Intelligenz heranziehen. Der Sowjet muß einen starken Kern für die provisorische revolutionäre Regierung auswählen und diesen Kern durch Vertreter aller revolutionären Parteien und aller revolutionären (aber natürlich nur der revolutionären und nicht der liberalen) Demokraten ergänzen.“ (ebenda)

Lenins positive Orientierung auf die Gewerkschaften und Sowjets 1905 stellte keine Änderung seiner früheren Position zur Avantgardepartei dar. Im Gegenteil: Für das Konzept der Avantgardepartei sind sehr breite Organisationen, durch die die Partei die Masse der rückständigeren Arbeiter führen kann, eine Voraussetzung, ja sogar eine Notwendigkeit. In Was tun? ist das Verhältnis der Partei zu den Gewerkschaften sehr klar ausgedrückt:

„Die Organisationen der Arbeiter für den ökonomischen Kampf müssen Gewerkschaftsorganisationen sein. Jeder sozialdemokratische Arbeiter hat diese Organisationen nach Möglichkeit zu unterstützen und aktiv in ihnen zu arbeiten. Das ist richtig. Es liegt aber durchaus nicht in unserem Interesse, zu fordern, daß nur Sozialdemokraten Mitglieder der ‚Gewerk‘verbände sein dürfen: das würde den Bereich unseres Einflusses auf die Massen einengen. Mag am Gewerkverband jeder Arbeiter teilnehmen, der die Notwendigkeit des Zusammenschlusses zum Kampfe gegen die Unternehmer und gegen die Regierung erkennt. Das eigentliche Ziel der Gewerkverbände wäre gar nicht zu erreichen, wenn sie nicht alle zusammenfaßten, denen diese, sei es auch nur diese eine, elementare Stufe der Erkenntnis zugänglich ist, wenn diese Gewerkverbände nicht sehr breite Organisationen wären. Und je breiter diese Organisationen sind, um so größer wird unser Einfluß auf sie sein…“ (Hervorhebung im Original)

Hat Lenin Was tun? abgeschworen?

So gut wie jeder rechte Revisionist hat sich auf Lenins Kampf für eine Politik der Massenrekrutierung und gegen den Apparatkonservatismus gestürzt und argumentiert, der Gründer des modernen Kommunismus habe damals die Prinzipien von Was tun? ein für alle Mal verworfen. Der britische Arbeitertümler-Reformist Tony Cliff zog aus den Ereignissen von 1905 den Schluß:

„Was die Idee betrifft, daß sozialistisches Bewußtsein nur von ‚außen‘ hineingetragen werden und die Arbeiterklasse spontan nur rein gewerkschaftliches Bewußtsein erreichen könne, formulierte Lenin nun seine Schlußfolgerung in Begriffen, die denen von Was tun? genau entgegengesetzt waren. In einem Artikel vom November 1905, ‚Über die Reorganisation der Partei‘, sagt er geradeheraus, ‚Die Arbeiterklasse ist instinktiv und spontan sozialdemokratisch‘.“ (ebenda)

Jean-Jacques Marie, ein Führer der französischen neokautskyanischen Organisation Communiste Internationaliste, sagt praktisch das gleiche:

„Lenin gab die Rigidität in der Definition auf, die er dem Verhältnis zwischen ‚Bewußtsein‘ und ‚Spontaneität‘ gegeben hatte. Nach dem II. Parteitag (August 1903) bemerkte er, daß er ‚übertrieben‘ bzw. den ‚von den Ökonomisten überspannte[n] Bogen wieder ausgerichtet‘ habe. Die Revolution 1905 konnte ihn nur zwingen, die historische Funktion, die Was tun? für einen bestimmten Zeitpunkt hatte, hervorzuheben.“ (Einleitung zu Que faire?, 1966)

Weil Reformisten und Zentristen aller Art Lenins Kampf 1905 gegen den Apparatkonservatismus zu antileninistischen Zwecken ausschlachten, ist es äußerst wichtig, die Fragen dieser Auseinandersetzung genau zu bestimmen. Welchen Aspekt bzw. welche Aspekte von Was tun? hielt Lenin 1905 für nicht mehr relevant?

Lenin hat seine Position über das Verhältnis zwischen Bewußtsein und Spontaneität nicht geändert. 1905 und bis zu seinem Tod bestand er darauf, daß einzig und allein die revolutionäre Avantgardepartei den bewußten Ausdruck der historischen Interessen des Proletariats darstellt. Wie schon bemerkt, verurteilte der bolschewistische Parteitag im April 1905, auf dem Lenin für eine Massenrekrutierungskampagne kämpfte, die Menschewiki wegen ihrer „allgemeine[ n] Tendenz …, die Bedeutung der Elemente der Bewußtheit im proletarischen Kampf herabzusetzen und sie den Elementen der Spontaneität unterzuordnen…“ Die „jungen Kämpfer“ und möglichen Rekruten von 1905 hielt Lenin nicht für politisch fortgeschrittener als die konservativen bolschewistischen Komiteeleute. Im Gegenteil, er bestand darauf, die erfahrenen, gestählten Komiteeleute könnten und müßten die subjektiv revolutionären „jungen Kämpfer“ auf ihr eigenes Niveau heben.

Lenin hat das revolutionäre Programm der Partei nicht verwässert, um die rückständigeren Arbeiter anzulocken; er hat keine Demagogie betrieben. Das geht aus der schon zitierten Passage aus „Neue Aufgaben und neue Kräfte“ klar hervor. Er war auch nicht der Meinung, daß breite Rekrutierung verminderte Verantwortung und Disziplin der Mitgliedschaft notwendig mache. Im April 1905 ersetzte der bolschewistische Parteitag Martows lose Definition der Mitgliedschaft aus dem Jahre 1903 durch Lenins Position der formell festgelegten Teilnahme an der Organisation. Lenin meinte auch nicht, die Verwandlung der Bolschewiki in eine Arbeitermassenpartei müsse eine bedeutende Lockerung des organisatorischen Zentralismus mit sich bringen. In dieser ganzen Periode bekräftigte er seine Überzeugung, daß der Zentralismus ein grundsätzliches organisatorisches Prinzip der revolutionären Sozialdemokratie sei. Zum Beispiel schrieb er in dem Artikel „Der Jenaer Parteitag der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands“ (September 1905):

„Wichtig ist, den äußerst charakteristischen Grundzug dieser Änderung [des SPD-Parteistatuts] zu betonen: die Tendenz zur weiteren, vollständigeren und strengeren Durchführung des Zentralismus, zur Schaffung einer festeren Organisation… Im großen und ganzen sehen wir hier deutlich, daß das Wachstum der sozialdemokratischen Bewegung und ihre zunehmende Revolutionierung unbedingt und unvermeidlich zu einer konsequenteren Anwendung des Zentralismus führen.“ (Hervorhebung im Original)

Auf der Grundlage von Was tun? aufbauen

In welcher Hinsicht hielt Lenin denn Was tun? für nicht anwendbar auf die Aufgaben, vor denen die Bolschewiki 1905 standen? 1905 trat Lenin dafür ein, das bis dahin normale Niveau politischer Erfahrung und Kenntnisse zu senken, das für die Rekrutierung zur Partei und auch für Verantwortlichkeiten in der Führung notwendig war. Und diese Änderung betraf nicht so sehr Lenins Konzeption der Avantgardepartei als vielmehr das Bewußtsein des russischen Proletariats. Unter den Bedingungen der Illegalität 1902/03 würde nur eine kleine Zahl fortgeschrittener Arbeiter am Programm der revolutionären Sozialdemokratie festhalten — und dabei Verhaftung und Exil riskieren — und die Disziplin der neu gegründeten und fraktionell zerstrittenen SDAPR anerkennen. Nach dem Blutsonntag wollten Zehntausende militante junge Arbeiter und auch radikale Kleinbürger revolutionäre Sozialdemokraten werden, sofern sie begriffen, was das hieß. Breite Rekrutierung 1902/03 hätte die revolutionären Elemente der SDAPR unter einer Masse von rückständigen, russisch-orthodoxen, liberal-zaristischen Arbeitern erstickt. 1905 war die solide bolschewistische Kaderorganisation imstande, eine große Anzahl radikalisierter, wenn auch politisch unerfahrener, Arbeiter zu assimilieren.

Lenins Politik der Massenrekrutierung 1905 war weder eine Ablehnung noch eine Korrektur der in Was tun? ausgedrückten Grundsätze, sondern beruhte darauf, daß sie erfolgreich in die Tat umgesetzt wurden. Eine notwendige Voraussetzung einer breiten Rekrutierungskampagne während einer revolutionären Krise ist eine politisch homogene Kaderorganisation. Dies erklärt Lenin auch ausdrücklich in einem Absatz, den Cliff zwar zitiert, aber entweder nicht verstehen will oder nicht verstehen kann:

„Eine Gefahr könnte man darin sehen, daß mit einemmal Massen von NichtSozialdemokraten in die Partei strömen. Dann würde die Partei in der Masse aufgehen, sie würde aufhören, der bewußte Vortrupp der Klasse zu sein, sie würde in den Nachtrab geraten. Das wäre unbedingt eine beklagenswerte Periode. Und diese Gefahr könnte zweifelsohne höchst ernste Bedeutung erlangen, wenn bei uns Neigung zur Demagogie vorhanden wäre, wenn die Grundlagen des Parteilebens (Programm, taktische Regeln, organisatorische Erfahrung) völlig fehlten oder schwach und brüchig wären. Aber der springende Punkt ist eben, daß dieses ‚Wenn‘ gar nicht vorhanden ist… [W]ir haben … von den in die Partei Eintretenden Klassenbewußtsein verlangt, die gewaltige Bedeutung der Kontinuität in der Parteientwicklung stets unterstrichen, Disziplin und Erziehung aller Parteimitglieder in einer der Parteiorganisationen propagiert. Wir haben unser feststehendes Programm, das von allen Sozialdemokraten offiziell anerkannt ist und keinerlei Kritik seiner wesentlichen Grundsätze hervorgerufen hat … Wir haben taktische Resolutionen, die auf dem II. und III. Parteitag sowie in langjähriger Arbeit der sozialdemokratischen Presse konsequent und systematisch erarbeitet worden sind. Wir haben auch gewisse organisatorische Erfahrungen und eine wirkliche Organisation, die eine erzieherische Rolle gespielt und zweifellos Früchte getragen hat …“ („Über die Reorganisation der Partei“, November 1905, Hervorhebung im Original)

Eine schwache Propagandagruppe oder eine kleine, heterogene Partei, die während eines revolutionären Aufschwungs ihre Tore weit öffnet, wird von unreifen, impressionistischen, unbeständigen Elementen überflutet werden, die die Partei in die Katastrophe führen. Genau das passierte dem deutschen Spartakusbund von Luxemburg und Liebknecht 1918/19. Lenins Bolschewiki konnten 1905 das tragische Schicksal des Spartakusbundes vermeiden, weil sie in den vorangegangenen fünf Jahren eine Organisation nach den Grundsätzen von Was tun? aufgebaut hatten.

Im Unterschied zu den Bolschewiki wurden die Menschewiki gewissermaßen von den Massen ihrer radikalisierten neuen Mitglieder überflutet. Unter der Wucht der sich vertiefenden Revolution spaltete sich praktisch die Führung der Menschewiki. Martows wichtigster Offizier, Theodor Dan, und (ausgerechnet) Martynow unterstützten Trotzkis Kampagne für eine „Arbeiterregierung“. Martow und Plechanow hielten an der offiziellen Position der Menschewiki fest, dem Kampf um die Staatsmacht fernzubleiben. So standen in der Revolution 1905 die zwei Vertreter des Menschewismus mit der höchsten Autorität isoliert auf dem rechten Flügel ihrer eigenen Tendenz.

Es ist zu bezweifeln, daß Lenin dachte, die meisten von denen, die 1905 rekrutiert wurden, würden langfristig Bolschewiki bleiben, besonders wenn die Revolution scheiterte (was geschah) und eine Periode der Reaktion einsetzte. Aber bei denjenigen, die erst 1905 in den revolutionären Kampf traten, war es schwierig, zwischen den wirklich fortgeschrittenen und den politisch rückständigen oder entfernt stehenden Elementen zu unterscheiden, zwischen den ernsthaften Revolutionären und denjenigen, die einfach im aufregenden Augenblick mitgerissen wurden. Nur Zeit und interne Kämpfe würden die künftigen Bolschewiki, die im Laufe der Revolution von 1905 rekrutiert worden waren, von den zufällig Zugestoßenen trennen. In der Revolution von 1905 bestand die wirkliche bolschewistische Partei weiterhin aus den Komiteeleuten der Iskra-Periode; die neuen Mitglieder waren in Wirklichkeit Mitgliedschaftskandidaten.

Unter normalen Verhältnissen wird eine revolutionäre Organisation zum Großteil ihre neuen Mitglieder auswählen, schulen und trainieren, bevor sie eintreten. Dieser Prozeß der Vorbereitung findet oft in einer Übergangsorganisation statt (Frauensektion, Jugendgruppe, Gewerkschaftsfraktion). Doch während eines revolutionären Aufschwungs kann ja eine solche relativ lange Phase vor der Mitgliedschaft die Avantgardepartei um manche der besten jungen Kämpfer bringen, die sich durch die Partei voll und ganz politisch betätigen wollen. Wenn die Avantgardepartei über einen genügend großen Kern von soliden Kadern verfügt, sollte sie versuchen, alle zu rekrutieren, die eine gesunde Motivation zu haben scheinen, die wirklich für das revolutionäre marxistische Programm eintreten, so gut sie es verstehen. Der Prozeß, in dem Mitglieder ausgewählt und geschult werden, findet dann intern statt.

Die Massenrekrutierung während einer Revolution ist in extremer Form ein allgemeines Merkmal für Wachstum und Entwicklung der Partei. Der Übergang von einem Propagandazirkel zu einer proletarischen Massenpartei ist kein gleichmäßiger, geradliniger Prozeß. Auf Zeiten rapiden Wachstums und rapider Ausdehnung in neue Milieus folgt charakteristischerweise eine Zeit der Konsolidierung, in der sich die Partei in einer gewissen Weise nach innen kehrt, was zur Herauskristallisierung einer neuen Schicht von Kadern führt.

Im Juni 1907 veröffentlichte Lenin einen Sammelband seiner wichtigsten Schriften unter dem Titel 12 Jahre. Zu dieser Zeit waren die Bolschewiki noch eine legale Massenorganisation mit schätzungsweise 45000 Mitgliedern. Der Sieg der zaristischen Reaktion hatte die Bolschewiki noch nicht auf ein relativ kleines Untergrundnetz reduziert. Die Bolschewiki befanden sich Anfang 1907 in einem ganz anderen Zustand und waren mit einer ganz anderen Situation konfrontiert als die Iskristen 1902/03.

Lenin mußte daher den historischen Zusammenhang und den unmittelbaren fraktionellen Zweck von Was tun? erklären und hervorheben. In seinem Vorwort zu 12 Jahre bemerkt er:

„… ich wandte den später so oft zitierten Vergleich mit dem überspannten Bogen an. In Was tun? wird der von den ‚Ökonomisten‘ überspannte Bogen wieder ausgerichtet, sagte ich…

Der Sinn dieser Worte ist klar: Was tun? korrigiert polemisch den ‚Ökonomismus‘, und es ist falsch, den Inhalt der Broschüre außerhalb dieser Aufgabe zu betrachten.“

Jeder rechte Revisionist (z. B. Tony Cliff, J.-J. Marie) hat sich auf diese wenigen Sätze gestürzt, als ob sie ein Geschenk des Himmels wären, um zu behaupten, Lenin habe Was tun? für eine übertriebene und historisch veraltete politische Erklärung gehalten. Dies ist eine grundsätzliche Entstellung dessen, was Lenin gemeint hat. Was tun? schien 1907 einseitig zu sein, denn diese Schrift handelte davon, aus einer losen Bewegung von Propagandazirkeln eine agitatorische Partei von Berufsrevolutionären herauszukristallisieren. Diese Polemik von 1902 behandelte weder die Umwandlung einer solchen agitatorischen Organisation in eine proletarische Massenpartei noch die Probleme und Aufgaben einer revolutionären Massenpartei.

Im gleichen Vorwort von 12 Jahre betont Lenin, daß der Aufbau einer Organisation von Berufsrevolutionären eine notwendige Etappe beim Aufbau einer revolutionären proletarischen Massenpartei ist, deren lebenswichtigen harten Kern diese Berufsrevolutionäre bilden. Er wies darauf hin, daß die Komiteeleute der Iskra -Periode die Basis aller folgenden bolschewistischen Organisationen bildeten:

„Man fragt sich: Wer hat denn diese große Geschlossenheit, Festigkeit und Widerstandsfähigkeit unserer Partei geschaffen und in die Wirklichkeit umgesetzt? Das hat die größtenteils unter Mitwirkung der ‚Iskra‘ ins Leben gerufene Organisation der Berufsrevolutionäre getan. Wer die Geschichte unserer Partei gut kennt, wer selbst ihren Aufbau miterlebt hat, dem genügt ein einfacher Blick auf die Zusammensetzung der Delegation irgendeiner Fraktion, sagen wir, des Londoner Parteitags [1907], um sich davon zu überzeugen, um sofort den alten Grundstock der Partei zu entdecken, wer die Partei am eifrigsten gehegt, gepflegt und großgezogen hat.“ (ebenda)

Lenin

Partei, Fraktion und „Freiheit der Kritik“

Die Entstehung von Differenzen zu den Menschewiki über die Rolle des bürgerlichen Liberalismus in der Revolution schwächte zwar die Kräfte des Versöhnlertums im bolschewistischen Lager, ließ sie aber nicht verschwinden. Auf dem rein bolschewistischen III. Parteitag der Russischen Sozialdemokratischen Arbeiterpartei (SDAPR) im April 1905 befand sich Lenin bei der Frage, wie man mit den Menschewiki umgehen soll, in der Minderheit. Er wollte die Menschewiki, die den Parteitag boykottiert hatten, aus der SDAPR ausschließen. Die Mehrheit der Delegierten war zu einem solch extremen Schritt nicht bereit. Der Parteitag nahm einen Antrag an, der es den Menschewiki erlaubte, in einer einheitlichen SDAPR zu bleiben unter der Bedingung, daß sie die Führung der bolschewistischen Mehrheit anerkennen und die Parteidisziplin einhalten. Selbstverständlich lehnten die Menschewiki solche Einheitsbedingungen kurzerhand ab.

Zwar vertiefte der Beginn der Revolution von 1905 die Spaltung zwischen Bolschewismus und Menschewismus, doch die weitere Entwicklung der Revolution erzeugte einen übermächtigen Druck hin zur Wiedervereinigung der russischen Sozialdemokratie. Eine Reihe von Faktoren, die sich alle gegenseitig verstärkten, riefen bei den Mitgliedern beider Tendenzen eine gewaltige Stimmung für die Einheit hervor. Der gemeinsame militärische Kampf gegen den zaristischen Staat schuf ein starkes Solidaritätsgefühl bei Rußlands fortgeschrittenen Arbeitern, den Kämpfern und Anhängern der sozialdemokratischen Bewegung.

Im Sommer 1905 bestand eine große Mehrheit beider Tendenzen aus neuen, jungen Rekruten, die weder den Kampf des Iskrismus gegen die Ökonomisten noch die Spaltung zwischen Bolschewiki und Menschewiki 1903 und ihre Folgen miterlebt hatten. Für die Mehrheit der russischen sozialdemokratischen Arbeiter war daher die organisatorische Spaltung unverständlich und schien ihre Ursprünge in „grauer Vorzeit“ zu haben. Die allgemeine Überzeugung, daß die Differenzen innerhalb der russischen Sozialdemokratie nicht wichtig wären, wurde durch das politische Durcheinander bei den führenden Menschewiki verstärkt. Der bekannteste Menschewik 1905 war Trotzki, Vorsitzender des Petersburger Sowjets, der in bezug auf die Ziele und Perspektiven der Revolution links von Lenin stand. So entsprach die politische Einstellung vieler, die 1905 in die bolschewistische oder menschewistische Organisation eintraten, nicht dem Programm ihrer jeweiligen Führung. In seiner Stalin-Biographie von 1940 bemerkte Trotzki, daß die Mitglieder der Menschewiki im Jahre 1905 Lenins Position über die Rolle der Sozialdemokratie in der Revolution näher standen als der Plechanows.

Der Drang nach Einheit war so stark, daß auf lokaler Ebene mehrere Komitees der Bolschewiki einfach mit den entsprechenden menschewistischen Gremien fusionierten, obwohl ihre Führung dagegen war. In seinen Memoiren, geschrieben in den 20er Jahren, schildert der Altbolschewik Ossip Pjatnizki die Situation in der sozialdemokratischen Bewegung in Odessa Ende 1905:

„Dem [bolschewistischen führenden] Parteikomitee war es klar, daß der Vorschlag der sofortigen Einigung sowohl bei uns wie bei den Menschewiki mit einer gewaltigen Stimmenmehrheit angenommen werden würde, denn überall, wo die Anhänger der sofortigen Einigung auftraten, bekamen sie die Stimmen aller Anwesenden. Unser bolschewistisches Parteikomitee war deshalb gezwungen, Bedingungen für eine Einigung auszuarbeiten, ohne selbst diese Einigung zu wollen. Das aber mußte getan werden, weil sonst die Einigung bedingungslos vor sich gegangen wäre.“ {Aufzeichnungen eines Bolschewiks, Oberbaumverlag, Berlin 1972)

In seinem Buch über die Geschichte der Bolschewiki aus dem Jahr 1923 faßt Grigori Sinowjew die Vereinigung von 1906 wie folgt zusammen:

„Damals waren die Stäbe der Bolschewiki und Menschewiki infolge der revolutionären Kämpfe von Ende 1905 und unter dem Einfluß der Massen gezwungen, sich zusammenzuschließen… Im Grunde genommen haben die Massen zwei oder drei Mal gezwungen, sich mit den Menschewiki zu versöhnen.“ {Geschichte der Kommunistischen Partei Rußlands [Bolschewiki], Nachdruck 1972)

Vielleicht vereinfacht Sinowjew die Dinge zu sehr. Es ist unwahrscheinlich, daß Lenin einfach vor dem Druck von unten kapitulierte. Der überwältigende Wunsch nach Einheit bedeutete, daß die organisatorischen Trennlinien nicht mehr dem politischen Bewußtsein der jeweiligen Mitgliedschaft entsprachen. Manche der jungen Rekruten der Bolschewiki standen tatsächlich den linken Menschewiki näher, und umgekehrt. Eine Periode des internen Kampfes war notwendig, um die 1905 in die sozialdemokratische Bewegung eingetretenen revolutionären Elemente von den opportunistischen zu trennen.

Wiedervereinigung

Im Herbst 1905 begannen das bolschewistische Zentralkomitee und das menschewistische Organisationskomitee Einheitsverhandlungen. Das bolschewistische Zentralkomitee in Rußland billigte Fusionen auf örtlicher Ebene als ein Mittel, um die SDAPR als ganze wiederzuvereinigen. Lenin, der noch in der Schweiz im Exil war, intervenierte entschieden, um diese organische Wiedervereinigung von unten zu stoppen. Er bestand darauf, daß die Wiedervereinigung an der Spitze stattfinden solle, auf einem neuen Parteitag, dessen Delegierte auf der fraktionellen Plattform gewählt werden sollten. In einem Brief an das Zentralkomitee (3. Oktober 1905) schrieb er:

„Wir dürfen die Politik der Vereinigung beider Teile nicht mit dem Durcheinanderbringen beider Teile verwechseln. Beide Teile vereinigen — einverstanden. Beide Teile durcheinanderbringen — niemals. Klare Scheidung, das müssen wir von den Komitees verlangen, danach zwei Parteitage, und dann die Vereinigung.“ (Briefe Bd. 2, Hervorhebung im Original)

Im Dezember 1905 wurde eine vereinigte Zentrale gebildet, die aus einer gleichen Anzahl von Bolschewiki und Menschewiki bestand. Gleichzeitig wurden die Zentralorgane der rivalisierenden Tendenzen, die menschewistische Iskra und die bolschewistische Proletari, eingestellt und durch eine einzige Zeitung, Partinyje Iswestija (Parteinachrichten), ersetzt.

Bezeichnenderweise erklärten sich die Menschewiki dazu bereit, Lenins Definition der Mitgliedschaft aus dem Jahre 1903 zu akzeptieren, die eine formelle Mitarbeit in der Organisation verlangte. Das war zum Teil eine Konzession an die Leninisten, spiegelte aber hauptsächlich die Tatsache wider, daß unter den relativ offenen Bedingungen von 1905/06 eine formelle Mitarbeit in der Organisation der breiten Rekrutierung nicht im Weg stand. Die Kehrtwendung der Menschewiki widerlegt völlig die weitverbreitete Vorstellung, Lenins Beharren darauf, daß Mitglieder sich der Organisationsdisziplin unterordnen müssen, sei eine Besonderheit der Illegalität. Im Gegenteil, gerade die Menschewiki meinten, die Illegalität verlange eine lockerere Definition der Mitgliedschaft, um sozialdemokratische Arbeiter und Intellektuelle anziehen zu können, die sich den Härten und Gefahren der illegalen Arbeit nicht aussetzen wollen.

Der IV (oder „Vereinigungs“-) Parteitag, der im April 1906 in Stockholm stattfand, teilte sich in 62 Menschewiki und 46 Bolschewiki. Vertreten waren auch der jüdische Bund, die lettischen Sozialdemokraten und die von Luxemburg und Jogiches geführten polnischen Sozialdemokraten. Niemand hat bestritten, daß die Fraktionsstärke auf dem Parteitag der jeweiligen Stärke an der Basis der sozialdemokratischen Arbeiter Rußlands, entsprach. (Anfang 1906 hatten die Menschewiki ungefähr 18000 Mitglieder, die Bolschewiki ungefähr 12000.)

Was war der Grund für die menschewistische Mehrheit bei den russischen Sozialdemokraten Anfang 1906? Erstens zeigte sich die konservative Haltung der bolschewistischen Komiteeleute gegenüber Rekrutierungen Anfang 1905 auch in einer sektiererischen Haltung gegenüber den neuen, von der Revolution hervorgebrachten Massenorganisationen — den Gewerkschaften und vor allen den Sowjets. Daher konnten die Menschewiki beim Kampf um die Führung der breiten Arbeiterorganisationen einen Vorsprung erhalten. Obwohl Trotzki kein menschewistischer Fraktionskämpfer war, stärkte seine Rolle als Vorsitzender des Petersburger Sowjets die Autorität des antileninistischen Flügels der russischen Sozialdemokratie. Zweitens befürworteten die Menschewiki eine sofortige, organische Fusion und konnten so an die politische Naivität und den Wunsch nach Einheit bei den jungen Rekruten appellieren.

Mit der Niederlage des von den Bolschewiki geführten Moskauer Aufstands im Dezember 1905 trat eine Wende zugunsten der zaristischen Reaktion ein. Während die Bolschewiki die Siege des Zarismus als vorübergehenden Rückschlag inmitten einer fortdauernden revolutionären Situation betrachteten, zogen die Menschewiki den Schluß, daß die Revolution vorbei sei. Die Position der Menschewiki entsprach der zunehmend defätistischen Stimmung der Massen in den ersten Monaten des Jahres 1906.

Im Verlauf des IV Parteitages bekräftigte Lenin mehrmals seine Loyalität gegenüber einer einheitlichen SDAPR. Zum Beispiel schrieb er in einer kurzen Fraktionserklärung zum Abschluß des Parteitages:

„Gegen diejenigen Beschlüsse des Parteitags, die wir für irrig halten, müssen und werden wir ideologisch kämpfen. Dabei erklären wir jedoch vor der gesamten Partei, daß wir gegen jede Spaltung sind. Wir sind für die Unterordnung unter die Parteitagsbeschlüsse… Nach unserer tiefen Überzeugung müssen die sozialdemokratischen Arbeiterorganisationen einheitlich sein, aber in diesen einheitlichen Organisationen soll eine breite und freie Erörterung der Parteifragen, eine freie und kameradschaftliche Kritik und Beurteilung der Erscheinungen des Parteilebens erfolgen.“ („Appell an die Partei von den Delegierten des Vereinigungsparteitags, die der ehemaligen Fraktion der ‚Bolschewiki‘ angehört haben“, April 1906)

Für Lenin war die Wiedervereinigung sowohl ein Ausdruck seines Festhaltens an der kautskyanischen Doktrin von der „Partei der Gesamtklasse“ ab auch ein taktisches Manöver, um die Masse der rohen, jungen Arbeiter zu gewinnen, die sich während der Revolution von 1905 der sozialdemokratischen Bewegung angeschlossen hatten. Wir können unmöglich die unterschiedliche Gewichtung einschätzen, die Lenin diesen beiden ganz unterschiedlichen Erwägungen gab. Auch wissen wir nicht, wie sich Lenin 1906 die künftige Entwicklung der Beziehungen zwischen Bolschewiki und Menschewiki vorstellte.

Barrikade während des bewaffneten Aufstands in Moskau, Dezember 1905

Barrikade während des bewaffneten Aufstands in Moskau, Dezember 1905

Es ist unwahrscheinlich, daß Lenin auf eine endgültige Abspaltung und Gründung einer bolschewistischen Partei zusteuerte oder sie plante. Einer der Gründe war, daß Lenin wußte, daß die Zweite Internationale nicht die Bolschewiki als Alleinvertreter der russischen Sozialdemokratie anerkennen würde. Und als die Bolschewiki 1912 sich völlig von den Menschewiki abspalteten und den Anspruch erhoben, die SDAPR zu sein, erkannte die Führung der Internationale diesen Anspruch nicht an.

Lenin hätte wahrscheinlich gerne die Menschewiki auf eine ohnmächtige Minderheit reduziert, die der Disziplin einer revolutionären (d. h. bolschewistischen) Führung der SDAPR unterworfen wäre. Genau so sah er die Beziehung der bernsteinischen Revisionisten zur Bebel/Kautsky-Führung der SPD. Er wußte jedoch, daß die menschewistischen Kader nicht bereit und möglicherweise nicht imstande waren, als eine disziplinierte Minderheit in einer revolutionären Partei zu funktionieren. Er erkannte außerdem, daß er nicht die Autorität eines Bebel hatte, um eine opportunistische Tendenz dazu bringen zu können, sich seiner organisatorischen Führung zu fügen.

Als Lenin die Führung der russischen Arbeiterbewegung anstrebte, beschränkte er sich nicht darauf, die Basis der Menschewiki zu gewinnen, also auf einen rein internen Fraktionskampf in der SDAPR. Er wollte auch Arbeiter und radikale Kleinbürger, die nicht in der Partei waren, direkt zur bolschewistischen Tendenz rekrutieren. Zu diesem Zweck operierte die bolschewistische „Fraktion“ der SDAPR beinahe wie eine selbständige Partei mit eigener Zeitung, Führung und Disziplin sowie mit eigenen Finanzen, öffentlichen Aktivitäten und Ortsgruppen. So unterschiedliche politische Persönlichkeiten wie Trotzki, Sinowjew und der führende Menschewik Theodor Dan kamen später zur Einschätzung, daß die Bolschewiki von 1906-12, obgleich formal eine Fraktion in einer einheitlichen SDAPR, die meisten Merkmale einer unabhängigen Partei hatten.

In einer Polemik aus dem Jahre 1940 gegen die amerikanische Shachtman-Fraktion charakterisierte Trotzki die Bolschewiki in dieser Periode als eine „Fraktion“, die „alle Merkmale einer Partei besaß“ (Verteidigung des Marxismus).

Sinowjews Geschichte der Kommunistischen Partei Rußlands (Bolschewiki) schildert die Situation nach dem IV. Parteitag:

„Zugleich aber bildeten die Bolschewiki auf dem Kongreß selbst ihr inneres, im Hinblick auf die Partei nicht legales Zentralkomitee. Diese Periode in der Geschichte unserer Partei, als wir sowohl im Zentralkomitee als auch im Petersburger Komitee in der Minderheit waren und unsere revolutionäre Sondertätigkeit verheimlichen mußten, war für uns eine sehr schwere und quälende… Die Situation war derartig, als wären zwei Parteien im Rahmen einer tätig.“ (unsere Hervorhebung)

Theodor Dans Schrift von 1945, Die Ursprünge des Bolschewismus, liefert eine ähnliche Analyse der Beziehungen zwischen Bolschewiki und Menschewiki:

„Nicht organisatorische, sondern politische Divergenzen spalteten die russische Sozialdemokratie sehr bald in zwei Fraktionen, die manchmal einander näherkamen, manchmal scharf aufeinanderstießen, aber im Grunde gesonderte und miteinander streitende Parteien blieben, auch als sie dem Namen nach zu einer einzigen Parteiorganisation gehörten.“

Demokratischer Zentralismus und „Freiheit der Kritik“

Vom IV Parteitag im April 1906 bis zum V Parteitag im Mai 1907 waren die Bolschewiki eine Minderheitsfraktion in der SDAPR. In ihrem Streben nach der Führung der Partei orientierten sich die Bolschewiki nicht in erster Linie darauf, einen Teil der Kader der Menschewiki zu gewinnen. Von wenigen Einzelpersonen abgesehen, hielt Lenin die langjährigen Kader der Menschewiki für verhärtete Opportunisten, wenigstens für die nächste Zukunft. Die Wiedervereinigung bewies paradoxerweise, wie tief die Kluft zwischen Bolschewiki und Menschewiki war; wenige Veteranen beider Gruppen wechselten die Seite.

Einer der Beweggründe Lenins, der Einheit zuzustimmen, war, daß die anhaltende Spaltung viele sozialdemokratische Arbeiter abstieß und sie davon abhielt, sich überhaupt einer der beiden Gruppen anzuschließen. Da die Rekrutierung von Nichtmitgliedern für den Kampf gegen die menschewistische Führung der SDAPR wesentlich war, wollte Lenin natürlich diese Führung öffentlich angreifen können. Genau in diesem historischen Zusammenhang definierte Lenin den demokratischen Zentralismus als „Freiheit der Kritik, Einheit der Aktion“. In der Periode 1906/07 trat Lenin bei zahlreichen Gelegenheiten für das Recht einer Minderheit ein, sich öffentlich gegen die Positionen der Parteiführung zu stellen, nicht aber gegen ihre Aktionen.

Wie vorauszusehen, haben verschiedene rechte Revisionisten Lenins Eintreten 1906 für „Freiheit der Kritik“ — das Ergebnis eines Festhaltens an dem klassisch sozialdemokratischen Parteikonzept und eines taktischen Manövers gegen die Menschewiki — „wiederentdeckt“ und dieses zur wahren Form des leninistischen demokratischen Zentralismus erklärt. Gewisse linkszentristische Gruppierungen, die sich Anfang der 70er Jahre vom pseudotrotzkistischen Vereinigten Sekretariat lossagten, machten die „Freiheit der Kritik“ zu einem zentralen Bestandteil ihres Programms. Die bedeutendste dieser Gruppen waren die westdeutschen Internationalen Kommunisten Deutschlands, von denen heute nur noch klägliche Reste existieren. Die Leninist Faction (LF) in der amerikanischen Socialist Workers Party, aus der die kurzlebige Class Struggle League (CSL) hervorging, trat ebenfalls stark für die „Freiheit der Kritik“ ein. Eine Hauptführerin der LF/CSL, Barbara G., schrieb ein längeres Dokument mit dem Titel „Demokratischer Zentralismus“ (August 1972). Ihre zentrale Schlußfolgerung ist:

„Lenin meinte, die Diskussion von politischen Differenzen in der Parteizeitung sei wichtig, weil die Partei und die Zeitung der Arbeiterklasse gehörten. Wenn die j Arbeiter die Partei für ihre Partei halten sollten, müßten sie Parteifragen als ihre Fragen sehen und Parteikämpfe als ihre Kämpfe. Der Arbeiter, der sich der Partei nähert, muß begreifen, daß er die Möglichkeit hat, beim Aufbau der Partei zu helfen, nicht nur dadurch, daß er die Linie der Mehrheit wiederholt, sondern auch dadurch, daß er (entsprechend den Leitlinien der Partei) seine Kritikpunkte und Vorstellungen vorbringt.“ (Hervorhebung im Original)

Barbara G. zitiert zustimmend aus Lenins Artikel „Freiheit der Kritik und Einheit der Aktionen“ vom Mai 1906:

„Die Kritik muß im Rahmen der Grundsätze des Parteiprogramms völlig frei sein … und zwar nicht nur in Partei-, sondern auch in Massenversammlungen. Eine solche Kritik oder eine solche ‚Agitation‘ (denn die Kritik ist von der Agitation nicht zu trennen) kann man nicht verbieten.“

Die „Partei“, auf die sich Lenin hier bezieht, ist nicht die bolschewistische Partei, die die Oktoberrevolution führte. Es ist die alle russischen Sozialdemokraten umfassende Partei unter Führung der menschewistischen Fraktion, d. h. ausgesprochener Opportunisten. Die SDAPR von 1906 mit einer revolutionären Avantgarde gleichzusetzen, läßt den Unterschied zwischen Bolschewismus und Menschewismus verschwinden.

Bis auf eine offene Spaltung tat Lenin alles, was möglich war, um die menschewistische Führung der SDAPR davon abzuhalten, die Bolschewiki an revolutionärer Agitation und Aktionen zu hindern. Wir haben schon Sinowjew dazu zitiert, daß die Bolschewiki eine formale Führungsstruktur aufbauten und damit gegen das Parteistatut verstießen. Sie hatten auch eigenständige Finanzen. Im August 1906 gründeten die Bolschewiki im Rahmen des Petersburger Komitees, wo sie gerade eine Mehrheit gewonnen hatten, wieder ein Fraktionsorgan, Proletari.

Bei der Petersburger Wahlkampagne Anfang 1907 zeigte sich, daß die Bolschewiki und Menschewiki in einer einheitlichen Partei nach der Formel „Freiheit der Kritik, Einheit der Aktion“ nicht koexistieren konnten. In dieser Zeit spitzte sich der Hauptkonflikt zwischen den beiden Gruppen auf die Wahlunterstützung für die liberal-monarchistische Kadettenpartei zu. Auf einer Parteikonferenz im November 1906 hatte die menschewistische Mehrheit einen Kompromiß angenommen, wonach die örtlichen Komitees ihre eigene Wahlpolitik festlegten. Um die bolschewistische Hochburg St. Petersburg zu unterminieren, ordnete dann das Zentralkomitee die Spaltung des Petersburger Komitees in zwei Teile an. Die Bolschewiki verurteilten dies zu Recht als ein rein fraktionelles Manöver und weigerten sich, das Komitee zu spalten. Auf einer Petersburger Konferenz, die über die Wahlpolitik entscheiden sollte, spalteten die Menschewiki mit der Behauptung, die Konferenz sei statutenwidrig. Daraufhin unterstützten sie die Kadetten gegen die SDAPR-Kampagne der Bolschewiki.

Als Lenin diesen Klassenverrat in einer Broschüre, Die Wahlen in Petersburg und die Heuchelei der 31 Menschewiki, anprangerte, leitete das Zentralkomitee ein Parteiverfahren gegen ihn ein, weil „ein derartiges Auftreten für Parteimitglieder unzulässig ist“. Die disziplinarischen Maßnahmen des Zentralkomitees gegen Lenin wurden bis zum V. Parteitag verschoben, wo sie gegenstandslos waren, da die Bolschewiki inzwischen die Mehrheit gewonnen hatten.

Der Sinn, in dem Lenin für die „Freiheit der Kritik“ eintrat, geht aus seiner „Verteidigung“ gegen den Vorwurf der Menschewiki hervor, er habe „die politische Ehrlichkeit von Parteimitgliedern an[ge]zweifelt“:

„Mit meinen scharfen, beleidigenden Angriffen auf die Menschewiki am Vorabend der Wahlen in St. Petersburg habe ich wirklich die Reihen des an sie glaubenden und ihnen folgenden Proletariats ins Wanken gebracht. Das war mein Ziel. Das war meine Pflicht als Mitglied der Petersburger sozialdemokratischen Organisation, die die Kampagne des Linksblocks durchführt. Denn nach der Spaltung mußte man … die Reihen der Menschewiki zerschlagen, die das Proletariat hinter die Kadetten bringen wollten, mußte man Verwirrung in ihre Reihen hineintragen, mußte man in der Masse Haß, Abscheu und Verachtung gegen diese Menschen erwecken, die aufgehört hatten, Mitglieder einer einigen Partei zu sein, die zu politischen Feinden geworden waren … Gegen solche politischen Feinde habe ich damals einen Vernichtungskampf geführt, und ich werde ihn im Falle einer Wiederholung oder Vertiefung der Spaltung stets führen.“ („Bericht an den V Parteitag der SDAPR über die Petersburger Spaltung und die damit zusammenhängende Einsetzung eines Parteigerichts“, Werke Bd. 12, Hervorhebung im Original)

Lenins Eintreten für „Freiheit der Kritik“ innerhalb der von den Menschewiki geführten SDAPR 1906 war analog zur Position der Trotzkisten zum demokratischen Zentralismus, als sie Mitte der 30er Jahre Entrismus in die sozialdemokratischen Parteien durchführten. Die Trotzkisten waren gegen demokratischen Zentralismus für diese Parteien, um eine größtmögliche Wirkung sowohl bei der sozialdemokratischen Mitgliedschaft als auch außerhalb dieser Parteien zu erzielen. Umgekehrt traten damals Elemente der sozialdemokratischen Führung für demokratisch-zentralistische Normen ein, um die Trotzkisten zu unterdrücken. James P. Cannon erklärt sehr gut, warum demokratischer Zentralismus einzig und allein auf die revolutionäre Avantgarde anwendbar ist, und bezieht sich dabei auf die Erfahrung der Trotzkisten in der amerikanischen Socialist Party von Norman Thomas:

„Der demokratische Zentralismus an sich ist keine besondere Tugend. Er ist der besondere Grundsatz einer Kampfpartei, die durch ein einziges Programm vereint wird, mit dem Ziel, eine Revolution zu führen. Sozialdemokraten haben kein Bedürfnis nach einem solchen System der Organisierung, aus dem einfachen Grund, weil sie keine Absicht haben, eine Revolution zu organisieren. Ihre Demokratie und ihr Zentralismus sind nicht durch einen Bindestrich verbunden, sondern werden in getrennten Fächern aufbewahrt für getrennte Zwecke. Die Demokratie ist für die Sozialpatrioten, und der Zentralismus ist für die Revolutionäre. Der Versuch der ‚Klarheitler‘fraktion von Zam/Tyler in der Socialist Party, ein straffes ‚demokratisch-zentralistisches‘ Organisationssystem der Organisierung in diese heterogene Partei einzuführen (1936/37), war eine lächerliche Karikatur; genauer gesagt eine Fehlgeburt. Diese Leute brauchten Zentralisierung und Disziplin nur dazu, um die Rechte des linken Flügels zu unterdrücken und ihn dann auszuschließen.“ (Brief an Duncan Conway, 3. April 1953, in Speeches to the Party, 1973)

Nach der endgültigen Spaltung von den Menschewiki und der Gründung der bolschewistischen Partei 1912 ließ Lenin seine Position von 1906 über die „Freiheit der Kritik“ fallen. Im Juli 1914 organisierte das Internationale Sozialistische Büro eine Konferenz, um die russischen Sozialdemokraten wieder zu vereinigen. Zu Lenins zahlreichen Bedingungen für die Einheit gehörte eine eindeutige Absage an die „Freiheit der Kritik“:

„Die Existenz zweier miteinander konkurrierender Zeitungen in ein und derselben Stadt oder Ortschaft wird als absolut unzulässig anerkannt. Die Minderheit besitzt das Recht, vor der ganzen Partei die programmatischen, taktischen und organisatorischen Meinungsverschiedenheiten in einer besonders zu schaffenden Diskussionszeitschrift zu behandeln, sie darf jedoch nicht in einer konkurrierenden Zeitung auftreten und die Tätigkeit und die Beschlüsse der Mehrheit desorganisieren.“ („Bericht des ZK der SDAPR zur Brüsseler Konferenz“, Juni 1914, unsere Hervorhebung)

Lenin verlangte außerdem, daß öffentliche Agitation gegen die Untergrundpartei oder für „national-kulturelle Autonomie“ absolut verboten sein müßte.

Barbara G. erkennt in ihrer Schrift über „Demokratischen Zentralismus“ an, daß Lenin seine Position geändert hatte:

„Bis 1914 hatte Lenin seine Meinung über die folgende Frage endgültig geändert: Obwohl er es früher für zulässig gehalten hatte, Fraktionszeitungen innerhalb der SDAPR zu haben, hielt er dies inzwischen für unzulässig, weil es die Arbeiterklasse verwirren und spalten würde.“

Barbara G. spielt Lenins Ablehnung der „Freiheit der Kritik“ herunter. Lenin lehnte nicht nur rivalisierende öffentliche Fraktionsorgane ab, sondern auch das Recht einer Minderheit, die Position der Mehrheit in irgendwelcher Form öffentlich zu kritisieren. Außerdem führte er aus, daß bei zwei Hauptdifferenzen — der Illegalität und der „national-kulturellen Autonomie“ — die Minderheit ihre Position öffentlich überhaupt nicht vertreten dürfe. Es ist charakteristisch für Zentristen wie Barbara G., den Lenin von 1906, der die Einheit mit den Menschewiki akzeptierte und immer noch an klassisch sozialdemokratischen Parteikonzepten festhielt, dem Lenin von 1914 vorzuziehen, der endgültig mit den Menschewiki gebrochen hatte und dadurch die kautskyanische Doktrin in Frage stellte, wonach Revolutionäre und Arbeiterreformisten innerhalb einer einheitlichen Partei koexistieren sollten.

Die Mitgliedschaft und insbesondere die führenden Kader einer revolutionären Avantgarde haben ein qualitativ höheres Niveau von politischem Klassenbewußtsein als alle Elemente außerhalb der Partei. Eine revolutionäre Führung kann bei Fragen, wo die Massen der Arbeiter Recht haben, Fehler machen, sogar schwerwiegende Fehler. So etwas wird sehr selten vorkommen. Sollte dies häufiger auftreten, wird der revolutionäre Charakter der Organisation in Frage gestellt, nicht aber die Normen des demokratischen Zentralismus.

Eine Minderheit innerhalb einer revolutionären Organisation versucht, die führenden Kader zu gewinnen, und appelliert nicht stattdessen an rückständigere Elemente. Bei der Klärung von Differenzen innerhalb der Avantgarde sollte die Einmischung rückständiger Elemente so weit wie möglich ferngehalten werden, da diese eine Hauptquelle des bürgerlichen ideologischen Drucks sind. Die „Freiheit der Kritik“ maximiert den Einfluß rückständiger Arbeiter auf die revolutionäre Avantgarde, vom Einfluß bewußter politischer Feinde ganz zu schweigen. Daher fügt die „Freiheit der Kritik“ dem internen Zusammenhalt der proletarischen Avantgarde und ihrer Autorität nach außen schweren Schaden zu.

Lenin

Der Kampf gegen die Boykottisten

Auf dem im Mai 1907 in London abgehaltenen V. Parteitag der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei Rußlands (SDAPR) waren die Bolschewiki mit 89 und die Menschewiki mit 88 Delegiertenstimmen zu fast gleichen Teilen vertreten. Auf dem IV Parteitag ein Jahr zuvor waren drei angegliederte Parteien — der jüdische Bund, die lettischen Sozialdemokraten und Luxemburg/Jogiches‘ Sozialdemokratie des Königreichs Polen und Litauen (SDKPiL) — auf halbföderativer Basis in die SDAPR aufgenommen worden. Auf dem V. Parteitag hatte der Bund 54 Delegiertenstimmen, die lettischen Sozialdemokraten 26 und die SDKPiL 45.

Im Laufe eines einjährigen scharfen Fraktionskampfes gegen die Nachtrabpolitik der Menschewiki gegenüber den Liberalen und ihre positive Haltung zu den Konstitutionellen Demokraten (Kadetten) hatten die Bolschewiki ihre Minderheitsposition innerhalb der russischen sozialdemokratischen Bewegung überwunden. Welche Fraktion die SDAPR führen sollte, hing jetzt jedoch von den drei „nationalen“ sozialdemokratischen Parteien ab. Der Bund unterstützte konsequent die Menschewiki. Die lettischen Sozialdemokraten unterstützten im allgemeinen die Bolschewiki, vermittelten aber manchmal zwischen den beiden feindlichen russischen Gruppierungen. Die Unterstützung durch Rosa Luxemburgs SDKPiL war es, die Lenin eine Mehrheit auf dem V. Parteitag und in den Führungsgremien der SDAPR für die nächsten fünf Jahre verschaffte. Der Block Lenin-Luxemburg in den Jahren 1906-1911 ist nicht nur wegen seiner konkreten historischen Auswirkung von Bedeutung, sondern auch weil er das Verhältnis zeigt zwischen dem sich entwickelnden Leninismus und dieser konsequentesten und wichtigsten Vertreterin der revolutionären Vorkriegssozialdemokratie.

Die entscheidende Frage auf dem V Parteitag war die Haltung zum bürgerlichen Liberalismus und besonders die Wahlunterstützung für die Kadettenpartei. Mit Unterstützung der Letten und Polen (und auch der linken Trotzki/ Parvus-Gruppierung bei den Menschewiki) wurde die bolschewistische Linie angenommen; der Parteitag verurteilte die Kadetten:

„Die Parteien der liberal-monarchistischen Bourgeoisie, angeführt durch die Konstitutionelle Demokratische Partei [Kadetten], haben sich jetzt endgültig von der Revolution abgewendet und wollen sie durch ein Abkommen mit der Konterrevolution aufhalten…“ (zitiert in Robert H. McNeal, Hrsg., Decisions and Resolutions ofthe Communist Party of the Soviet Union, 1974)

Ein anderer Antrag wies die Dumafraktion der SDAPR an, sich gegen „die verräterische Politik des bürgerlichen Liberalismus“ zu stellen, „der unter der Losung ‚Schützt die Duma‘ in Wirklichkeit die Interessen des Volkes den Schwarzhundertern opfert“ (ebenda). Einige Monate nach dem Parteitag beschloß eine Parteikonferenz, unabhängige SDAPR-Kandidaten in den bevorstehenden Dumawahlen aufzustellen und keine anderen Parteien zu unterstützen.

Die lettischen und polnischen Sozialdemokraten unterstützten zwar die allgemeine Linie der Bolschewiki auf dem V Parteitag, aber sie schwächten Lenins Kampf gegen die Menschewiki ab. Sie stimmten gegen Lenins Antrag, die menschewistische Mehrheit des ausscheidenden Zentralkomitees zu verurteilen. Daß die lettischen Sozialdemokraten und die SDKPiL die Seite wechselten, war auch der Grund für Lenins einzige ernsthafte Niederlage auf dem SDAPR-Parteitag 1907. Der Parteitag stimmte mit überwältigender Mehrheit gegen die „Kampfoperationen“ der Bolschewiki, bei denen sie Gelder der zaristischen Regierung „beschlagnahmten“.

In dieser Zeit konzentrierten die Menschewiki ihre Angriffe gegen die Leninisten auf diese bewaffneten Enteignungen. Ihre fast hysterische Reaktion kam daher, daß die Enteignungen durch die Bolschewiki einen Schockeffekt auf die respektablen bürgerlichen Liberalen hatten. Die Enteignungen gaben den Bolschewiki auch finanzielle Überlegenheit über die Menschewiki. Als die Menschewiki die Bolschewiki für deren Enteignung von Staatsgeldern verurteilten, waren sie davon überzeugt, die unanfechtbare sozialdemokratische Orthodoxie auf ihrer Seite zu haben.

Die Bolschewiki waren jedoch nicht mit der normalen Situation konfrontiert, wo solche Raubüberfälle sofort den Unterdrückungsapparat eines übermächtigen und zentralisierten Staats in Gang setzen. Auch liefen sie nicht Gefahr, von den Arbeitern verurteilt zu werden, die sie vielleicht bloß für politisch getarnte Kriminelle gehalten hätten. Und die Bolschewiki machten diese Enteignungen auch nicht zu einer „Strategie“ über längere Zeit, die wahrscheinlich zur Degenerierung in lumpenproletarische kriminelle Aktivitäten geführt hätte.

Lenin war überzeugt, daß es weiterhin eine revolutionäre Situation gab, in der die Masse der Arbeiter und Bauern aktiv feindlich gegen die zaristische Legalität war. Die Enteignungen der Bolschewiki konzentrierten sich auf den Kaukasus, wo bewaffnete Bauerntrupps und nationalistische Banden regelmäßig den zaristischen Machthabern trotzten. Lenin sah in den Enteignungen eine von mehreren Guerillataktiken in einem revolutionären Bürgerkrieg. Der Streit zwischen Bolschewiki und Menschewiki über die bewaffneten Enteignungen war daher unlösbar verbunden mit ihrer grundsätzlichen Differenz über die politische und militärische Avantgarderolle der proletarischen Partei in der Revolution zum Sturz der Selbstherrschaft.

Lenins Position zu den bewaffneten Enteignungen kam in einem Resolutionsentwurf für den IV. Parteitag vom April 1906 zum Ausdruck. An dieser Position hielt er im Jahr 1907 fest:

„In der Erwägung:

1. daß es seit dem Dezemberaufstand fast nirgends in Rußland zur völligen Einstellung der Kampfhandlungen gekommen ist, die jetzt von Seiten des revolutionären Volkes in einzelnen Partisanenüberfällen auf den Feind zum Ausdruck kommen … erklären wir und beantragen, der Parteitag wolle beschließen: … 4. Kampfaktionen sind gleichfalls zulässig, um Geldmittel, die dem Feind, d.h. der absolutistischen Regierung gehören, zu erbeuten und diese Mittel für die Erfordernisse des Aufstands zu verwenden, wobei streng darauf zu achten ist, daß die Interessen der Bevölkerung möglichst geschont werden …“ („Taktische Plattform zum Vereinigungsparteitag der SDAPR“, März 1906)

Zaristische Reaktion und die ultralinken Bolschewiki

Kurz nach dem V SDAPR-Parteitag führte der reaktionäre zaristische Minister Stolypin im Juni 1907 einen Staatsstreich gegen die Duma durch. Die Duma wurde aufgelöst und eine neue (dritte) Duma proklamiert, die auf einem weit weniger demokratischen Wahlrecht basierte. Außerdem wurden die sozialdemokratischen Abgeordneten verhaftet und wegen Anstachelung zur Meuterei in den Streitkräften angeklagt.

Stolypins Putsch markierte endgültig das Ende der revolutionären Periode von 1905. Mit dem Sieg der zaristischen Reaktion begann eine neue, und in einem gewissen Sinn die letzte, Phase des Konflikts zwischen Bolschewiki und Menschewiki, und zwar über die Notwendigkeit, die Untergrundorganisation als grundlegende Struktur der Partei wiederaufzubauen. Das Einsetzen der Reaktion rief auch eine sehr scharfe Trennungslinie innerhalb des bolschewistischen Lagers zwischen Leninismus und Ultralinkstum hervor; dieser Fraktionskampf mußte ausgekämpft werden, bevor der historisch viel bedeutendere Konflikt mit dem Menschewismus zu Ende geführt werden konnte.

Im Konflikt zwischen Lenin und den ultralinken Bolschewiki ging es hauptsächlich um die Beteiligung an dem reaktionären zaristischen Parlament. Hinter dieser Differenz stand Lenins Erkenntnis, daß eine Periode der Reaktion begonnen hatte, die einen taktischen Rückzug der revolutionären Partei erforderte. Die erste Schlacht fand auf einer SDAPR-Konferenz im Juli 1907 statt, auf der die Politik zu den bevorstehenden Dumawahlen festgelegt werden sollte. Lenin war immer noch überzeugt, daß Rußland eine allgemein revolutionäre Periode durchmachte, meinte aber, den Boykott der Wahlen aus taktischen Gründen nicht rechtfertigen zu können:

„In der Erwägung,

1. daß der aktive Boykott, wie die Erfahrungen der russischen Revolution gezeigt haben, nur dann die richtige Taktik der Sozialdemokratie ist, wenn ein umfassender, allgemeiner, rascher, in den bewaffneten Aufstand übergehender revolutionärer Aufschwung zu verzeichnen ist, und nur im Zusammenhang mit den ideologischen Aufgaben des Kampfes gegen die konstitutionellen Illusionen bei der Einberufung der ersten Vertretungskörperschaft durch die alte Macht;

2. daß die richtige Taktik der revolutionären Sozialdemokratie, wenn diese Bedingungen nicht gegeben sind, selbst beim Vorhandensein sämtlicher Bedingungen einer revolutionären Epoche, die Beteiligung an den Wahlen erfordert, wie das auch bei der II. Duma der Fall war…“ („Resolutionsentwurf zur Frage der Teilnahme an den Wahlen zur III. Reichsduma“, Juli 1907)

Als Lenin diesen Antrag vorlegte, war er als einziger der neun bolschewistischen Konferenzdelegierten dafür. Der Antrag wurde mit den Stimmen der Menschewiki, des Bundes und der lettischen und polnischen Sozialdemokraten angenommen; alle Bolschewiki außer Lenin stimmten dagegen.

Gewiß waren die Boykottisten unter den Bolschewiki auf dieser bestimmten Parteiversammlung erheblich überrepräsentiert. Lenin hatte bedeutende Unterstützung für seine Position unter den bolschewistischen Kadern und Mitgliedern und konnte sie rasch weiter ausbauen. Jedoch war die ultralinke Fraktion von 1907-09 die bedeutendste Herausforderung von Lenins Führung der bolschewistischen Organisation, mit der er jemals konfrontiert war. Die ultralinken Führer — Bogdanow (der Lenins rechte Hand gewesen war), Lunatscharski, Ljadow, Alexinski, Krassin — waren sehr prominente Bolschewiki. Es ist durchaus möglich, daß zu dieser Zeit die Mehrheit der bolschewistischen Mitglieder für einen Boykott der zaristischen Duma war. Nur Lenins große persönliche Autorität verhinderte die Entwicklung einer ultralinken Fraktion, die stark genug gewesen wäre, ihn und seine Anhänger aus der offiziellen bolschewistischen Zentrale rauszuwerfen oder eine größere Spaltung zustande zu bringen.

Bei diesem Fraktionskampf half Lenin die Heterogenität der ultralinken Tendenz. Eine nicht sehr wichtige taktische Frage teilte die ultralinken Bolschewiki in zwei getrennte Gruppierungen, die Otsowisten (Abberufer) und die Ultimatisten. Die Otsowisten verlangten die sofortige, bedingungslose Abberufung der SDAPR-Dumafraktion. Die Ultimatisten verlangten, der Dumafraktion ein Ultimatum zu stellen, aufrührerische Reden zu halten, wodurch die zaristische Staatsgewalt dazu provoziert würde, sie aus der Duma auszuschließen oder noch Schlimmeres zu tun. In der Praxis hätten beide Taktiken dieselbe Wirkung gehabt, und Lenin bestritt, daß es eine bedeutende Differenz zwischen seinen ultralinken Gegnern gäbe.

Lenins Position zur ultralinken Fraktion wurde im Juli 1909 in Resolutionsform einer Beratung der erweiterten Redaktion von Proletari vorgelegt; dies stellte faktisch ein Plenum der zentralen Führung der Bolschewiki dar. Auf dieser Konferenz wurde Bogdanow aus der bolschewistischen Organisation ausgeschlossen. Die Schlüsselstellen der Resolution erklären:

„Der unmittelbare revolutionäre Kampf der breiten Massen wurde durch eine drückend schwere Periode der Konterrevolution abgelöst; für die Sozialdemokraten ergab sich die Notwendigkeit, ihre revolutionäre Taktik auf diese neue politische Lage auszurichten, und im Zusammenhang damit wurde unter anderem die Ausnutzung der öffentlichen Dumatribüne zur Unterstützung der sozialdemokratischen Agitations-und Organisationsarbeit zu einer im höchsten Grade wichtigen Aufgabe.

Dabei aber vermochte ein Teil der Arbeiter die an unmittelbaren revolutionären Kampf teilgenommen haben, bei diesem raschen Wechsel der Ereignisse nicht sofort die revolutionäre sozialdemokratische Taktik unter den neuen Verhältnissen der Konterrevolution anzuwenden und verharrte auf der einfachen Wiederholung der Losungen, die in der Epoche des offenen Bürgerkriegs revolutionär waren, jetzt aber bei bloßer Wiederholung nur geeignet sind den Prozeß des Zusammenschlusses des Proletariats unter den neuen Bedingungen des Kampfes aufzuhalten.“ („Über Otsowismus und Ultimatismus“, Juli 1909)

Bogdanows Antwort auf Lenin ist in seinem „Brief an alle Genossen“ von 1910 zusammengefaßt, einem Gründungsdokument seiner eigenen unabhängigen Gruppe:

„Einige Eurer Vertreter im exekutiven Kollegium — der bolschewistischen Zentrale —, die im Ausland leben, sind zu dem Schluß gekommen, daß wir unsere frühere bolschewistische Einschätzung des gegenwärtigen geschichtlichen Zeitpunkts radikal ändern und nicht in Richtung einer neuen revolutionären Welle, sondern einer langen Periode friedlicher konstitutioneller Entwicklung steuern müssen. Das bringt sie in die unmittelbare Nähe des alten rechten Flügels unserer Partei, der menschewistischen Genossen, die immer, unabhängig von irgendwelcher Einschätzung der politischen Lage, legale und konstitutionelle Tätigkeitsformen, ‚organische Arbeit‘ und ‚organische Entwicklung‘, bevorzugen.“ (Zitiert in Robert V. Daniels, Hrsg.,^4 Documentary History ofCommunism, 1960)

Bogdanows Formulierung „eine lange Periode friedlicher konstitutioneller Entwicklung“ ist zweideutig, was vielleicht beabsichtigt war. Im Gegensatz zu vielen Menschewiki meinte Lenin nicht, daß eine neue Revolution für eine ganze historische Epoche, d.h. für mehrere Jahrzehnte, nicht mehr auf der Tagesordnung wäre. Bis 1908 war er zum Schluß gekommen, daß es vor einem weiteren revolutionären Aufschwung (wie dem von 1905) eine längere Periode geben würde, und zwar hinsichtlich der praktischen Perspektiven der Partei und gemessen an den früheren Erfahrungen und Erwartungen der Bolschewiki. 1908 war nicht 1903. Und genau diese Realität leugneten die Otsowisten/ Ultimatisten.

Philosophie und Politik

Der Otsowismus/Ultimatismus hing mit dem neukantianischen idealistischen Dualismus zusammen, den der österreichische Physiker und Philosoph Ernst Mach vertrat — eine philosophische Richtung, die damals in Intellektuellenkreisen Mitteleuropas groß in Mode war. Bogdanows Werk Empiriomonismus (1905/06) war ein ehrgeiziger Versuch, den Marxismus mit dem Neokantianismus zu versöhnen. 1908 vertiefte Bogdanows Fraktionspartner Lunatscharski diesen Idealismus zu offenem Spiritualismus und vertrat die Notwendigkeit einer sozialistischen Religion. Lunatscharskis „Gottbildnertum“ war selbstverständlich für die Bolschewiki insgesamt und selbst für die Fraktion der Otsowisten/Ultimatisten sehr peinlich.

Bogdanows Sympathie für die neokantianische Philosophie reichte lange zurück und war allgemein bekannt. Solange Bogdanow als Lenins rechte Hand fungierte und selbst keine eigene politische Tendenz darstellte, hielten sowohl Bolschewiki wie Menschewiki seinen Neokantianismus für eine persönliche Marotte. Aber als Bogdanow dann zum Führer einer eigenständigen und zeitweilig bedeutenden Tendenz in der russischen Sozialdemokratie wurde, wurden seine philosophischen Ansichten zum Brennpunkt der allgemeinen politischen Kontroverse. Besonders Plechanow schlachtete den Bogdanowismus aus, um das Programm der Bolschewiki als Produkt des krassen subjektiven Idealismus anzugreifen. So verbrachte Lenin einen Großteil des Jahres 1908 mit Studien für eine größere Polemik gegen Bogdanows Neokantianismus, Materialismus und Empiriokritizismus, um den Bolschewismus von jeder Spur des philosophischen Idealismus zu reinigen.

Lenins enge politische Zusammenarbeit mit Bogdanow trotz dessen Neokantianismus einerseits und seine massive Polemik gegen Bogdanows philosophische Ansichten andererseits haben vorgeblich revolutionäre Marxisten dazu benutzt, symmetrische Abweichungen in dieser Frage zu rechtfertigen. Die Tatsache, daß der Neokantianer Bogdanow ein wichtiger Führer der Bolschewiki war, wird manchmal angeführt, um eine Gleichgültigkeit gegenüber dem dialektischen Materialismus zu begründen — in der Überzeugung, daß der allgemeinste oder abstrakteste Ausdruck der marxschen Weltanschauung nichts mit der praktischen Politik und der damit verbundenen Organisationszugehörigkeit zu tun habe. Als der amerikanische Revisionist Max Shachtman 1940 mit dem Trotzkismus brach, rechtfertigte er seinen Block mit dem Antidialektiker und Empiriker James Burnham durch den „Präzedenzfall“ Lenin und Bogdanow.

Umgekehrt hat Lenins ausführliche Polemik gegen die idealistische Abweichung eines Opponenten vom Marxismus die Tendenz gestärkt, jeden Fraktionskampf dadurch zu „vertiefen“, daß man philosophische Fragen heranzieht — und alle politischen Differenzen auf die Frage des dialektischen Materialismus reduziert. Diese Mischung aus Bombast und rationalem Idealismus ist zum Merkmal der britischen Gruppe von Gerry Healy geworden. (Die Healy/ Banda-Gruppe ist derart bizarr geworden, daß sie nicht mehr ernst zu nehmen ist, am allerwenigsten ihre philosophischen Mystifikationen.)

Die Healy-Anhänger rechtfertigten ihre Abspaltung 1972 von ihren ehemaligen Blockpartnern, der französischen neokautskyanischen Organisation Communiste Internationaliste (OCI), damit, daß sie das Primat der „Philosophie“ postulierten. Sie beriefen sich auf Lenins Polemik gegen Bogdanow 1908 als orthodoxen Präzedenzfall:

„Lenin studierte unermüdlich die Ideen der neuen Idealisten, der Neokantianer, auf dem Gebiet der Philosophie, sogar während des härtesten praktischen Kampfes für den Aufbau der revolutionären Partei in Rußland. Als diese Ideen in Gestalt des ‚Empiriokritizismus‘ von einem Teil der Bolschewiki selbst aufgegriffen wurden, untersuchte Lenin diese Ideen eingehend und schrieb ein umfangreiches Werk gegen sie, Materialismus und Empiriokritizismus.

Lenin verstand sehr wohl, daß die Jahre der größten Not und Isolierung nach der Niederlage der Revolution von 1905 die revolutionäre Bewegung dem äußersten Druck des Klassenfeindes aussetzte. Er wußte, daß die grundlegendste aller Aufgaben in der Verteidigung und Entwicklung der marxistischen Theorie auf dem grundsätzlichsten Niveau bestand, auf dem der Philosophie.“ (International Committee, In Defence of Trotskyism, 1973, unsere Hervorhebung)

Diese Passage stellt auf mehreren Ebenen eine vollständige Fälschung dar. Zunächst einmal richtete sich Lenins historisch wichtigerer politischer Kampf in der Periode der Reaktion nicht gegen Bogdanows ultralinke Bolschewiki, sondern gegen die menschewistischen Liquidatoren. In diesem Kampf spielten philosophische Fragen keine besondere Rolle.

Lenin spielt Schach mit Bogdanow in Capri Roger Viollet Paris

Lenin spielt Schach mit Bogdanow in Capri

Die Healyisten fälschen auch Lenins Beziehung zu Bogdanow. Als Bogdanow 1904 Mitglied der Führung der Bolschewiki wurde, war er bereits als Neokantianer (Machist) allgemein bekannt. Lenin und Bogdanow einigten sich darauf, daß die Bolschewiki als Tendenz keine Stellung zu den kontroversen philosophischen Fragen beziehen würden. Dies erklärt Lenin in einem Brief an Maxim Gorki (25. Februar 1908), wo er seine frühere Beziehung zu Bogdanow trotz dessen philosophischer Abweichung billigt:

„Im Sommer und Herbst 1904 sind wir uns mit Bogdanow als Bolschewiki endgültig einig geworden und haben jenen stillschweigenden und die Philosophie als neutrales Gebiet stillschweigend ausschließenden Block gebildet, der die ganze Revolution hindurch fortbestanden und es uns ermöglicht hat, in der Revolution gemeinsam jene Taktik der revolutionären Sozialdemokratie (= des Bolschewismus) zu verfolgen, die meiner tiefsten Überzeugung nach die einzig richtige gewesen ist.“ (Hervorhebung im Original)

Es war der rechte Menschewik Plechanow, der die Frage von dialektischem Materialismus kontra Neokantianismus in den Vordergrund rückte, um die Führung der revolutionären Bolschewiki zu diskreditieren und zu spalten. Als Lenin die Bolschewiki gegen Plechanow verteidigte, ging er so weit, daß er bestritt, daß die Frage des neukantianischen Revisionismus für die revolutionäre Bewegung in Rußland überhaupt relevant sei. Auf dem rein bolschewistischen Parteitag im April 1905 erklärte Lenin:

„Da Plechanow nicht beweisen kann, daß der ‚Wperjod‘ Marx ‚kritisieren‘ will, müssen eben Mach und Avenarius herhalten. Es ist mir absolut unerfindlich, was diese Schriftsteller, für die ich nicht die geringste Sympathie hege, mit der Frage der sozialen Revolution zu tun haben sollen. Sie schrieben über individuelle und soziale Organisation der Erfahrung, oder irgend etwas Ähnliches, machten sich aber wahrhaftig keine Gedanken über die demokratische Diktatur.“ („Referat über die Teilnahme der Sozialdemokratie an einer provisorischen revolutionären Regierung“, 18. April 1905)

Zum Teil als Ergebnis seiner späteren Auseinandersetzung mit Bogdanow änderte Lenin seine Position von 1905 ab, die eine allzu willkürliche Trennlinie zwischen politischen und philosophischen Differenzen zog. Er kam zu dem Schluß, daß grundlegende Differenzen zwischen Marxisten über den dialektischen Materialismus wahrscheinlich zu politischen Abweichungen führen werden. Allerdings war für Lenin weiterhin das Programm in erster Linie bestimmend für die revolutionäre Politik und die damit verbundene organisatorische Zugehörigkeit. Von seiner engen Zusammenarbeit mit Bogdanow 1904-07 hat sich Lenin nie distanziert. Und er hatte absolut Recht, sich mit Bogdanow, einem revolutionären Sozialdemokraten, auch wenn der Neukantianer war, gegen Plechanow, einen proliberalen Sozialdemokraten, auch wenn der dialektischer Materialist war, zu verbünden. Erst als Bogdanows neukantianische Konzeptionen mit einem politischen Programm in Verbindung traten, das dem Marxismus entgegengesetzt war, machte Lenin die Verteidigung des dialektischen Materialismus gegen den philosophischen Idealismus zu einer zentralen politischen Aufgabe.

Gegen die Mystifizierung der Dialektik

Das marxistische Programm als der wissenschaftliche Ausdruck der Interessen der Arbeiterklasse und des gesellschaftlichen Fortschritts leitet sich nicht einfach vom subjektiven Wunsch nach einer sozialistischen Zukunft ab. Das marxistische Programm verkörpert notwendigerweise ein korrektes Verständnis der Realität, dessen allgemeinster oder abstraktester Ausdruck der dialektische Materialismus ist. Doch wie Marx 1877 an die Zeitung der russischen Populisten, Otetschestwennyje Sapiski, selbst schrieb, bot er keine allgemeine „geschichtsphilosophische Theorie, deren größter Vorzug darin besteht, übergeschichtlich zu sein“ (November 1877). Der dialektische Materialismus ist ein begrifflicher Rahmen, der ein wissenschaftliches Verständnis der Gesellschaft in ihrer konkreten historischen Entwicklung erlaubt, aber nicht garantiert. Mit anderen Worten: Das Verständnis der dialektischen Natur der sozialen Realität ist Leitfaden für ein Gefüge historischer Verallgemeinerungen (z. B. daß der Staatsapparat unter dem Kapitalismus nicht zu einem sozialistischen Verwaltungsorgan reformiert werden kann, daß in dieser Epoche ein kollektiviertes Wirtschaftssystem die gesellschaftliche Vorherrschaft des Proletariats darstellt), das den marxistischen programmatischen Grundsätzen zugrundeliegt.

Die Mystifizierung der marxistischen Herangehensweise an die Philosophie durch die Healyisten ist ein Produkt ihrer Degenerierung zu einem bizarren Führerkult. Anfang der 60er Jahre verstand Healys Socialist Labour League, daß der dialektische Materialismus nur ein verallgemeinerter Ausdruck einer einheitlichen Weltanschauung ist und keineswegs ein abstraktes Schema oder eine Methode mit einer von der empirischen Realität unabhängigen Existenz. Cliff Slaughters Artikel aus den Jahren 1962/63 über Lenins Hegel-Studien aus den Jahren 1914/15, die 1971 als Broschüre unter dem Name Lenin on Dialectics nachgedruckt wurden, enthalten einen scharfsinnigen Angriff auf die Idealisierung der Dialektik:

„Was Hegel betont, wird von Lenin ausdrücklich hervorgehoben: Die Dialektik ist kein Universalschlüssel, keinerlei magische Zahlensammlung, wodurch alle Geheimnisse offenbart werden. Es ist falsch, dialektische Logik für etwas zu halten, das in sich selbst vollendet ist und das man dann auf bestimmte Beispiele ‚anwendet‘. Sie ist kein Interpretatiönsmuster, das man lernt und dann von außen an die Realität ansetzt; die Aufgabe ist vielmehr, das Entwicklungsgesetz der Realität selbst zu entdecken…

Die von Marx begründete Gesellschaftswissenschaft hat keinen Platz für die Philosophie als solche, für die Idee eines sich unabhängig bewegenden Denkens mit eigenem Inhalt und eigener Entwicklung, das von der Realität unabhängig ist, aber manchmal herabsteigt und diese beeinflußt.“

Slaughter zitiert dann Marx‘ Urteil über einen philosophischen Begriff in der Deutschen Ideologie: „Die selbständige Philosophie verliert mit der Darstellung der Wirklichkeit ihr Existenzmedium.“ Aber bis Ende der 60er Jahre hatten die Healyisten ein Existenzmedium für die Philosophie als unabhängige Theorie „wiederentdeckt“. Der dialektische Materialismus wurde groß hinausposaunt als „die Erkenntnistheorie des Marxismus“, als ein Ausdruck des Zweiges der Philosophie, der als Epistemologie bekannt ist. So lesen wir in einer Dokumentensammlung über die Abspaltung von der OCI (Break with Centrisml, 1973):

„Das Wesentlichste bei der Vorbereitung der Sektionen war, den dialektischen Materialismus zu entwickeln im Kampf, das Bewußtsein der Arbeiterklasse unter den sich ändernden objektiven Bedingungen zu verstehen und von Grund auf zu verändern. Dies bedeutet das Verständnis und die Entwicklung des dialektischen Materialismus als Erkenntnistheorie des Marxismus…

Wir sagen mit Bestimmtheit, daß der dialektische Materialismus die Erkenntnistheorie des Marxismus ist, über den Weg, wie man durch Kampf vom Irrtum zur Wahrheit kommt — nicht zu einer ‚endgültigen‘ Wahrheit, aber durch widersprüchlichen Kampf zu ständigen Fortschritten im wirklichen Verständnis der objektiven Welt…“

Diese healyistische Vorstellung vom dialektischen Materialismus ist sowohl ungeheuer beschränkt als auch eine Idealisierung der Erkenntnis. Es gibt keine gültige, eigenständige Erkenntnistheorie. Auf der Ebene der individuellen Wahrnehmung wird eine Erkenntnistheorie von wissenschaftlichen Untersuchungen der Biologie und Psychologie abgeleitet. Auf der Ebene des gesellschaftlichen Bewußtseins ist eine Erkenntnistheorie Bestandteil eines Verständnisses von historisch spezifischen gesellschaftlichen Verhältnissen. Zentral für das marxistische Verständnis von Erkenntnis ist daher der Begriff des falschen Bewußtseins, der Entstellung der Wirklichkeit, die notwendigerweise mit verschiedenen gesellschaftlichen Rollen einhergeht.

Lunatscharski Dietz Verlag

Lunatscharski

Die traditionelle philosophische Kategorie der Epistemologie [Erkenntnistheorie] (sowohl in ihrer empirischen als auch ihrer rationalistischen Form) ist selbst ein ideologischer Ausdruck falschen Bewußtseins, weil sie das bewußte Subjekt von der Natur und der Gesellschaft trennt. Der dialektische Materialismus kritisiert die verschiedenen traditionellen Begriffe der Erkenntnistheorie ebenso wie andere philosophische Begriffe und Kategorien. Aber der Marxismus kritisiert die traditionell le Philosophie nicht dadurch, daß er sich als neue, alternative Philosophie aufstellt, die ebenso unabhängig von einem wissenschaftlichen (d.h. empirisch nachweisbaren) Verständnis der Natur und Gesellschaft existiert.

Die Mystifizierung des dialektischen Materialismus durch die Healyisten — „der Weg, wie man durch Kampf vom Irrtum zur Wahrheit kommt“ — ist in erster Linie eine Rechtfertigung für die Unfehlbarkeit eines Führerkults. Programm, Analysen, Taktik und Perspektiven der healyistischen Führung sind nach deren Auffassung von empirischer Nachprüfung ausgenommen. Zum Beispiel behaupten die Healyisten bis heute, daß Kuba kapitalistisch sei! Kritikern und Oppositionellen wird erzählt, daß sie die Realität nicht verstehen; diese Fähigkeit ist das Monopol der Führung, die allein die dialektische Methode gemeistert hat. Die Ähnlichkeit zwischen der healyistischen Auffassung von Dialektik und der religiösen Mystik ist kein Zufall.

Zusammenfassend: Eine systematische Ablehnung des dialektischen Materialismus (z. B. Bogdanow, Burnham) muß früher oder später zu einem Bruch mit dem wissenschaftlichen marxistischen Programm führen. Aber wie Healy zu glauben, daß jede ernste politische Differenz innerhalb einer revolutionären Partei auf antagonistische philosophische Begriffe reduziert werden kann oder muß, ist eine Art rationaler Idealismus. Solch philosophischer Reduktionismus leugnet die Tatsache, daß politische Differenzen allgemein daraus entstehen, daß verschiedenartiger Druck und Einfluß der Gesellschaft auf der revolutionären Avantgarde und deren Bestandteilen lasten, und daß es Differenzen bei der Einschätzung der empirischen Verhältnisse und Möglichkeiten gibt.

Die Bedeutung des Kampfes gegen den Otsowismus/Ultimatismus

Das Ende des Fraktionskampfes zwischen Leninisten und Otsowisten/Ultimatisten kam auf der oben erwähnten Konferenz der erweiterten Redaktion von Proletari im Juli 1909. Die Konferenz beschloß, daß der Bolschewismus „mit dem Otsowismus und dem Ultimatismus nichts gemein hat und daß die bolschewistische Fraktion diese Abweichungen vom Wege des revolutionären Marxismus aufs entschiedenste bekämpfen muß“. Als Bogdanow sich weigerte, diese Resolution anzuerkennen, wurde er aus der bolschewistischen Fraktion ausgeschlossen.

Wie schon im ersten Kapitel erwähnt, bekräftigte Lenin in seiner Rechtfertigung für Bogdanows Ausschluß eindeutig, daß dieser an der kautskyanischen Doktrin festhielt, wonach die Partei alle Sozialdemokraten (d. h. auf die Arbeiterklasse orientierte Sozialisten) umfassen sollte. Dabei machte er einen scharfen Unterschied zwischen einer Fraktion, deren Programm und Perspektive politisch homogen sein müssen, und der kautskyanischen „Partei“:

„Der Bolschewismus ist bei uns als bolschewistische Fraktion der Partei vertreten. Die Fraktion ist aber nicht die Partei. Die Partei kann eine ganze Skala von Schattierungen umschließen, von denen die extremsten sogar einander schroff widersprechen können. In der deutschen Partei haben wir neben dem ausgeprägt revolutionären Flügel Kautskys den erzrevisionistischen Flügel Bernsteins. Das kann eine Fraktion nicht. In der Partei ist eine Fraktion eine Gruppe von Gleichgesinnten, die sich gebildet hat, um vor allem in einer bestimmten Richtung auf die Partei einzuwirken, um ihre Prinzipien in der Partei in möglichst reiner Form durchzusetzen. Dazu bedarf es wirklich gleicher Gesinnung. Diesen Unterschied in den Forderungen, die wir an die Einheit der Partei und an die Einheit der Fraktion stellen, muß jeder begreifen, der hinsichtlich der wirklichen Lage der Dinge, hinsichtlich der inneren Reibungen in der bolschewistischen Fraktion ein klares Bild erlangen will.“ („Mitteilung über eine Beratung der erweiterten Redaktion des ‚Proletari‘“, Juli 1909, Hervorhebung im Original)

Nach Bogdanows Ausschluß bildeten Lenin und seine gleichgesinnten Genossen ihre eigene Gruppe um die Zeitung Wperjod und wählten dafür bewußt den Namen des ersten bolschewistischen Organs (von 1905). Die Wperjodisten appellierten im Namen des wahren Bolschewismus an die bolschewistischen Mitglieder. Obwohl viele bolschewistische Arbeiter die Position der Otsowisten/Ultimatisten über die Beteiligung an den Duma-Wahlen teilten, waren sie nicht bereit, sich über diese Frage von Lenins Organisation abzuspalten. Lenin mußte daher in den folgenden paar Jahren verschwommene ultralinke Einstellungen an der bolschewistischen Basis bekämpfen, bis die Tendenzen des Otsowismus/Ultimatismus völlig verschwanden.

Der Anspruch der Otsowisten/Ultimatisten auf die wahre bolschewistische Tradition und ihre Behauptung, Lenin sei ein menschewistischer Versöhnler geworden, konnten nicht kurzerhand als lächerlich abgetan werden. Bogdanow, Ljadow, Krassin und Alexinski hatten zu Lenins wichtigsten Mitarbeitern gehört, dem Kern der früheren bolschewistischen Zentrale. Lunatscharski war ein bekannter Sprecher der Bolschewiki gewesen. Die Menschewiki griffen Lenin also dafür an, daß sich seine bekanntesten und begabtesten Mitarbeiter von ihm getrennt hatten. Im Fraktionskampf 1907-09 gegen den Otsowismus/Ultimatismus kristallisierte sich eine neue leninistische Führung aus den jüngeren bolschewistischen Kadern heraus — Sinowjew, Kamenjew, Rykow, Tomski und etwas später Stalin. Diese sollten bis in die Anfangszeit des Sowjetregimes der zentrale Kern der bolschewistischen Führung sein.

Wie kann man erklären, daß die meisten bolschewistischen Führer der ersten Generation zum Ultralinkstum übergingen, um einer zweiten Generation Platz zu machen, die sich den Leninismus in seiner entscheidenden Weiterentwicklung zu eigen machte? Die Bolschewiki entstanden nicht nur als der revolutionäre Flügel der russischen Sozialdemokratie, sondern waren empirisch optimistisch über die Perspektiven des revolutionären Kampfes. Und dieser selbstbewußte Optimismus wurde durch die Ereignisse bestätigt. Die Zeit von 1903 bis 1907 war im allgemeinen durch eine aufsteigende Linie des revolutionären Kampfes gekennzeichnet, und das ermöglichte es den Bolschewiki, eine Massenpartei zu werden. Es ist daher verständlich, daß ein Teil der Bolschewiki nicht bereit war, der Tatsache ins Auge zu sehen, daß die Reaktion gesiegt hatte und dies einen breiten organisatorischen Rückzug erforderte. Diese Bolschewiki reagierten auf eine ungünstige Wirklichkeit mit einem sterilen, dogmatischen Radikalismus, dessen extreme Form sozialistischer Spiritualismus war. Es ist kennzeichnend für Lenins Größe als revolutionärer Politiker, daß er den Sieg der Reaktion in vollem Ausmaß erkannte und die Perspektiven der proletarischen Avantgarde entsprechend darauf einstellte, auch wenn dies einen Bruch mit manchen seiner bis dahin engsten Mitarbeiter bedeutete.

Lenin

Die endgütige Spaltung mit den Menschewiki

Nach Stolypins Staatsstreich im Juni 1907 wurde die Sozialdemokratische Arbeiterpartei Rußlands (SDAPR) verboten und ihre Duma-Abgeordneten verhaftet. Parteifraktionen konnten in legalen und halblegalen Arbeiterorganisationen (z.B. Gewerkschaften und Genossenschaften) weiterhin existieren, aber die Partei als solche konnte nur als Untergrundorganisation existieren. Das vollständige Parteiprogramm konnte nur in einer illegalen Zeitung dargestellt werden. Ende 1907/Anfang 1908 mußten die lokalen Komitees untertauchen, wenn sie überhaupt als funktionierende Gremien überleben wollten.

Die notwendige Umwandlung in eine Untergrundorganisation führte an sich zu einer erheblichen Schrumpfung der Partei. Viele politisch unerfahrene Arbeiter und radikalisierte Intellektuelle, die in der revolutionären Periode zur Partei gewonnen worden waren, waren nicht bereit oder nicht fähig, im Untergrundnetz zu funktionieren. Außerdem verstärkte die Welle von Verzweiflung, die mit dem Sieg der zaristischen Reaktion über die arbeitenden Massen hinwegrollte, die Austritte aus der verbotenen und verfolgten SDAPR. 1908 konnte die SDAPR nur als relativ enges Netz von völlig überzeugten Revolutionären bestehen.

Menschewistisches Liquidatorentum und dessen Zweck

Die Verhältnisse im Jahr 1908 ließen also die ursprünglichen organisatorischen Differenzen, die die russische Sozialdemokratie in Bolschewiki und Menschewiki gespalten hatten, wieder aufleben. Wie wir gesehen haben, akzeptierten die Menschewiki auf dem „Vereinigungs“parteitag 1906 Lenins Definition der Mitgliedschaft, weil unter den damaligen relativ offenen Verhältnissen die formale organisatorische Beteiligung und Disziplin keine Barriere zur Rekrutierung auf breiter Basis waren. Doch 1908 brach die alte Auseinandersetzung über eine enge, zentralisierte Partei kontra eine breite, amorphe Organisation mit erneuter Wut aus.

Die meisten Kader der Menschewiki folgten nicht den Bolschewiki in die Untergrundarbeit. Unter der Leitung von A. N. Potressow, dem führenden Mitglied ihrer Tendenz in Rußland, beschränkten sich die menschewistischen Kader auf die legalen Arbeiterorganisationen und beschäftigten sich mit der Herausgabe einer legalen Zeitung. Diese sozialdemokratischen Aktivisten, die keiner Parteiorganisation oder -disziplin unterlagen, hielten sich trotzdem für Mitglieder der SDAPR und wurden auch von der menschewistischen Führung im Ausland so betrachtet. Lenin prangerte diese menschewistische Politik als Liquidatorentum an, als faktische Auflösung der SDAPR zugunsten einer amorphen Bewegung, die auf liberaler Arbeiterpolitik beruhte.

Der Konflikt zwischen den Bolschewiki und Menschewiki über das Liquidatorentum kann nicht einfach oberflächlich als Ausdruck entgegengesetzter Organisationsprinzipien verstanden werden. Das Liquidatorentum der Menschewiki war stark durch die Tatsache bedingt, daß die Bolschewiki eine Mehrheit in den führenden Gremien der offiziellen SDAPR hatten. Das Liquidatorentum war die extreme Form einer allgemeineren Tendenz der Menschewiki, sich von der leninistischen Führung der SDAPR zu distanzieren.

Ende 1907 erklärte die SDAPR-Fraktion in der neuen Duma, wo die Menschewiki die Fraktionsmehrheit hatten, ihre Unabhängigkeit von der Exilzentrale der Partei mit der Begründung, dadurch eine notwendige legale Deckung zu erhalten. Öffentlich die Unterordnung der Duma-Abgeordneten unter die Exilführung der Partei zurückzuweisen hätte eine legitime Sicherheitsmaßnahme sein können. Aber die menschewistischen Parlamentarier gaben dieser legalen Deckung einen wirklichen politischen Inhalt. Die opportunistische Tätigkeit der menschewistischen Parlamentarier bestärkte die bolschewistischen Ultralinken, die die Duma überhaupt boykottieren wollten.

Anfang 1908 gründete die menschewistische Führung im Exil (Martow, Dan, Axelrod, Plechanow) erneut ihr eigenes Fraktionsorgan, Golos Sozial-Demokrata (Stimme des Sozialdemokraten). Mitte 1908 trat der Menschewik M.I. Broido, Mitglied des Zentralkomitees in Rußland, aus dem ZK aus, angeblich aus Protest gegen die bewaffneten Enteignungen durch die Bolschewiki. Etwa zur gleichen Zeit zirkulierten die zwei menschewistischen Mitglieder des Zentralkomitees im Ausland, B.I. Goldman und Martynow, ein Memorandum, das erklärte, die offizielle Parteiführung sollte, angesichts des desorganisierten Zustands der Bewegung in Rußland, keine Anweisungen geben, sondern sich darauf beschränken, sozialdemokratische Aktivitäten passiv zu überwachen.

Wäre Martow statt Lenin Führer der offiziellen SDAPR gewesen, hätten sich die Menschewiki zweifellos völlig loyal gegenüber der etablierten Parteiorganisation verhalten (und hätten außerdem die Parteistatuten als Schwert benutzt, um die Bolschewiki rücksichtslos auseinanderzuhauen). Doch im Gegensatz zu den Leninisten waren die Menschewiki prinzipiell dagegen, die sozialdemokratische Partei als Untergrundorganisation zu definieren. Martows Position über das Verhältnis der Partei zur Untergrundorganisation wird 1909 in der August/ September-Ausgabe von Golos Sozial-Demokrata präzise erklärt:

Plechanow Dietz Verlag

Plechanow

„… eine mehr oder weniger fest umrissene und bis zu einem gewissen Grade verschwörerische Organisation macht jetzt Sinn (sogar großen Sinn) nur insofern, daß sie sich an dem Aufbau einer sozialdemokratischen Partei beteiligt, die notwendigerweise weniger fest umrissen ist und ihre Hauptstützen in offenen Arbeiterorganisationen hat.“ (Zitiert in Israel Getzler, Martov, 1967, Hervorhebung im Original)

Diese Position, die Bedeutung der Untergrundarbeit zu begrenzen, stellte sowohl den Wunsch nach bürgerlich-liberaler Respektabilität dar als auch eine Tendenz, die Partei mit breiten, umfassenden Arbeiterorganisationen gleichzusetzen.

Die Menschewiki waren bereit, illegale, klandestine Arbeit zu leisten, um ihr eigenes Programm und ihre eigene Organisation zu fördern, und waren gleichzeitig gegen eine Untergrundpartei als solche. Ab 1911 schufen die menschewistischen Liquidatoren ihr eigenes Untergrundnetz, auch wenn es nicht so effektiv war wie das der Bolschewiki und auch nicht dessen Masseneinfluß erreichte.

Das menschewistische Liquidatorentum von 1908-12 war ein extremer Ausdruck von sozialdemokratischem Opportunismus, das Ergebnis folgender Hauptfaktoren: 1. dem Wunsch nach bürgerlich-liberaler Respektabilität; 2. einer allgemeinen Ausrichtung darauf, die Partei mit breiten, umfassenden Arbeiterorganisationen gleichzusetzen; 3. der Tatsache, daß solche Organisationen legal waren, die Partei als solche aber nicht; 4. der Tatsache, daß Lenin die Führung der offiziellen SDAPR hatte; und 5. der organisatorischen Schwäche der Menschewiki.

Der Kampf beginnt

Der Kampf über das Liquidatorentum begann formal auf der SDAPR-Konferenz im Dezember 1908 in Paris. Auf dieser Konferenz hatten die Bolschewiki fünf Delegierte (drei von ihnen Ultralinke) und ihre Verbündeten, die polnischen Sozialdemokraten von Luxemburg/Jogiches, auch fünf; die Menschewiki hatten drei Delegierte und ihre Verbündeten, der Bund, auch drei.

Alle Teilnehmer an dieser Konferenz (außer den ultralinken Bolschewiki) erkannten, daß die revolutionäre Situation endgültig vorbei war und daß eine unbestimmte Zeit der Reaktion bevorstand. Die Aufgaben und Perspektiven der Partei müßten entsprechend geändert werden. In diesem Zusammenhang betonte Lenin, daß die illegale Parteiorganisation Vorrang haben müsse. Lenins Resolution zu dieser Frage wurde angenommen, wobei die Menschewiki dagegen stimmten und die Bundisten gespalten waren:

„… die geänderten politischen Umstände machen es zunehmend unmöglich, die sozialdemokratische Tätigkeit im Rahmen der legalen und halblegalen Arbeiterorganisationen zu halten…

Die Partei muß besondere Aufmerksamkeit auf die Verwendung und Verstärkung bestehender illegaler, halblegaler und wo möglich legaler Organisationen richten — und auf die Schaffung von neuen —, die ihr als Stützpunkte für die agitatorische, propagandistische und praktische organisatorische Arbeit unter den Massen dienen können… Diese Arbeit wird erst dann möglich und fruchtbar werden, wenn es in jedem Industriebetrieb ein Arbeiterkomitee gibt, das allein aus Parteimitgliedern besteht, selbst wenn es nur wenige sind, und das enge Verbindungen mit den Massen hat; und wenn die gesamte Arbeit der legalen Organisationen unter der Leitung der illegalen Parteiorganisation ausgeführt wird.“ (Robert H. McNeal, Hrsg., Resolutions and Decisions of the Communist Party of the Soviet Union, 1974, unsere Hervorhebung)

Lenin benutzte seine Mehrheit auf der SDAPR-Konferenz 1908, um das Liquidatorentum namentlich anzuprangern, und er stellte es als Ausdruck der Instabilität und des Karrierismus der radikalen Intelligenz dar:

„Angesichts der Tatsache, daß in vielen Orten ein Teil der Parteiintelligenz dabei ist, die bestehende Organisation der SDAPR zu liquidieren, um sie durch ein formloses Sammelsurium im Rahmen der Legalität zu ersetzen, koste es, was es wolle — selbst die offene Leugnung des Programms, der Aufgaben und Traditionen der Partei —, hält es die Konferenz für unentbehrlich, den entschlossensten ideologischen und organisatorischen Kampf gegen diese liquidatorischen Bemühungen zu führen…“ (ebenda)

Wie schon (im ersten Kapitel) besprochen, sah Lenin den Menschewismus als Ausdruck der Interessen und Ansichten der radikalen Intelligenz und nicht als opportunistische Strömung innerhalb der Arbeiterbewegung. Hierbei folgte Lenin der Methodologie Kautskys, der die soziologische Basis des Revisionismus in den kleinbürgerlichen Mitläufern der Sozialdemokratie ortete.

Die Menschewiki warfen Lenins Bolschewiki ebenfalls vor, eine kleinbürgerliche Abweichung darzustellen: Anarchismus. Zum Beispiel beschrieb Plechanow Anfang 1908 die Gründung des menschewistischen Organs Golos Sozial- Demokrata als einen ersten Schritt zum „Sieg der sozialdemokratischen Grundsätze über den bolschewistischen Bakuninismus“ (zitiert in Leonard Schapiro, Die Geschichte der kommunistischten Partei der Sowjetunion, 1961). Die Menschewiki taten die Unterstützung der Bolschewiki in der Arbeiterklasse mit der Begründung ab, daß die Leninisten die Primitivität des russischen Proletariats demagogisch ausschlachten würden, ein Proletariat, das mit der Bauernschaft immer noch eng verbunden war.

So warfen sich beide Seiten vor, keine wirklichen Sozialdemokraten (d.h. auf die Arbeiterklasse orientierte Sozialisten) zu sein. Die Bolschewiki sahen die Menschewiki als kleinbürgerliche Demokraten, den linken Flügel des bürgerlichen Liberalismus, die radikalisierten Kinder der Kadetten. Die Menschewiki verurteilten die Bolschewiki als kleinbürgerliche Anarchisten, radikale Populisten, getarnt als Sozialdemokraten. Diese gegenseitigen Vorwürfe waren keine Demagogie und noch nicht einmal polemische Übertreibungen; sie brachten tatsächlich zum Ausdruck, wie die Bolschewiki die Menschewiki sahen und umgekehrt. Da beide Seiten am Grundsatz einer einheitlichen Partei aller Sozialdemokraten festhielten, konnten Bolschewiki und Menschewiki ihre Spaltung nur durch die Erklärung rechtfertigen, daß die jeweils andere Gruppe nicht wirklich zur proletarischen sozialistischen Bewegung gehöre.

Parteitreue Menschewiki und bolschewistische Versöhnler

Ende 1908 erhielt Lenins Kampagne gegen die Liquidatoren Unterstützung von ganz unerwarteter Seite: Plechanow. Der große alte Mann des russischen Marxismus brach schroff mit der menschewistischen Führung, gründete seine eigene Zeitung, Dnewnik Sozial-Demokrata (Tagebuch eines Sozialdemokraten) und attackierte das Verlassen der bestehenden Parteiorganisationen in einem Ton und mit Worten, die stark an Lenin erinnerten.

Plechanows politisches Verhalten 1909-11 ist oberflächlich gesehen ein Rätsel, da er bisher bei fast allen Fragen auf dem äußersten rechten Flügel der Menschewiki gestanden hatte und auch lautstark für eine Spaltung mit Lenin eingetreten war. Subjektive Überlegungen haben vielleicht eine Rolle gespielt. Plechanow war extrem hochmütig und mag wohl darüber verärgert gewesen sein, von den jüngeren Führern der Menschewiki (z. B. Martow, Potressow) in den Schatten gestellt zu werden. Er mag überlegt haben, daß sein Auftreten als „parteitreuer“ Menschewik es ihm ermöglichen würde, sich wieder als die höchste Autorität der russischen Sozialdemokratie aufzubauen.

Jedoch unterscheidet sich Plechanows Position gegen die Liquidatoren nicht so sehr von seiner allgemeinen politischen Einstellung, wie es auf den ersten Blick erscheinen könnte. Plechanow war schon immer davon überzeugt, daß die Spontaneität der Arbeiterklasse eine marxistische (d. h. wissenschaftlich sozialistische) Führung braucht. Genau aus dieser Überzeugung begann er 1900 den unversöhnlichen Kampf gegen den Ökonomismus. Paradoxerweise verstärkte Plechanows rechtsgerichtete Position zur Revolution von 1905 sein Mißtrauen gegenüber der Spontaneität der Massen. Für Plechanow war eine starke sozialdemokratische Partei notwendig, um das einzuschränken, was er für die anarchistischen, primitivistischen Impulse des russischen Proletariats hielt. Im Konflikt zwischen Plechanow und den menschewistischen Liquidatoren sehen wir den Unterschied zwischen einem orthodoxen Marxisten vor 1914, der für eine bürgerlich-demokratische Revolution in Rußland eintrat, und einer Gruppe von Arbeiterreformisten, für die es hauptsächlich um die Verteidigung der unmittelbaren ökonomischen Interessen der russischen Arbeiter ging.

Plechanows „parteitreue“ Menschewiki waren zahlenmäßig schwach, und nur wenige von ihnen fusionierten schließlich mit den Bolschewiki. Plechanow selber stellte sich gegen Lenin, als dieser auf der Prager Konferenz im Januar 1912 die Bolschewiki zur eigentlichen SDAPR erklärte und damit eine eigenständige bolschewistische Partei schuf. Doch die Wirkung von Plechanows „parteitreuen“ Menschewiki auf den Fraktionskampf war unverhältnismäßig groß im Vergleich zu ihrer zahlenmäßigen Schwäche. Plechanow besaß immer noch große Autorität in der internationalen und russischen sozialdemokratischen Bewegung. Seine scharfen Vorwürfe, daß der Hauptteil der Menschewiki die sozialdemokratische Partei liquidieren würde, stärkte erheblich die Glaubwürdigkeit von Lenins Position, da man Plechanow kaum fraktionelle Verzerrung oder Übertreibung vorwerfen konnte. Die wenigen „parteitreuen“ Menschewiki, die sich 1912 den Bolschewiki doch anschlossen, trugen in großem Maße zur Legitimität von Lenins Anspruch bei, die Kontinuität der offiziellen SDAPR darzustellen.

Schon 1909 hatten sich die Bolschewiki und Menschewiki in Rußland in zwei eigenständige Gruppen gespalten, die um den Einfluß auf die Massen konkurrierten. Auf einer Konferenz der bolschewistischen Führung Mitte 1909 argumentierte Lenin, daß die Fraktion der Bolschewiki tatsächlich zur SDAPR geworden war:

„Aber man muß stets dessen eingedenk sein: Die Verantwortung für die ‚Erhaltung und Festigung‘ der SDAPR, von der die Resolution der Beratung spricht, liegt jetzt vor allem, wenn nicht ausschließlich, bei der bolschewistischen Fraktion. Die gesamte oder fast die gesamte Parteiarbeit, die geleistet wird — insbesondere auf der unteren Ebene — tragen jetzt die Bolschewiki.“ („Mitteilung über eine Beratung der erweiterten Redaktion des Proletari, Juni 1909, unsere Hervorhebung)

Gleichzeitig hob er die Bedeutung einer Vereinigung mit Plechanows „parteitreuen“ Menschewiki hervor:

„Welche Aufgaben haben die Bolschewiki gegenüber diesem vorläufig noch kleinen Teil der Menschewiki, die das Liquidatorentum von rechts bekämpfen? Die Bolschewiki müssen zweifellos danach streben, diesem Teil der Parteimitglieder, dem marxistischen und parteiverbundenen Teil, näherzukommen.“ (ebenda)

Lenins Position, daß die Bolschewiki (hoffentlich zusammen mit Plechanows Anhängern) die Partei ohne und gegen die Mehrheit der Menschewiki aufbauen sollten, traf auf bedeutenden Widerstand in der Führung und auch bei der Basis der Bolschewiki. Eine starke Fraktion von Versöhnlern entstand, die von Dubrowinski (einem ehemaligen Duma-Abgeordneten), Rykow, Nogin und Losowski geführt wurde und die für einen politischen Kompromiß mit den Menschewiki eintrat, um eine vereinigte SDAPR wiederherzustellen.

Im einem gewissen Sinn waren die Kräfte der Versöhnler in Berlin stärker als in St. Petersburg oder Moskau. Die Führung der deutschen Sozialdemokratischen Partei (SPD) sehnte immer noch die Einheit der russischen Partei herbei. In einer besonders sentimentalen Stimmung brachte Kautsky in einem Brief an Plechanow (5. Mai 1911) seine Haltung zu den antagonistischen russischen Fraktionen zum Ausdruck:

„ In den letzten Tagen waren Bolschewiky, Minschewiky, Otsowisten und Liquidatoren bei mir. Lauter nette Leute, und wenn man mit ihnen spricht, merkt man keine grossen Differenzen.“ (K. Kautsky an G.V Plechanov, 5. Mai 1911)

Die SPD-Führung öffnete ihre Presse dem wichtigsten der russischen Versöhnler: Trotzki. Trotzkis Artikel in der einflußreichen SPD-Presse bewirkten einen starken Stimmungsumschwung in der internationalen Sozialdemokratie zugunsten der Einheit der russischen Partei und gegen die Extremisten auf beiden Seiten — Lenin von den Bolschewiki und Potressow von den Menschewiki.

Lenin kämpft für eine bolschewistische Partei

Angesichts einer starken Gruppierung unter seinen eigenen Mitgliedern, die für die Einheit war, und unter dem Druck von Plechanows „parteitreuen“ Menschewiki sowie

der SPD-Führung stimmte Lenin widerwillig einem weiteren Einheitsversuch zu. Das war das Plenum des Zentralkomitees im Januar 1910 in Paris. Die Verteilung der Delegierten war fast die gleiche wie bei dem vorherigen Parteitag 1907. Die Bolschewiki hatten vier Delegierte (drei davon Versöhnler) und die Menschewiki auch vier. Der promenschewistische jüdische Bund hatte zwei Delegierte, und die probolschewistische Sozialdemokratie des Königreichs Polen und Litauen (SDKPiL) von Luxemburg/ Jogiches hatte ebenfalls zwei. Die vereinigten Sozialdemokraten Lettlands, nominell probolschewistisch, und die ultralinke Wperjod-Gruppe hatten je einen Delegierten.

Auf dem Plenum setzten die versöhnlerischen Elemente gegenüber der Führung der beiden Haupttendenzen eine Reihe von Kompromissen durch. Die auf dem Parteitag von 1907 festgelegte fraktionelle Zusammensetzung der führenden Parteigremien (der Redaktion des Zentralorgans, des Auslandsbüros und des Russischen Kollegiums des Zentralkomitees) wurde beibehalten. Parität zwischen Bolschewiki und Menschewiki wurde in allen Parteigremien beibehalten, wodurch die nationalen sozialdemokratischen Parteien den Ausschlag gaben.

Zur Hauptfrage der Untergrundarbeit wurde ein Kompromißantrag ausgearbeitet. Gegen die Untergrundorganisation zu sein oder ihre Bedeutung zu schmälern wurde verurteilt, aber der Ausdruck „Liquidatorentum“ wurde wegen seines antimenschewistischen fraktionellen Untertons vermieden. Die Menschewiki wiederum erhielten die moralische Genugtuung, daß die bewaffneten Enteignungen durch die Bolschewiki als Verstoß gegen die Parteidisziplin verurteilt wurden.

Wie künstlich dieses „Vereinigungs“abkommen von 1910 war, zeigte sich darin, daß sich die Menschewiki weigerten, Lenin die Verwaltung des Parteigeldes zu erlauben. Deshalb wurden drei Deutsche als Treuhänder der Parteikasse bestimmt: Kautsky, Clara Zetkin und Franz Mehring. (Kautsky, der nicht sentimental war, wenn es um Geld ging, behielt die russische Parteikasse später mit der Begründung, daß es kein legitimes, repräsentatives Führungsgremium gab.) In einem Brief an Maxim Gorki (11. April 1910) äußerte Lenin seine kritische und mißtrauische Haltung zum Ergebnis des Pariser ZK-Plenums:

„Auf dem Plenum des ZK (dem ‚langen Plenum‘ — drei Wochen dauerte die Quälerei, sämtliche Nerven gingen dabei kaputt, hunderttausend Teufel sollen es holen!) … eine Stimmung ‚allgemeiner Versöhnung‘ (ohne den klaren Gedanken, mit wem, wozu, wie), kam der Haß auf das Bolschewistische Zentrum hinzu wegen seines schonungslosen ideologischen Kampfes, kam Gezänk hinzu und bei den Menschewiki der Wunsch, Skandal zu machen — und was dabei herauskam, war ein Kind mit Eiterbeulen.

Und jetzt müssen wir uns damit abquälen. Entweder — wenn‘s gut geht — öffnen wir die Beulen und lassen den Eiter heraus, kurieren das Kind und ziehen es groß. Oder — wenn‘s schlecht endet — das Kind stirbt. Dann bleiben wir eine Zeitlang kinderlos (das heißt, wir stellen die bolschewistische Fraktion wieder her) und bringen danach ein gesünderes Kind zur Welt.“

Leo Jogiches Kein Bildnachweis

Leo Jogiches

Bald zeigte sich, daß Lenins Mißtrauen gegenüber den Menschewiki gerechtfertigt war. Die menschewistischen Liquidatoren in Rußland unter der Führung von P. A. Garwi weigerten sich glatt, dem Russischen Kollegium des Zentralkomitees beizutreten, wie auf dem Plenum in Paris vereinbart. So konnte Lenin den Menschewiki die Schuld für die Spaltung geben und die bolschewistischen Versöhnler in die Defensive drängen. Noch Jahre später beschimpfte Martow Garwi wegen seines taktischen Patzers, der Lenin sehr geholfen hatte.

Ende 1910 erklärte Lenin, daß die Menschewiki die auf dem Plenum in Paris getroffenen Abmachungen gebrochen hatten und daher die Bolschewiki nicht länger an diese Abmachungen gebunden waren. Im Mai 1911 berief Lenin ein Rumpftreffen der führenden Bolschewiki und ihrer polnischen Bündnispartner ein, das auf Ad-hoc-Basis die offiziellen auf dem Plenum in Paris gebildeten SDAPR-Gremien ersetzten. Zum Beispiel wurde eine Technische Kommission gegründet, die das Auslandsbüro des Zentralkomitees als höchstes Verwaltungsgremium der Partei ersetzte. Für Lenin war dies ein entscheidender Schritt beim Aufbau einer Partei ohne und gegen die meisten Menschewiki.

Zu diesem Zeitpunkt wurden Lenins Pläne durch das Hervortreten eines neuen und vorübergehend einflußreichen Versöhnlers erschwert: Leo Jogiches, Führer der SDKPiL. Jogiches war ein sehr ernstzunehmender Gegner. Zusammen mit den bolschewistischen Versöhnlern (z.B. Rykow) hatte er eine Mehrheit in den führenden Parteigremien wie der Technischen Kommission. Über Rosa Luxemburg beeinflußte er die deutschen Treuhänder des SDAPR-Geldes.

Der Kampf zwischen Jogiches und Lenin 1911 wird oft, besonders von bürgerlichen Historikern, als persönlicher Machtkampf abgetan. Doch hinter der Spaltung zwischen der SDKPiL und den Bolschewiki steckte der Unterschied zwischen einer orthodox sozialdemokratischen Position zur Parteifrage und dem sich herausbildenden Leninismus. Luxemburg/Jogiches waren bereit, die bolschewistische Fraktion innerhalb einer einheitlichen sozialdemokratischen Partei zu unterstützen. Nicht unterstützen würden sie die Verwandlung der bolschewistischen Gruppe in eine Partei mit dem Anspruch, die einzige legitime Vertretung der Sozialdemokratie zu sein. Und Jogiches wußte, daß Lenin genau dies in Wirklichkeit tat. In einem Brief an Kautsky über Finanzen (30. Juni 1911) schrieb er, daß Lenin „das Chaos in der Partei ausnutzen will, um das Geld an seine Fraktion zu bringen und damit der Gesamtpartei als Ganzem vor jeder Plenarsitzung des Centralkomites oder der Parteikonferenz den Todesstoß zu versetzen.“ (L. Jogiches an K. Kautsky, 30. Juni 1911, zitiert in Dietrich Geyer, Kautskys Russisches Dossier, 1981)

Lenins Haltung zu Jogiches und den anderen Versöhnlern kommt in einem Artikelentwurf „Über die Lage der Partei“, klar zum Ausdruck:

„Die ‚Versöhnler‘ haben die ideologischen Wurzeln dessen, was uns von den Liquidatoren trennt, nicht verstanden und haben ihnen daher eine Reihe von Schlupflöchern gelassen und sind häufig (unfreiwillig) ein Spielzeug in den Händen der Liquidatoren gewesen… Seit der Revolution haben die Bolschewiki als eine Tendenz zwei Fehler durchgemacht — (1) Otsowismus-Wperjodismus und (2) Versöhnlertum (in die Richtung der Liquidatoren schwankend). Es ist Zeit, beides loszuwerden.

Wir Bolschewiki haben beschlossen, auf keinen Fall den Fehler des heutigen Versöhnlertums zu wiederholen (und seine Wiederholung nicht zuzulassen). Dies würde bedeuten den Wiederaufbau der R.S.D.LP. zu verlangsamen und sie in ein neues Spiel mit den Go/os-Leuten (und ihren Lakeien, wie Trotzki), den Wperjodisten und so weiter zu verwickeln.“ (Hervorhebung im Original)

Ende 1911 brach Lenin mit Jogiches und den bolschewistischen Versöhnlern. Er schickte Ordschonikidse als Vertreter nach Rußland, wo dieser die Russische Organisationskommission (ROK) gründete, die den Anspruch erhob, ein Interims-Zentralkomitee der SDAPR zu sein. Das ROK berief eine „Gesamtrussische Konferenz der SDAPR“ ein, die im Januar 1912 in Prag tagte. Vierzehn Delegierte nahmen daran teil, zwölf Bolschewiki und zwei „parteitreue“ Menschewiki, von denen einer Plechanows Position wiedergab, die Konferenz als einen Akt gegen die Einheit abzulehnen.

Die Konferenz erklärte, daß die menschewistischen Liquidatoren außerhalb der SDAPR standen. Sie warf auch die national-föderative Struktur über Bord, die auf dem „Vereinigungsparteitag“ von 1906 eingeführt worden war und schloß damit den Bund, die SDKPiL und die lettischen Sozialdemokraten praktisch aus der russischen Partei aus. Die Konferenz wählte ein neues Zentralkomitee, das aus sechs „harten“ (antiversöhnlerischen) Bolschewiki und, wegen der symbolischen Wirkung, aus einem „parteitreuen“ Menschewik bestand. Die Prager Konferenz markierte den endgültigen organisatorischen Bruch zwischen Lenins revolutionären Sozialdemokraten und den opportunitischen Menschewiki. In dieser wichtigen Hinsicht war Prag 1912 die Gründungskonferenz der bolschewistischen Partei.

Wollte Lenin Einheit mit den Menschewiki?

Schon vor 1912 wurde Lenin allgemein als fanatischer Spalter gesehen, als der größte Schismatiker der russischen Sozialdemokratie. Die welthistorische Bedeutung der Spaltung zwischen Bolschewiki und Menschewiki wird heute allgemein anerkannt, nicht zuletzt von Antileninisten. Es ist daher erstaunlich, daß irgendjemand, besonders eine Gruppe mit leninistischem Anspruch, behaupten könnte, daß der Führer der Bolschewiki ein überzeugter Verfechter der sozialdemokratischen Einheit gewesen sei, während die Menschewiki die aggressiven Spalter gewesen seien.

Aber genau dies ist die Position der revisionistischen „trotzkistischen“ International Marxist Group, der britischen Sektion von Ernest Mandels Vereinigtem Sekretariat. Als theoretische Rechtfertigung für ein großes Umgruppierungsmanöver hat die IMG die Geschichte der Bolschewiki umgeschrieben, um Lenin als einen Versöhnler hinzustellen, dem die Einheit über alles ging. Über die Zeit nach 1905 schreibt die IMG:

„Lenin war nicht der Spalter, und die Bolschewiki schlugen nicht bloß ‚formale Einheit‘ vor, sondern die Bolschewiki waren die Hauptkämpfer für die Einheit der Partei… Gerade die Menschewiki waren in dieser Zeit die Spalter, und nicht Lenin.“ („The Bolshevik Faction and the Fight for the Party“, Red Weekly, 11. November 1976)

Daß diese Position völlig falsch ist, zeigt sich in einer Reihe unglaublicher Auslassungen. Dieser Artikel erwähnt nicht die wirklichen bolschewistischen Versöhnler wie Rykow und auch nicht Lenins Kampf gegen sie. Er erwähnt nicht das „Vereinigungsplenum“ 1910 in Paris und auch nicht Lenins Opposition gegen die dort geschlossenen Kompromisse. Er erwähnt nicht, daß Lenins ehemalige fraktionelle Bündnispartner Plechanow und Jogiches/Luxemburg im Namen der Parteieinheit gegen die Prager Konferenz auftraten und anschließend Lenin als Spalter anprangerten.

Hier die Analyse der IMG von der Prager Konferenz:

„Die Aufgabe der Bolschewiki und der parteitreuen Menschewiki, die illegale SDAPR wieder zu konsolidieren, war Ende 1911 erfüllt — obwohl Plechanow selber schon zu den Liquidatoren übergelaufen war. Diese erneute Konsolidierung wurde auf dem im Januar 1912 in Prag abgehaltenen VI. Parteitag [sie] abgeschlossen. Auf diesem Kongreß gab es keine Spaltung mit dem Menschewismus an sich — im Gegenteil … Lenin bereitete mit einem Teil der Menschewiki den Parteitag vor. Die Spaltung erfolgte nicht mit denjenigen, die eine menschewistische Politik verteidigten, sondern mit den Liquidatoren, die sich weigerten, die Partei zu akzeptieren.“ (ebenda, Hervorhebung im Original)

Gerade die Politik der Menschewiki zur Organisationsfrage hatte das Liquidatorentum hervorgebracht. Von der ursprünglichen Spaltung 1903 direkt bis zum Ersten Weltkrieg definierten die Menschewiki „die Partei“ so, daß sie auch Arbeiter umfaßte, die mit der Sozialdemokratie sympathisierten, aber keine formalen Mitglieder der Organisation waren und unter keiner Disziplin standen. Gerade auf dieser Basis lehnten die Menschewiki immer wieder Lenins formale Mehrheiten und seine daraus folgende Führung der Partei ab und ignorierten sie.

Es stimmt nicht, daß sich Plechanow 1911 wieder den Liquidatoren angeschlossen hätte. Und in dieser historischen Ungenauigkeit demonstriert die IMG ihr grundsätzliches Unverständnis der Beziehungen zwischen Bolschewiki und „parteitreuen“ Menschewiki. Plechanow schloß sich nicht wieder dem Hauptteil der Menschewiki an. Wie Trotzki und Luxemburg nahm er 1912-14 eine unabhängige Haltung ein und drängte auf die erneute Vereinigung von Bolschewiki und Menschewiki.

Die IMG kann nicht erklären, warum Plechanow, der drei Jahre lang die Liquidatoren bekämpft hatte, sich dann weigerte, sich von ihnen abzuspalten und sich mit den Leninisten zu vereinigen. Als der notorisch arrogante Plechanow Ende 1908 seine Kampagne gegen die Liquidatoren begann, dachte er zweifellos, daß er die Mehrheit der Menschewiki gewinnen würde und möglicherweise die führende Persönlichkeit in einer wiedervereinigten SDAPR würde. Lenin sah sich selbst, als er mit Plechanow in einem Block war, dazu veranlaßt, die eigennützigen Illusionen des abtrünnigen Führers der Menschewiki auf die Schippe zu nehmen:

„Der menschewistische ‚Ossip‘ [Plechanow] ist allein geblieben, ausgeschieden aus der offiziellen menschewistischen Redaktion wie aus dem Redaktionskollektiv des wichtigsten menschewistischen Werkes; allein erhebt er Protest gegen den ‚kleinbürgerlichen Opportunismus‘ und das Liquidatorentum …“ („Entlarvte Liquidatoren“, September 1909)

1911 war es klar, daß Plechanows Anhänger eine kleine Minderheit unter den Menschewiki waren. Hätte sich Plechanow mit den Bolschewiki auf der Prager Konferenz vereinigt, wäre er eine kleine und politisch isolierte Minderheit gewesen. Er hätte niemals hoffen können, die Bolschewiki für seine bürgerlich orientierte liberale Strategie zu gewinnen. Er wäre einfach eine Galionsfigur in einer de facto bolschewistischen Partei gewesen. Als geschickter Politiker versuchte Lenin auf diese Weise Plechanow zu „fangen“. Aber Plechanow hatte nicht die Absicht, den Leninisten als Galionsfigur zu dienen. Er weigerte sich, an der Prager Konferenz teilzunehmen, und schrieb: „Die Aufmachung Eurer Konferenz ist so einseitig, daß es besser ist, das heißt mehr im Interesse der Parteieinheit gelegen, wenn ich fortbleibe“ (zitiert in Bertram D. Wolfe, Lenin, Trotzski), Stalin. Drei, die eine Revolution machten, 1965).

Inessa Armand Dietz Verlag

Inessa Armand

Schon vor 1912 waren die Bolschewik! im Grunde genommen eine Partei und keine Fraktion, denn Lenin hätte sich geweigert, als eine disziplinierte Minderheit unter menschewistischer Führung zu arbeiten. Die Führer der Menschewiki, darunter Plechanow, hatten umgekehrt die gleiche Einstellung. Die Einheit mit den zahlenmäßig schwachen „parteitreuen" Menschewiki stellte Lenins Führung der Partei, wie er sie auf der Prager Konferenz wiederherstellte, nicht in Frage. Wären Plechanows Anhänger stärker als die Bolschewiki gewesen, hätte Lenin für eine andere organisatorische Lösung gekämpft, die es seinen Anhängern erlaubt hätte, als revolutionäre Sozialdemokraten zu arbeiten, ohne durch die Opportunisten behindert zu werden.

Einheitsversuche nach Prag

Nach der Prager Konferenz wurden die Bolschewiki mit ständigen Einheitskampagnen bombardiert, an denen die meisten wichtigen Persönlichkeiten der russischen Bewegung und auch die Führung der Zweiten Internationale beteiligt waren. Diese Kampagnen gipfelten in einer Einheitsresolution des Internationalen Sozialistischen Büros vom Dezember 1913; dies führte im Juli 1914 zu einer „Vereinigungs" konferenz in Brüssel. Nicht einmal einen Monat später unterstützten die meisten Einheitsapostel der Zweiten Internationale ihre eigenen herrschenden Klassen beim Abschlachten der Arbeiter „feindlicher" Länder.

Der erste Versuch, das rückgängig zu machen, was Lenin auf der Prager Konferenz erreicht hatte, kam von Trotzki. Er setzte das menschewistische Organisationskomitee unter Druck, so daß es eine Konferenz aller russischen Sozialdemokraten einberief. Die Bolschewiki weigerten sich natürlich, daran teilzunehmen, ebenso wie ihre ehemaligen Bündnispartner: Plechanows Anhänger und die SDKPiL von Luxemburg/Jogiches. Die Konferenz tagte im August 1912 in Wien. Außer Trotzkis kleiner Gruppe beteiligten sich die Hauptgruppe der Menschewiki, der Bund und auch die ultralinke Wperjod-Gruppe daran. So vereinigte der „August-Block" den äußersten rechten und den äußersten linken Flügel der russischen Sozialdemokratie. Natürlich konnten sich die Teilnehmer auf nichts anderes einigen als ihre Feindseligkeit gegenüber den Leninisten, weil diese sich zur offiziellen SDAPR erklärt hatten. Tatsächlich gingen die Wperjodisten mitten in der Konferenz weg und ließen eine menschewistische Versammlung zurück.

Trotzkis „August-Block" war ein klassischer zentristischer verrotteter Block — eine vorübergehende Koalition der heterogensten Elemente gegen eine harte revolutionäre Tendenz. Nachdem Trotzki 1917 zum Leninismus gewonnen worden war, hielt er den „August-Block" für seinen größten politischen Fehler. In einer Polemik gegen einen zentristischen verrotteten Block in der amerikanischen Sektion der Vierten Internationale blickte Trotzki 1940 zurück auf den „August-Block“ von 1912:

„Ich denke an den sogenannten August-Block von 1912. Ich beteiligte mich aktiv an diesem Block. In gewissen Sinne schuf ich ihn. Ich stimmte in allen grundlegenden Fragen nicht mit den Menschewiki überein. Ich stimmte auch mit den ultralinken Bolschewiki, den ‚Wperjodisten‘ nicht überein. In der allgemeinen Richtung der Politik stand ich den Bolschewiki weit näher. Aber ich war gegen das Lenin-‚Regime‘, weil ich noch nicht verstehen gelernt hatte, daß eine fest zusammengeschweißte, zentralisierte Partei unentbehrlich ist, um das revolutionäre Ziel zu verwirklichen. Daher bildete ich diesen vorübergehenden Block, der aus grundverschiedenen Elementen bestand und gegen den proletarischen Parteiflügel gerichtet war…

Lenin unterwarf den August-Block schonungsloser Kritik und die härtesten Schläge trafen mich. Lenin wies nach, daß meine Politik Abenteurertum war, da ich ja politisch weder mit den Menschewiki noch mit den „Wperjodisten“ übereinstimmte. Das war streng, aber wahr.“ (Verteidigung des Marxismus, 1940)

Die Konsolidierung einer eigenständigen bolschewistischen Partei auf der Prager Konferenz fiel zeitlich zusammen mit dem Beginn eines neuen Aufschwungs des proletarischen Klassenkampfs in Rußland. In den darauffolgenden zweieinhalb Jahren wurden die Bolschewiki wieder zu einer proletarischen Massenpartei. 1913 sprach Lenin von 30000-50000 Mitgliedern. Bei den Duma-Wahlen gegen Ende 1912 stellten die Bolschewiki sechs der neun Abgeordneten in der Arbeiterkammer. 1914 sprach Lenin von 2800 Arbeitergruppen im Vergleich zu 600 der Menschewiki. Prawda, das legale Organ der Bolschewiki, hatte eine Auflage von 40000, verglichen mit 16000 der menschewistischen Zeitung Lutsch.

Inoffiziell gaben die Menschewiki ihre eigene Schwäche und die Vorherrschaft der Bolschewiki in der Arbeiterbewegung zu. In einem Brief an Potressow (15. September 1913) schrieb Martow: „… die Menschewiki scheinen unfähig zu sein, sich in organisatorischer Hinsicht vom toten Punkt wegzubewegen, und bleiben trotz der Zeitung und allem, was sie in den letzten zwei Jahren taten, ein schwacher Zirkel“ (zitiert in Israel Getzler, ebenda).

Zwar war die Verwandlung der Bolschewiki in eine Massenpartei zu dieser Zeit von enormer Bedeutung für die revolutionäre Sache, doch in einer Hinsicht, könnte man sagen, hat sie die theoretische Entwicklung des Leninismus erschwert. Die Entwicklungen 1912-14 schienen Lenins Überzeugung zu bestätigen, daß die Menschewiki in Rußland einfach kleinbürgerliche Karrieristen und im Exil bloß Literaten wären außerhalb der wirklichen Arbeiterbewegung. Der Anspruch der Bolschewiki, die Sozialdemokratische Arbeiterpartei Rußlands zu sein, schien empirisch gerechtfertigt zu sein. Und daher war Lenin davon überzeugt, daß er nicht wirklich die sozialdemokratische Partei gespalten habe.

Die Prager Konferenz im Januar 1912 stellte die endgültige Spaltung zwischen Bolschewiki und Menschewiki dar, aber die Spaltung war keineswegs durchgehend. Die bolschewistischen Abgeordneten, die 1912 in die vierte Duma gewählt worden waren, machten in einer einheitlichen sozialdemokratischen Fraktion gemeinsame Front mit den sieben menschewistischen Abgeordneten. Bei den weniger fortgeschrittenen Arbeitern war der Wunsch nach Einheit immer noch stark, und daher entstand bei den Bolschewiki Widerstand dagegen, die Duma-Fraktion zu spalten, was eine öffentliche Handlung gewesen wäre. Lenin steuerte auf die Spaltung der Duma-Fraktion zu, ging aber mit erheblicher taktischer Vorsicht vor. Erst Ende 1913 spalteten die bolschewistischen Abgeordneten die Duma-Fraktion öffentlich und bildeten ihre eigene.

Die Spaltung der Duma-Fraktion hatte eine viel größere Auswirkung auf die internationale Sozialdemokratie als die Prager Konferenz, da sie die Kluft in der russischen Bewegung allzu öffentlich machte. Auf Initiative Rosa Luxemburgs hin intervenierte das Internationale Sozialistische Büro (ISB), um Einheit in der anscheinend unverbesserlich streitsüchtigen russischen sozialdemokratischen Bewegung wiederherzustellen. Die Einheitspolitik des ISB brachte notwendigerweise den Bolschewiki Nachteile, wenn nicht sogar offene Feindschaft. Luxemburgs Motive waren eindeutig feindselig gegenüber Lenin. Um die Internationale auf eine Intervention zu drängen, verurteilte sie „das systematische Schüren der Spaltung seitens der Leninschen Gruppe auch in den Reihen anderer sozialdemokratischer Organisationen …“ („Zur Spaltung in der sozialdemokratischen Dumafraktion“, 21. November 1913).

Im Dezember 1913 nahm das ISB eine Resolution an, die zur erneuten Vereinigung der russischen Sozialdemokratie aufrief. Diese Resolution wurde von drei SPD-Führern, Kautsky, Ebert und Molkenbuhr, gemeinsam eingebracht:

„… das Internationale Büro hält es für die dringende Pflicht aller sozialdemokratischen Gruppen in Rußland, einen ernsten und redlichen Versuch zu machen, der Wiederherstellung einer einzigen Parteiorganisation zuzustimmen und den gegenwärtigen schädlichen und entmutigenden Zwistigkeiten ein Ende zu machen.“ (zitiert in Gankin und Fisher, The Bolsheviks and the World War, Stanford, 1940)

Das ISB organisierte dann im Juli 1914 in Brüssel eine russische „Vereinigungs“konferenz. Die Autorität der von den Deutschen geführten Internationale war so groß, daß alle russischen Sozialdemokraten, auch die Bolschewiki, sich verpflichtet fühlten, an dieser Versammlung teilzunehmen. Außer den Bolschewiki und Menschewiki nahmen die Wperjodisten, Trotzkis Gruppe, Plechanows Gruppe, die lettischen Sozialdemokraten und drei polnische Gruppen an der Brüsseler Konferenz teil.

Selbstverständlich stand Lenin dem Zweck der Brüsseler Konferenz feindlich gegenüber. Obwohl er einen langen Bericht für die Konferenz schrieb, zeigte er seine Verachtung dadurch, daß er persönlich nicht teilnahm. Die bolschewistische Delegation wurde von Inessa Armand angeführt. Seine „Einheitsbedingungen“ hatte Lenin absichtlich so entworfen, daß die Menschewiki sie kurzerhand ablehnen müßten. Zu diesen Bedingungen gehörte die völlige organisatorische Unterordnung der Menschewiki unter die bolschewistische Mehrheit, wobei eine eigenständige menschewistische Presse und überhaupt jede öffentliche Kritik an der Untergrundpartei verboten war. Als Armand Lenins „Einheitsbedingungen“ präsentierte, tobten die Menschewiki vor Wut. Plechanow nannte sie die „Artikel eines neuen Strafgesetzes“. Kautsky hatte als Vorsitzender der Konferenz Schwierigkeiten, Ordnung zu halten. Trotzdem brachte der angesehene SPD-Führer pflichtbewußt einen Antrag ein, in dem es hieß, daß es keine grundsätzlichen Differenzen gäbe, die einer Einheit im Wege stünden. Diese Resolution wurde angenommen; dabei verweigerten die Bolschewiki (und auch die lettischen Sozialdemokraten) die Abstimmung.

Lenins Begründung für die Spaltung

Der Bericht an die Brüsseler Konferenz im Juli 1914 war Lenins ausführlichste Begründung für die Spaltung und die Gründung einer eigenständigen bolschewistischen Partei. Er hatte den Zweck, für die westeuropäische sozialdemokratische Meinung die Seite der Bolschewiki möglichst positiv darzustellen. Deshalb brachte der Bericht wahrscheinlich Lenins Ansichten über die Beziehungen zwischen Bolschewiki und Menschewiki nicht vollständig zum Ausdruck.

Der Bericht enthält zwei grundsätzliche Argumente, das eine politisch und das andere empirisch. Lenins grundlegendes politisches Argument war, daß die Mehrheit der Menschewiki dadurch, daß sie sich weigern, die Untergrundorganisation als die Partei anzuerkennen, qualitativ rechts von den Opportunisten (z. B. Bernstein) in der westeuropäischen Sozialdemokratie stehen:

„Daraus geht hervor, wie irrtümlich die Meinung ist, als seien unsere Meinungsverschiedenheiten mit den Liquidatoren nicht tiefer, sondern weniger bedeutend als die Meinungsverschiedenheiten zwischen den sogenannten Radikalen und Gemäßigten in Westeuropa. In keiner, buchstäblich in keiner einzigen westeuropäischen Partei kann man auch nur einen einzigen Beschluß der gesamten Partei finden, gerichtet gegen Leute, die die Partei auflösen und sie durch eine neue ersetzen wollen!!

Nirgends in Westeuropa stand, steht und kann die Frage auf der Tagesordnung stehen, ob es erlaubt sei, den Namen eines Parteimitglieds zu tragen und gleichzeitig die Auflösung dieser Partei, ihre Untauglichkeit und Unnötigkeit, ihre Ersetzung durch eine andere zu predigen. Nirgends in Westeuropa steht die Frage so, wie sie bei uns steht: als Frage des Bestehens der Partei selbst, der Existenz der Partei.

Das ist eine Meinungsverschiedenheit nicht organisatorischer Art, nicht darüber, wie die Partei aufzubauen ist, sondern es ist ein Auseinandergehen in der Frage der Existenz der Partei. Hier kann weder von irgendeiner Versöhnung noch von irgendeiner Verständigung, noch von irgendeinem Kompromiß auch nur die Rede sein.“ („Bericht des ZK der SDAPR und instruktive Hinweise für die Delegation des ZK zur Brüsseler Konferenz“, Juni 1914, Hervorhebung im Original)

Diese Auffassung über das menschewistische Liquidatorentum ist oberflächlich, da sie sich auf die spezifische Form und nicht auf die politische Substanz des sozialdemokratischen Opportunismus konzentriert. Lenins Überzeugung, daß die russischen Menschewiki rechts von Bernstein, Jaures usw. standen, erwies sich als falsch. Als der Krieg ausbrach, stand Martows kleine Gruppe von Internationalisten, die den Menschewiki als Feigenblatt gedient hatte, nicht nur weit links von den deutschen Sozialpatrioten Ebert/Noske, sondern auch links von den SPD-Zentristen Kautsky/Haase. Der eigentliche Grund für das organisatorische Liquidatorentum der Menschewiki 1908-12 war nicht, daß Martow/Potressow qualitativ rechts von Bernstein und Noske standen, sondern daß Lenin, formal der Führer der SDAPR, links von Bebel/Kautsky stand.

Ein Großteil des Berichts an die Brüsseler Konferenz versucht empirisch zu zeigen, daß „die klassenbewußten Arbeiter Rußlands sich mit einer Mehrheit von 4/5 gerade auf dem Boden der von der [Prager] Januarkonferenz von 1912 gefaßten Beschlüsse und um die von ihr eingesetzten Körperschaften zusammenschließen.“ Als wichtig hervorzuheben ist, daß dies nicht ein Argument nur nach außen hin war. Für Lenin war die Stärke der proletarischen Basis eines der entscheidenden Kriterien dafür, ob es sich um eine wirkliche sozialdemokratische Partei handelt. In seinen persönlichen Notizen an Inessa Armand schrieb er:

„Bei uns in Rußland erhebt fast jede Gruppe oder ‚Fraktion‘ … gegen die andere die Beschuldigung, sie sei keine Gruppe von Arbeitern, sondern eine solche von bürgerlichen Intellektuellen. Wir halten diese Beschuldigung oder, richtiger, diese Auffassung, diesen Hinweis auf die soziale Bedeutung dieser oder jener Gruppe im prinzipiell äußerst wichtig. Aber eben darum, weil wir dies für äußerst wichtig halten, erachten wir es als unsere Pflicht, unseren Hinweis auf die soziale Bedeutung anderer Gruppen nicht nur mit leeren Worten vorzubringen, sondern ihn durch objektive Tatsachen zu bekräftigen. Denn die objektiven Tatsachen zeigen unwiderleglich und unanfechtbar, daß nur der Prawdismus [Bolschewismus] eine Arbeitermode in Rußland ist, das Liquidatorentum und die Sozialrevolutionäre in Wirklichkeit aber Richtungen bürgerlicher Intellektueller sind.“ (Lenin, Werke, Bd. 20, Hervorhebung im Original)

Wenn die Menschewiki in dieser Zeit eine bedeutende proletarische Basis gewonnen hätten, hätte Lenin, wie man aus diesem Zitat sehen kann, entweder eine versöhnlichere Haltung gegenüber den Menschewiki einnehmen oder die Spaltung mit grundsätzlicheren Prinzipien begründen müssen.

Lenins Auffassung, die Menschewiki seien eine kleinbürgerliche, intellektuelle Tendenz außerhalb der Arbeiterbewegung, war impressionistisch. Die Welle von Patriotismus und Landesverteidigung, die in den ersten Kriegsjahren die Massen in Rußland erfaßte, kam den opportunistischen Menschewiki zugute, auf Kosten der Leninisten, die unversöhnliche Defätisten waren. Als im Februar 1917 die Russische Revolution ausbrach, waren die Menschewiki im Verhältnis zu den Bolschewiki viel stärker als 1914.

In seinen zahlreichen Polemiken 1912-14 gegen die Einheit mit den Menschewiki machte Lenin eine Reihe verschiedener Argumente. Manche dieser Argumente waren begrenzt oder empirisch, wie im Bericht an die Brüsseler Konferenz. Doch in anderen Schriften nahm Lenin den Grundsatz der Spaltung mit Opportunisten in der Arbeiterbewegung, durch den die moderne kommunistische Partei definiert wird, schon vorweg. So schreibt Lenin im April 1914 in einer Polemik gegen Trotzki mit der Überschrift „Einheit“:

„Mit liberalen Arbeiterpolitikern, mit Leuten, die die Arbeiterbewegung desorganisieren und den Willen der Mehrheit verletzen, kann es keine Einheit geben, weder eine föderative noch irgendeine andere. Geben kann und soll es eine Einheit aller konsequenten Marxisten, aller Verfechter der marxistischen Gesamtheit und der uneingeschränkten Losungen, unabhängig von den Liquidatoren und ohne sie.

Die Einheit ist eine große Sache und eine große Losung! Doch die Arbeitersache braucht die Einheit unter den Marxisten, nicht aber die Einheit der Marxisten mit den Gegnern und Verfälschern des Marxismus.“ (Hervorhebung im Original)

Doch erst der 4. August 1914, als die Reichstagsfraktion der deutschen Sozialdemokratie für die Kriegskredite stimmte, ließ Lenin die epochemachende Bedeutung dieser Aussage und seines Bruchs mit den russischen Menschewiki begreifen. Erst von da an war Lenins Ziel, die konsequenten, d. h. revolutionären, Marxisten von allen liberalen Arbeiterpolitikern und allen Gegnern und Fälschern des Marxismus abzuspalten. Dadurch schuf er den Kommunismus als welthistorische revolutionäre Lehre und Bewegung, als den Marxismus in der Epoche des kapitalistischen Todeskampfes.

Lenin

Der Kommunistischen Internationale entgegen

Das Ereignis, durch das Lenin von einem revolutionären russischen Sozialdemokraten zum Gründer und Führer der kommunistischen Weltbewegung wurde, läßt sich genau datieren: der 4. August 1914. Beim Ausbruch des Ersten Weltkriegs stimmte die Reichstagsfraktion der deutschen Sozialdemokratie (SPD) einstimmig für die Kriegskredite des Reichs. Heute, nachdem wir jahrzehntelang erlebt haben, wie die Sozialdemokratie und dann auch der Stalinismus die Grundsätze des Sozialismus verraten haben, fällt es schwer, sich die absolute Schockwirkung des 4. August auf die Revolutionäre in der Zweiten Internationale vorzustellen. Luxemburg erlitt einen Nervenzusammenbruch, als die Welle von Nationalchauvinismus die deutsche sozialdemokratische Bewegung erfaßte. Lenin weigerte sich zuerst, dem Bericht im SPD-Zentralorgan Vorwärts über die Abstimmung im Reichstag zu glauben, und hielt diese Ausgabe für eine Fälschung der kaiserlichen Regierung.

Für revolutionäre Sozialdemokraten zerstörte der 4. August nicht nur ihre Illusionen in eine bestimmte Partei und deren Führung, sondern stellte ihre gesamte politische Weltanschauung in Frage. Für die Marxisten von Lenins und Luxemburgs Generation war der Fortschritt der Sozialdemokratie, der am besten in Deutschland zum Ausdruck kam, beständig, unumkehrbar und unaufhaltsam erschienen.

Die historische Bedeutung der Zweiten Internationale

Kennzeichnend für die Ära der Sozialistischen (Zweiten) Internationale (1889-1914) war das außerordentlich schnelle Wachstum der europäischen Arbeiterbewegung und darin der marxistischen Strömung. Mit Ausnahme der britischen Gewerkschaften (die die bürgerlichen Liberalen unterstützten) waren die Organisationen, die die Erste Internationale (1864-74) bildeten, Propagandagruppen mit höchstens ein paar tausend Mitgliedern gewesen. 1914 waren die Parteien der Sozialistischen Internationale Massenparteien mit Millionen Anhängern in ganz Europa.

In der Zeit der Ersten Internationale gab es vielleicht tausend Marxisten auf dem Erdball, überwiegend in Deutschland konzentriert. Bezeichnenderweise gab es keine französischen Marxisten in der Pariser Kommune von 1871, nur den Ungarn Leo Frankel. 1914 war der Marxismus die wichtigste Tendenz in der internationalen Arbeiterbewegung, die offizielle Lehre der proletarischen Massenparteien in Mittel-und Osteuropa. Es ist daher verständlich, daß Kautsky und die Sozialdemokraten den Marxismus für den natürlichen, unvermeidlichen politischen Ausdruck der modernen Arbeiterbewegung hielten.

Britannien hatte zwar eine proletarische Massenbewegung, die politisch liberal war und offene Klassenzusammenarbeit betrieb. Doch Marx und Engels selbst hatten die politische Rückständigkeit der britischen Arbeiterbewegung als das Produkt besonderer historischer Bedingungen erklärt (z. B. Britanniens Vorherrschaft in der Weltwirtschaft, der nationale Antagonismus zwischen England und Irland, das Empire). Außerdem hielten die Marxisten in der Zweiten Internationale, auch Lenin, die Gründung der Labour Party 1905 für einen bedeutenden progressiven Schritt hin zu einer proletarischen sozialistischen Massenpartei in Britannien. Die relative politische Rückständigkeit der britischen Arbeiterbewegung stellte daher die orthodoxe sozialdemokratische (d. h. kautskyanische) Weltanschauung nicht grundsätzlich in Frage.

Sicher kannte die marxistische Bewegung vor 1914 Renegaten und Revisionisten — die Bernsteinianer in Deutschland, Struwe und die „legalen Marxisten“ in Rußland. Lenin hätte auch Plechanow und die Menschewiki auf diese Liste gesetzt. Aber diese Rückschritte in Richtung liberalen Reformismus schienen nur die intellektuellen Elemente in der sozialdemokratischen Bewegung zu betreffen. Die SPD insgesamt schien eine solide marxistische Politik zu vertreten, während der Marxismus gegenüber dem altmodischen sozialistischen Radikalismus (z. B. Jauresismus) in anderen Sektionen der Internationale (z. B. in Frankreich, Italien) an Boden gewann.

Der 4. August war die erste große interne Konterrevolution in der Arbeiterbewegung, und sie war um so verheerender, weil sie so unerwartet kam. Der Sieg des Chauvinismus und der Klassenzusammenarbeit in den großen Parteien der Zweiten Internationale zerschlug den seichten, passiven Optimismus des kautskyanisierten Marxismus. Nach dem ungeheuerlichen Verrat der SPD, die auf die Seite ihrer „eigenen“ Bourgeoisie überlief, konnten revolutionäre Marxisten den Opportunismus in der Arbeiterbewegung nicht länger für eine vorübergehende oder Randerscheinung oder für ein Produkt historisch bedingter politischer Rückständigkeit (z. B. Britannien) halten.

Die etablierten Führungen der meisten sozialistischen Massenparteien konnten kaum als instabile, kleinbürgerliche, demokratische Intellektuelle, als Mitläufer der Sozialdemokratie abgetan werden. Genauso hatte Kautsky die Revisionisten um Bernstein charakterisiert und hatte Lenin die Menschewiki abgetan. Aber die chauvinistischen Führer der SPD 1914 — Friedrich Ebert, Gustav Noske, Philipp Scheidemann—hatten als junge Männer an der Basis der Partei ihren Aufstieg begonnen. Alle drei waren Arbeiter gewesen: Ebert war Sattler, Noske Metzger und Scheidemann Schriftsetzer gewesen. Ebert und Noske begannen ihre Karriere in der SPD als lokale Gewerkschaftsfunktionäre, Scheidemann als Journalist für eine SPDLokalzeitung. Die führenden Chauvinisten und Opportunisten waren daher wirklich das eigene Fleisch und Blut der deutschen Sozialdemokratie.

Karl Kautsky Dietz Verlag

Karl Kautsky

Auch ließen sich die Taten der SPDFührung nicht als Widerspiegelung der historisch bedingten politischen Rückständigkeit der deutschen Arbeiterklasse erklären. Ebert, Noske und Scheidemann waren durch persönliche Schüler von Marx und Engels zu Marxisten ausgebildet worden. Sie hatten immer wieder für revolutionäre sozialistische Resolutionen gestimmt. Als sie den Krieg unterstützten, wußten die SPDFührer, daß sie die langjährigen sozialistischen Prinzipien ihrer Partei vergewaltigten.

Direkt bis zur schicksalhaften Abstimmung im Reichstag hatte die SPD Massenagitation gegen den Krieg betrieben. Am 25. Juli 1914 veröffentlichte der Parteivorstand einen Aufruf, dessen Schlußsätze lauteten:

„Parteigenossen, wir fordern euch auf, sofort in Massenversammlungen den unerschütterlichen Friedenswillen des klassenbewußten Proletariats zum Ausdruck zu bringen.

… Die herrschenden Klassen, die euch im Frieden knebeln, verachten, ausnutzen, wollen euch als Kanonenfutter mißbrauchen. Überall muß den Gewalthabern in die Ohren klingen:

Wir wollen keinen Krieg! Nieder mit dem Kriege! Hoch die internationale Völkerverbrüderung!“ („Aufruf des Vorstandes der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands vom 25. Juli 1914 zum Massenprotest gegen die Kriegsgefahr“, Vorwärts, 25. Juli 1914, abgedruckt in: Dokumente zur deutschen Geschichte 1914- 1917, Berlin 1976)

Als Lenin den sozialchauvinistischen Verrat der deutschen Sozialdemokratie untersuchte, erkannte er, daß die Bolschewiki nicht einfach das russische Gegenstück zur SPD, allerdings mit einer prinzipienfesten revolutionären Führung, waren. In Lenins Partei wurden Kader grundsätzlich anders ausgewählt, getestet und politisch ausgebildet als in Bebeis und Kautskys Partei. Und dieser Unterschied war der Grund dafür, daß im August 1914 die Reichstagsabgeordneten der SPD „ihren“ Kaiser unterstützten, während ihre Pendants in der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei Rußlands (Bolschewiki) statt dessen in die Gefängnisse des Zaren gesteckt wurden.

Lenin bricht mit der Sozialdemokratie

Seine grundsätzliche Position zum Krieg und zur internationalen sozialistischen Bewegung entwickelte Lenin innerhalb weniger Wochen nach dem Ausbruch der Feindseligkeiten. Diese Position hatte drei Hauptelemente. Erstens mußten Sozialisten für die Niederlage vor allem ihres „eigenen“ bürgerlichen Staates eintreten. Zweitens bewies der Krieg, daß der Kapitalismus in der imperialistischen Epoche die Zivilisation zu zerstören droht. Sozialisten müssen daher dafür arbeiten, den imperialistischen Krieg in einen Bürgerkrieg, in die proletarische Revolution zu verwandeln. Und drittens war die Zweite Internationale durch den Sozialchauvinismus zerstört worden. Eine neue, revolutionäre Internationale mußte durch einen vollständigen Bruch mit den Opportunisten in der sozialdemokratischen Bewegung aufgebaut werden.

Diese Position, die für Lenins Tätigkeit direkt bis zur Oktoberrevolution zentral blieb, kam in seinen allerersten Artikeln über den Krieg klar zum Ausdruck:

„Die Propaganda des Klassenkampfes bleibt auch im Heer Pflicht der Sozialisten; die Arbeit, die auf die Umwandlung des Völkerkrieges in den Bürgerkrieg abzielt, ist in der Epoche des imperialistischen bewaffneten Zusammenpralls der Bourgeoisie aller Nationen die einzige sozialistische Arbeit… Entrollen wir das Banner des Bürgerkriegs! Der Imperialismus hat das Geschick der europäischen Kultur aufs Spiel gesetzt: Diesem Krieg werden bald, wenn es nicht eine Reihe erfolgreicher Revolutionen geben wird, andere Kriege folgen …

Die II. Internationale ist tot, vom Opportunismus besiegt. Nieder mit dem Opportunismus; es lebe die nicht nur von den ‚Überläufern‘ …, sondern auch vom Opportunismus gesäuberte III. Internationale!

Die II. Internationale hat ihr Teil an nützlicher Vorarbeit geleistet, um die proletarischen Massen zunächst während der langen ‚friedlichen‘ Periode härtester kapitalistischer Sklaverei und raschesten kapitalistischen Fortschritts im letzten Drittel des 19. und am Anfang des 20. Jahrhunderts zu organisieren. Der III. Internationale steht die Aufgabe bevor, die Kräfte des Proletariats zum revolutionären Ansturm gegen die kapitalistischen Regierungen zu organisieren, zum Bürgerkrieg gegen die Bourgeoisie aller Länder für die politische Macht, für den Sieg des Sozialismus!“ („Lage und Aufgaben der sozialistischen Internationale“, November 1914)

Lenin war zwar optimistisch, daß die Massenbasis der offiziellen sozialdemokratischen Parteien gewonnen werden konnte, doch er verstand, daß er für die Spaltung der Arbeiterbewegung in zwei antagonistische Parteien eintrat, eine revolutionäre und eine reformistische. Lenins Forderung nach einer Dritten Internationale stieß daher bei den sozialdemokratischen Kriegsgegnern auf weit größeren Widerstand als seine leidenschaftliche Verurteilung des Sozialchauvinismus. Tatsächlich richteten sich die meisten von Lenins Polemiken in dieser Zeit (1914-16) nicht gegen die offenen Sozialchauvinisten (Scheidemann, Vandervelde, Plechanow), sondern gegen die Zentristen, die die Sozialchauvinisten in Schutz nahmen (Kautsky) oder den Bruch mit ihnen ablehnten (Martow).

Daher war Lenin gezwungen, sich mit der orthodox sozialdemokratischen Position zur Parteifrage, der kautskyanischen „Partei der Gesamtklasse“, auseinanderzusetzen und sie explizit zu verwerfen:

„Die durch den großen Krieg herbeigeführte Krise hat alle Hüllen heruntergerissen, alles Konventionelle hinweggefegt, das längst ausgereifte Geschwür aufbrechen lassen und den Opportunismus in seiner wahren Rolle als Verbündeten der Bourgeoisie gezeigt. Die völlige, organisatorische Trennung dieses Elements von den Arbeiterparteien ist zur Notwendigkeit geworden… Die alte Theorie vom Opportunismus als einer ‚berechtigten Schattierung‘ der einheitlichen, allen ‚Extremen‘ fremden Partei ist jetzt zum schlimmsten Betrug an den Arbeitern und zum größten Hindernis für die Arbeiterbewegung geworden. Der offene Opportunismus, der die Arbeitermassen sofort von sich abstößt, ist nicht so gefährlich und so schädlich wie diese Theorie der goldenen Mitte … Der namhafteste Vertreter dieser Theorie und zugleich die namhafteste Autorität der II. Internationale, Kautsky, hat sich als erstklassiger Heuchler und als Virtuose in der Prostituierung des Marxismus entpuppt.“ („Der Zusammenbruch der II. Internationale“, Mai/Juni 1915)

Als Lenin das Anwachsen des Opportunismus in den sozialdemokratischen Parteien Westeuropas untersuchte, überprüfte er natürlich die Geschichte der russischen Bewegung und des Bolschewismus. Er erkannte, daß die bolschewistische Organisation tatsächlich nicht nach der kautskyanischen Formel aufgebaut worden war. Die Bolschewiki hatten sich von den russischen Opportunisten, den Menschewiki, formal zweieinhalb Jahre vor Kriegsausbruch organisatorisch völlig getrennt, und in der Praxis lange vor 1912. Lenin sah jetzt in der bolschewistischen Partei ein Muster für eine neue, revolutionäre Internationale:

„Die SDAPR hat schon längst mit ihren Opportunisten gebrochen. Die russischen Opportunisten sind jetzt auch noch Chauvinisten geworden. Das bestärkt uns nur noch in der Meinung, daß der Bruch mit ihnen im Interesse des Sozialismus notwendig ist… Wir sind zutiefst überzeugt, daß beim heutigen Stand der Dinge der Bruch mit den Opportunisten und Chauvinisten die erste Pflicht eines Revolutionärs ist — genauso wie die Trennung von den Gelben, den Antisemiten, den liberalen Arbeiterverbänden usw. notwendig war, damit man die zurückgebliebenen Arbeiter rascher aufklären und sie in die sozialdemokratische Partei einreihen konnte.

Die Dritte Internationale müßte unserer Ansicht nach gerade auf einer solchen revolutionären Basis geschaffen werden. Ob der Bruch mit den Sozialchauvinisten zweckmäßig ist, das steht für unsere Partei nicht in Frage. Diese Frage ist für die Partei unwiderruflich entschieden. Eine Frage ist für sie nur, ob sich dieser Bruch im internationalen Maßstab in allernächster Zeit vollziehen läßt.“ (W I. Lenin und Grigori Sinowjew, Sozialismus und Krieg, Juli/August 1915)

Wie wir betont haben, entstand der Leninismus als qualitative Erweiterung des Marxismus in den Jahren 1914-17, als Lenin auf den imperialistischen Krieg und den Zusammenbruch der Zweiten Internationale in feindselige sozialchauvinistische Parteien eine revolutionäre Antwort gab. Gegen diese Auffassung haben sich einerseits die Stalinisten gestellt, die ihren Kult vom unfehlbar hellseherischen revolutionären Führer bis zum Anfang von Lenins politischer Laufbahn zurückdatieren, und andererseits verschiedene Zentristen und Linksreformisten, die die Trennungslinie zwischen dem Leninismus und der orthodoxen Sozialdemokratie vor 1914 (Kautskyanertum) verwischen oder völlig auslöschen wollen.

Bei den Bolschewiki war es aber allgemein anerkannt, daß der Leninismus erst 1914 entstanden war und nicht vorher. In einem Nachruf auf Lenin schrieb Jewgeni Preobraschenski, ein führender bolschewistischer Intellektueller:

„Beim Bolschewismus oder Leninismus müssen wir genau zwischen zwei Perioden unterscheiden — der Periode ungefähr vor dem Weltkrieg und der Periode, die vom Weltkrieg eingeleitet wurde. Vor dem Weltkrieg war Genosse Lenin noch nicht der Meinung, daß die Sozialdemokraten die Agenten des Kapitals in den Reihen des Proletariats waren, obwohl er am wirklichen, genuinen, unverfälschten revolutionären Marxismus festhielt. Während dieser Periode kann man mehr als einen Artikel des Genossen Lenin finden, wo er diese deutsche Sozialdemokratie verteidigt gegen Anklagen und Beschuldigungen des nichtrevolutionären Opportunismus, des Verrats am revolutionären Geist des Marxismus, wie sie z.B. aus dem Lager der Populisten, Syndikalisten usw. kamen…

Wäre Genosse Lenin zu unserem Unglück vor dem Weltkrieg gestorben, wäre es niemandem eingefallen, vom ‚Leninismus‘ zu sprechen als einer Art besonderer Version des Marxismus, wie er es später werden sollte. Lenin war der konsequenteste revolutionäre Marxist… Aber es gab in unserem Bolschewismus im Bereich der Theorie nichts Spezifisches …, was ihn irgendwie vom traditionellen, aber wirklich revolutionären Marxismus unterschieden hätte…

Wenn Genosse Lenin nicht lange genug gelebt hätte, um diese Periode [nach 1914] zu erleben, wäre er als hervorragendster Führer des linken Flügels der russischen Sozialdemokratie in die Geschichte eingegangen… Erst das Jahr 1914 verwandelte ihn in einen internationalen Führer. Er war der erste, der die grundlegende Frage stellte: Was bedeutet dieser Krieg im breiten Sinne? Er antwortete: Dieser Krieg bedeutet den Anfang des Zusammenbruchs des Kapitalismus, und daher muß die Taktik der Arbeiterbewegung darauf gerichtet sein, den imperialistischen Krieg in einen Bürgerkrieg zu verwandeln.“ („Marxismus und Leninismus“, in Molodoia Gwardija, 1924)

Was war die Bedeutung des Sozialchauvinismus?

Innerhalb weniger Wochen nach Kriegsausbruch entschloß sich Lenin, mit den Sozialchauvinisten zu brechen und auf eine neue, revolutionäre Internationale hinzuarbeiten. Aber er lieferte noch nicht sofort eine theoretische (d.h. historische und soziologische) Erklärung dafür, aus welchem Grund und auf welche Weise die Massenparteien des westeuropäischen Proletariats vom Opportunismus überwältigt worden waren.

Hier könnte man Marx und Lenin als revolutionäre Politiker gegenüberstellen. Marx kam oft zu theoretischen Verallgemeinerungen schon vor den unmittelbaren programmatischen, taktischen und organisatorischen Schlußfolgerungen, die sich aus seinen neuen soziohistorischen Voraussetzungen ergaben. So kam Marx Ende 1849, nach neun Monaten Revolution, zu dem Schluß, daß die deutsche Bourgeoisie unfähig war, den Absolutismus zu stürzen. Doch erst ein Jahr später entwickelte Marx im Exil eine neue Strategie, die seinem neuen Verständnis der deutschen Gesellschaft entsprach. Lenin hingegen brach aufgrund seines revolutionären Impulses häufig mit dem Opportunismus und mit falschen Positionen, schon bevor er zu den entsprechenden theoretischen Verallgemeinerungen kam.

In der Zeit 1914-16 blieb Lenins theoretische Analyse hinter seinen politischen Schlußfolgerungen und Taten zurück. Lenins erste Schriften über den Krieg und die Internationale kennzeichneten den sozialdemokratischen Opportunismus nur als eine politisch-ideologische Strömung. Der einzige Versuch, das Anwachsen des Opportunismus mit objektiven historischen Bedingungen in Zusammenhang zu bringen, war der Hinweis darauf, daß die sozialistischen Parteien Westeuropas für lange Zeit in der bürgerlichen Legalität gearbeitet hatten.

Keine soziologische oder historische Erklärung für den sozialdemokratischen Opportunismus zu haben schwächte Lenins Kampagne für eine Dritte Internationale ernsthaft. Denn um die Spaltung der internationalen Sozialdemokratie vollständig zu begründen, mußte man beweisen, daß der 4. August nicht bloß eine opportunistische Episode war oder eine falsche Politik, die sich rückgängig machen ließe. Lenins Kampf gegen die Zentristen — Kautsky/Haase/Ledebour in Deutschland, Martow/Axelrod in Rußland, die Führung der Sozialistischen Partei Italiens — konzentrierte sich auf die historische Bedeutung einer Politik der Landesverteidigung im Weltkrieg und auf die tiefe Verwurzelung des Opportunismus in der sozialdemokratischen Bewegung. Die Zentristen behaupteten, die „Vaterlandsverteidigung“ sei ein kolossaler opportunistischer Fehler, aber nicht mehr. Die Politik der Vaterlandsverteidigung könne rückgängig gemacht und die Zweite Internationale um- und reformiert werden. Einige extreme Chauvinisten müßten wohl gehen, aber im Grunde genommen könnte man die „gute alte Internationale“ vom Juli 1914 wiederherstellen. Nach Lenins Auffassung war die Internationale vor 1914 vom Opportunismus befallen, und mit dem Krieg verschlimmerte sich diese Krankheit bis zum Sozialchauvinismus und wurde tödlich. Für die Zentristen war die Vorkriegsinternationale im wesentlichen ein gesunder Organismus. Sie mache jetzt die Krankheit des Sozialchauvinismus durch. Die Aufgabe von Sozialisten sei es, die Krankheit zu heilen und den Patienten zu retten.

Die wichtigste Person, die eine Amnestie für die Sozialchauvinisten befürwortete und das Problem des Opportunismus als minimal hinstellte, war natürlich Kautsky. In der Neuen Zeit (19. Februar 1915) empfahl er eine Haltung kameradschaftlicher Toleranz gegenüber denjenigen, die mit der Verteidigung des deutschen Imperialismus einen „Fehler“ begangen hätten:

„Ich sah wohl, daß seit dem 4. August eine Reihe Genossen tatsächlich sich fortschreitend gewandelt hat und immer mehr dem Imperialismus verfallen ist, glaubte aber doch, darin nur Ausnahmen zu sehen und in optimistischem Sinne antworten zu dürfen. Ich legte Wert darauf, dies den Genossen zu sagen, um ihre Zuversicht zu kräftigen und dem Pessimismus entgegenzuwirken. Nicht minder wichtig erschien es mir, die Genossen zur Toleranz zu mahnen — dem Beispiele folgend, das Liebknecht 1870 gegeben.“ (Karl Kautsky, „Eine Richtigstellung“)

Zentristische Weichheit gegenüber der Zweiten Internationale kam zu Beginn des Krieges auch bei den Bolschewiki zum Ausdruck. Der Führer der bolschewistischen Gruppe in der Schweiz, W. A. Karpinski, war gegen Lenins Position, daß die Zweite Internationale zusammengebrochen war und eine neue, revolutionäre Internationale aufgebaut werden mußte. In einem Brief an Lenin (27. September 1914) schrieb er:

„… wir meinen, es wäre Übertreibung, alles, was innerhalb der Internationale geschehen ist, als deren ‚ideologisch-politischen Zusammenbruch‘ zu definieren. Weder dem Ausmaß noch dem Inhalt nach entspricht diese Definition dem, was wirklich geschehen ist. Die Internationale … hat, wenn man will, einen ideologisch-politischen Zusammenbruch erlitten, aber nur in bezug auf eine Frage, die militärische Frage. Hinsichtlich anderer Fragen besteht kein Grund für die Meinung, die ideologisch-politische Position der Internationale habe geschwankt oder, noch weitergehend, sei total zerstört. Das würde heißen, unnötigerweise die ganze Festung preisgeben, nachdem wir nur die eine Stellung verloren haben.“ (Zitiert in Gankin und Fisher, Hrsg., The Bolsheviks and the World War, 1940)

Um solche zentristischen Positionen zu überwinden, mußte Lenin beweisen, daß der 4. August die Zuspitzung der opportunistischen Tendenzen war, die im Charakter und in der Geschichte der westeuropäischen Sozialdemokratie tief verwurzelt waren.

Imperialismus, Sozialchauvinismus und die Arbeiterbürokratie

Lenins Analyse der sozialen Grundlage des Opportunismus in der Zweiten Internationale wurde zum ersten Mal in einer Resolution („Der Opportunismus und der Zusammenbruch der II. Internationale“) für eine bolschewistische Konferenz in Bern vom 27. Februar bis 4. März 1915 dargestellt:

„Bestimmte Schichten der Arbeiterklasse (die Bürokratie in der Arbeiterbewegung und die Arbeiteraristokratie, für die ein kleiner Teil der Profite aus der Ausbeutung der Kolonien und aus der privilegierten Lage ihres Vaterlands auf dem Weltmarkt abfiel) sowie die kleinbürgerlichen Mitläufer innerhalb der sozialistischen Parteien waren die soziale Hauptstütze dieser [opportunistischen] Tendenzen und die Träger des bürgerlichen Einflusses auf das Proletariat.“

Diese Kernanalyse wurde erst im folgenden Jahr theoretisch und empirisch vertieft, hauptsächlich in Lenins Broschüre Der Imperialismus als höchstes Stadium des Kapitalismus (geschrieben Januar bis Juni 1916) und in seinem Artikel „Der Imperialismus und die Spaltung des Sozialismus“ (Oktober 1916) sowie in Sinowjews Buch Der Krieg und die Krise des Sozialismus (1924).

Angesichts des stalinistischen Leninkults und der individualistischen Interpretationen der bürgerlichen Geschichtsschreibung ist nicht allgemein bekannt, daß Lenin als Teil eines Kollektivs arbeitete. Während der Kriegsjahre hatte er eine literarische Arbeitsteilung mit Sinowjew, der sich dabei auf die deutsche Bewegung konzentrierte. Wenn man nur Lenins Schriften aus dieser Zeit liest, bekommt man ein sehr unvollständiges Bild der Position der Bolschewiki zum imperialistischen Krieg und zur internationalen sozialistischen Bewegung. Deshalb wurden 1916 Lenins und Sinowjews Schriften zum Krieg in einem Sammelband auf deutsch veröffentlicht: Gegen den Strom. Die wichtigste leninistische Analyse des Opportunismus in der deutschen Sozialdemokratie ist Sinowjews Werk Der Krieg und die Krise des Sozialismus, das einen längeren Abschnitt mit dem Titel „Die sozialen Wurzeln des Opportunismus“ enthält. Dieser zentrale Abschnitt von Sinowjews bedeutendem Werk erschien auch auf englisch in der Zeitschrift der amerikanischen Shachtman-Anhänger New International (März-Juni 1942).

Grigori Sinowjew Radio Times Hulton

Grigori Sinowjew

Marxisten hatten schon lange die Existenz einer probürgerlichen, proimperialistischen Arbeiterbürokratie in Britannien erkannt. Engels hatte die verbürgerlichten Führer der britischen Gewerkschaften mehr als nur einmal angeprangert und sah dieses Phänomen im Zusammenhang mit Britanniens weltweiter wirtschaftlicher Vorherrschaft. Doch die Marxisten der Zweiten Internationale hielten die klassenkollaborationistische britische Arbeiterbewegung für eine historische Anomalie, eine Etappe, die die europäische Sozialdemokratie glücklicherweise übersprungen hätte. In seinen einleitenden Bemerkungen zum Abschnitt über die Arbeiterbürokratie in Deutschland bemerkt Sinowjew, daß Marxisten die Sozialdemokratie für immun gegen diese korrupte soziale Kaste gehalten hatten:

„Als wir vor dem Kriege von Arbeiterbureaukratie sprachen, da meinten wir damit fast ausschließlich die englischen Trade-Unions. Wir dachten an die fundamentalen Arbeiten der Eheleute Webb, des Kastengeistes, der reaktionären Rolle der Bureaukratie im alten englischen Trade-Unionismus, und wir sagten uns: wie gut, daß wir nicht nach diesem Vorbild geschaffen sind, wie gut, daß dieser Kelch an unserer Arbeiterbewegung auf dem Kontinent vorübergegangen ist!

Aber wir trinken schon seit langem aus demselben Kelch. In der Arbeiterbewegung Deutschlands — einer Bewegung, die vor dem Kriege den Sozialisten aller Länder als Muster diente, — ist eine ebenso zahlreiche und ebenso reaktionäre Kaste von Arbeiterbureaukraten entstanden.“ (G. Sinowjew, Der Krieg und die Krise des Sozialismus)

Der Triumph des Sozialchauvinismus in der Zweiten Internationale brachte Lenin dazu, die historische Bedeutung der proimperialistischen Führung der britischen Labour Party neu zu überdenken. Er kam zu dem Schluß, daß der klassenkollaborationistische Trade-Unionismus des viktorianischen Englands schon Tendenzen vorwegnahm, die hervortreten würden, wenn andere Länder, vor allem Deutschland, Britannien wirtschaftlich einholen und zu konkurrierenden imperialistischen Mächten werden würden.

Deutschlands sehr schnelles Industriewachstum nach dem siegreichen Krieg 1870 schuf eine mächtige sozialdemokratische Arbeitermassenbewegung und verwandelte gleichzeitig das Land in eine aggressive imperialistische Weltmacht. Deutschlands expansionistische Ziele konnten nur durch einen großen Krieg verwirklicht werden. Und Deutschland hätte einen großen Krieg nicht gewinnen können, wenn es mit der aktiven Opposition seiner mächtigen Arbeiterbewegung konfrontiert gewesen wäre. So machten die objektiven Erfordernisse des deutschen Imperialismus die Kooperation der sozialdemokratischen Führung notwendig. Die Niederlage der deutschen bürgerlich-demokratischen Revolution 1848 und die halbautokratische klassenpolitische Struktur, die daraus hervorging, machten eine Annäherung zwischen den herrschenden Kreisen und der Arbeiterbürokratie schwieriger, weniger evolutionär als in Britannien. Daher die Schockwirkung des 4. August.

Aber Lenin erkannte, daß der grundlegende historische Prozeß, der zur Zustimmung der SPD zu den Kriegskrediten 1914 und zur Regierungsbeteiligung der britischen Labour Party geführt hatte, ähnlich war. Im Imperialismus schrieb er:

„Es muß bemerkt werden, daß in England die Tendenz des Imperialismus, die Arbeiter zu spalten, den Opportunismus unter ihnen zu stärken und eine zeitweilige Fäulnis der Arbeiterbewegung hervorzurufen, viel früher zum Vorschein kam als Ende des 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts…

Das Merkmal der heutigen Lage besteht in ökonomischen und politischen Bedingungen, die zwangsläufig die Unversöhnlichkeit des Opportunismus mit den allgemeinen und grundlegenden Interessen der Arbeiterbewegung verstärken mußten … Der Opportunismus kann jetzt nicht mehr in der Arbeiterbewegung irgendeines Landes auf eine lange Reihe von Jahrzehnten hinaus völlig Sieger bleiben, so wie er in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts in England gesiegt hatte; in einer Reihe von Ländern ist der Opportunismus vielmehr reif, überreif geworden und in Fäulnis übergegangen, da er sich als Sozialchauvinismus mit der bürgerlichen Politik restlos verschmolzen hat.“ (unsere Hervorhebung)

Lenins Imperialismus behandelt diejenigen Veränderungen im kapitalistischen Weltsystem, die die opportunistischen Kräfte in der Arbeiterbewegung international stärkten. Und Sinowjews Buch von 1916 analysiert konkret die Kräfte des Opportunismus in der deutschen Sozialdemokratie.

Sinowjew zeigte, daß die riesige SPD-Parteikasse eine Unzahl von Funktionären unterstützte, die ein bequemes kleinbürgerliches Leben führten, weit entfernt von den Arbeitern, die sie angeblich vertraten. Zu diesem relativ hohen Lebensstandard kam hinzu, daß die sozialdemokratischen Funktionäre allmählich in den Genuß eines gesellschaftlich privilegierten Status kamen. Deutschlands herrschende Elite begann, die SPD- und Gewerkschaftsführer mit Respekt zu behandeln, machte aber einen Unterschied zwischen „Gemäßigten“ und den Radikalen wie Karl Liebknecht. Die korrumpierende Wirkung auf einen ehemaligen Drucker oder Sattler, von der Junker-Aristokratie als Respektsperson behandelt zu werden, war erheblich. In seinem ausgezeichneten Buch Die große Spaltung: die deutsche Sozialdemokratie von 1905-1917 (1981) bemerkt Carl E. Schorske über Scheidemanns Memoiren der Kriegsjahre: „Keinem Leser Scheidemanns kann das wirkliche Vergnügen entgehen, daß dieser empfand, wenn er eingeladen wurde, sozusagen auf gleichem Fuße mit den Ministern des Staates Verhandlungen zu führen.“ Die deutsche Sozialdemokratie war zu einer Institution geworden, über welche tüchtige, ehrgeizige junge Arbeiter ganz nach oben kommen konnten in einer Gesellschaft, die in Klassen und Kasten vielschichtig unterteilt war.

Sinowjews wichtiges Werk von 1916 korrigiert die Betonung des ideologischen Revisionismus als Ursache des Opportunismus, wie sie in Lenins ersten Schriften über den Krieg zu finden ist. Tatsächlich widerspiegelte die offizielle Doktrin und das Programm der SPD ihre zunehmend reformistische Praxis nicht. Viele sozialdemokratische Führer, die überwiegend aus der Arbeiterklasse kamen, hielten gefühlsmäßig am Sozialismus fest, als sie schon längst aufgehört hatten, ihn für eine praktikable Politik zu halten. Erst der Krieg zwang die SPD, offen mit den sozialistischen Grundsätzen zu brechen.

Sinowjew erkannte, daß sozialchauvinistische Ideologie falsches Bewußtsein war, das aus der tatsächlichen Rolle der SPD-Funktionäre in der Gesellschaft des wilhelminischen Deutschlands entstand:

„Wenn wir vom ‚Verrat der Führer‘ sprechen, so wollen wir absolut nicht sagen, daß es sich um ein abgekartetes Spiel, um einen mit vollem Bewußtsein unternommenen Verkauf der Arbeiterinteressen handelt. Das zu behaupten liegt uns fern. Aber das Bewußtsein wird durch das Sein bestimmt, und nicht umgekehrt. Das ganze soziale Wesen dieser Kaste der Arbeiterbureaukratie führte beim alten Tempo der Bewegung, in der ‚friedlichen‘ Vorkriegsepoche, unvermeidlich zu einer vollkommenen Verbürgerlichung ihres ‚Bewußtseins‘. Die ganze Lage dieser zahlreichen Führerkaste, die auf dem Rücken der Arbeiterklasse emporgeklommen ist, hat aus ihr eine soziale Gruppe gemacht, die objektiv als Agentur der imperialistischen Bourgeoisie betrachtet werden muß.“ (Der Krieg und die Krise des Sozialismus)

Die Anarchosyndikalisten applaudierten den revolutionären Marxisten für ihren Angriff auf die sozialdemokratische Bürokratie und erklärten: Wir haben es euch ja gesagt. Als die Bolschewiki die offizielle Sozialdemokratie angriffen, machten sie daher einen sorgfältigen Unterschied zwischen ihrer Position und der der Anarchosyndikalisten. Sinowjew wies darauf hin, daß in einem Sinne die Existenz einer mächtigen reformistischen Bürokratie das Ergebnis der Entwicklung und Stärke der proletarischen Massenbewegung war. Die Antwort der Anarchosyndikalisten auf den Bürokratismus lief auf die Selbstliquidierung der Arbeiterbewegung als einer organisierten Kraft, die objektiv zum Sturz des Kapitalismus fähig war, hinaus. Die reformistische Bürokratie unterdrückte das revolutionäre Potential der Arbeiterbewegung, wohingegen die Anarchosyndikalisten vorschlugen, diese Bewegung bis zur Ohnmacht zu desorganisieren.

Sinowjew bestand darauf, daß eine Bürokratie nicht gleichzusetzen sei mit einer großen Organisation von Partei- und Gewerkschaftsfunktionären. Im Gegenteil, ein solcher Apparat sei notwendig, um die Arbeiterklasse an die Macht zu führen. Die entscheidende Aufgabe bestehe darin, die Führer und Funktionäre der Arbeiterbewegung den historischen Interessen des internationalen Proletariats unterzuordnen:

„Die Arbeiterbureaukratie hat zur Zeit der Krise bei Kriegsausbruch die Rolle eines reaktionären Faktors gespielt. Das ist zweifellos richtig. Aber das bedeutet nicht, daß die Arbeiterbewegung in Zukunft ohne einen großen Organisationsapparat, ohne eine ganze Schicht von Menschen, die speziell im Dienst der proletarischen Organisation stehen, auskommen kann. Nicht zurück zu jener Zeit wollen wir, da die Arbeiterbewegung so schwach war, daß sie auf eigene Angestellte und Beamte verzichten konnte, sondern vorwärts zu der Zeit, in der die Arbeiterbewegung selber eine andere sein wird, in der die stürmische Massenbewegung des Proletariats sich diese Beamtenschicht unterordnet, die Routine zerstört, den bureaukratischen Rost fortwischt, neue Menschen an die Oberfläche bringt, ihnen Kampfesmut einflößt, sie mit neuem Geist erfüllt.“ (ebenda, Hervorhebung im Original)

Es gibt keine mechanische organisatorische Lösung des Problems des Bürokratismus in der Arbeiterbewegung oder sogar in ihrer Avantgardepartei. Der Kampf gegen Bürokratismus und Reformismus bedeutet einen ständigen politischen Kampf gegen den vielseitigen Einfluß und Druck, den die bürgerliche Gesellschaft auf die Arbeiterbewegung, ihre verschiedenen Schichten und ihre Avantgarde ausübt.

Die leninistische Position zur Arbeiteraristokratie

Die Marxisten der Zweiten Internationale waren sich sehr wohl bewußt, daß nicht die gesamte Arbeiterklasse den Sozialismus unterstützte. Viele Arbeiter hielten an der bürgerlichen Ideologie (z.B. Religion) fest und unterstützten die kapitalistischen Parteien. Die Sozialdemokraten vor 1914 assoziierten politische Rückständigkeit im allgemeinen mit gesellschaftlicher Rückständigkeit. Insbesondere sahen sie, daß Arbeiter, die frisch aus der Bauernschaft gekommen oder andere Kleineigentümer gewesen waren, dazu neigten, die Sichtweise ihrer früheren Klasse beizubehalten. So schrieb Kautsky in seinem 1909 erschienenen Buch, Der Weg zur Macht:

„Zum großen Teil dem Kleinbürgertum und Kleinbauernstand entsprossen, tragen viele Proletarier noch lange dessen Eierschalen mit sich herum; sie fühlen sich nicht als Proletarier, sondern als möchte-gern Besitzende.“

Mit anderen Worten: Die klassisch sozialdemokratische Position war, daß Arbeiter, die ein niedriges kulturelles Niveau hatten, ungelernt und unorganisiert waren, vom Lande gekommen waren usw., gegenüber der bürgerlichen Autorität am gefügigsten seien. Im Kontext von Deutschland und Frankreich gegen Ende des 19. Jahrhunderts stimmte diese politisch-soziologische Verallgemeinerung.

Doch mit der Entwicklung einer starken Gewerkschaftsbewegung trat der soziale und politische Konservatismus an der Spitze der Arbeiterklasse auf und nicht nur unten. Gelernte Arbeiter, die in starken Zunftgewerkschaften organisiert waren, isolierten sich in gewissem Maße vom Arbeitsmarkt und der zyklisch auftretenden Arbeitslosigkeit und neigten zu einem zunftbornierten Standpunkt.

Das Phänomen einer Kaste von Arbeiteraristokraten ebenso wie das der Arbeiterbürokratie trat zuerst im viktorianischen England auf. Der zünftlerisch beschränkte Geist der britischen Handwerkergewerkschaften war allgemein bekannt. Zudem bestand die Oberschicht der britischen Arbeiterklasse fast ausschließlich aus Engländern und Schotten, während die Iren einen bedeutenden Teil der ungelernten Arbeiterschaft stellten.

Die deutsche Vorkriegssozialdemokratie bestand größtenteils aus gelernten, besser verdienenden Arbeitern. Sinowjew sah in dieser soziologischen Zusammensetzung eine wichtige Quelle des Reformismus:

„So ergibt sich, daß die Hauptmasse der Mitglieder der Berliner sozialdemokratischen Organisation zu den gelernten, qualifizierten Arbeitern gehört. Mit anderen Worten, die Hauptmasse der Mitglieder der sozialdemokratischen Organisation besteht aus besser bezahlten Arbeiterschichten, — aus den Schichten, aus denen sich der größte Teil der Arbeiteraristokratie rekrutiert.“ (Hervorhebung im Original)

Sinowjew macht keinen Versuch, empirisch zu beweisen, daß die Arbeiteraristokratie die Basis des rechten Flügels der SPD stellte; er behauptet es einfach. Man kann ihm daher vorwerfen, daß er die politische Soziologie des Britanniens von Edward VII. mechanisch auf das ganz andere Terrain des wilhelminischen Deutschlands übertrug. Die Zunftgewerkschaften spielten in Deutschland niemals eine so wichtige Rolle wie in Britannien. Andererseits war im politischen Leben Deutschlands direkt bis zum Ersten Weltkrieg die ländliche Rückständigkeit ein großer Faktor. Die rschütterliche Basis des rechten Flügels der SPD waren die Parteiorganisationen in der Provinz. Rechte Bürokraten versuchten, den Radikalen, die immer in den Großstädten konzentriert waren, dadurch entgegenzuwirken, daß sie die Grenzen der Parteiwahlkreise zugunsten der Kleinstädte verschoben. Der Sohn eines Bauern, der als ungelernter Arbeiter in einer süddeutschen Stadt beschäftigt war, würde eher die SPD-Rechte unterstützen, vertreten von Bernstein und Eduard David, als es ein Berliner Maschinenschlossermeister tun würde.

Wenn auch Sinowjew das britische Modell der soziologischen Grundlage des Opportunismus allzu mechanisch auf die SPD übertrug, so bleibt doch die grundsätzliche leninistische Position über die schichtenmäßige Zusammensetzung der Arbeiterklasse in der imperialistischen Epoche gültig. In den fortgeschrittenen kapitalistischen Ländern mit einer großen, gefestigten Arbeiterbewegung neigen die oberen Schichten der Arbeiterklasse im Vergleich zur großen Masse des Proletariats häufig zu einem sozialen und politischen Konservatismus. Außerdem können die Bourgeoisie und die Arbeiterbürokratie innerhalb bestimmter ökonomischer Grenzen die Kluft zwischen der Arbeiteraristokratie und der Klasse als ganzer weiter vertiefen.

Sinowjew hat sicher recht mit der Behauptung: „Die Spaltung zwischen den einzelnen Schichten der Arbeiterklasse unterstützen, die Konkurrenz unter ihnen schüren, die Oberschicht absondern, indem man sie besticht und sie zur Trägerin der bürgerlichen ‚Respektabilität‘ macht, darin liegt das direkte Interesse der Bourgeoisie… Sie [die Sozialchauvinisten] spalten die Arbeiterklasse innerhalb eines jeden Landes und dadurch vertiefen und festigen sie die Spaltung zwischen den Arbeiterklassen der verschiedenen Länder.“

Die oberste Schicht der Arbeiterklasse steht nicht immer und überall politisch rechts von der Masse des Proletariats. Die größere wirtschaftliche Sicherheit der hochqualifizierten Arbeiter sorgt manchmal dafür, daß sie eine radikalere politische Einstellung haben als die Masse der organisierten Arbeiter, denen es eher um ihre alltäglichen materiellen Bedürfnisse geht. So hatten in der Weimarer Republik der 20er Jahre die Kommunisten relativ mehr Unterstützung bei den Facharbeitern als bei den ungelernten Fabrikarbeitern, die von den Sozialdemokraten unmittelbare Reformen erwarteten. Über die Mitglieder der Kommunistischen Partei Deutschlands 1927 schrieb Franz Borkenau:

„… Facharbeiter und solche, die es früher gewesen waren, machen zwei Fünftel der Parteimitgliedschaft aus; wenn man ihre Frauen hinzuzählt, wären sie wahrscheinlich knapp die Hälfte… Wenn es so etwas wie eine Arbeiteraristokratie gibt, hier ist sie.“ (World Communism, 1939)

Lenins Position zur Arbeiteraristokratie war eine wichtige Korrektur der traditionellen positiven Orientierung der Sozialdemokratie auf diese Schicht, eine Orientierung, die zum Teil eine konservative Reaktion auf das schnelle Anwachsen der ungelernten Arbeiterschaft war, die aus der politisch konservativen und sozial rückständigen Bauernschaft kam. Arbeiter aus ländlichen Gebieten können zwar extrem militant sein, sind aber sehr unberechenbar und schwer auf einer stabilen Basis zu organisieren. Zum Beispiel zeigten landwirtschaftliche Wanderarbeiter und ähnliche Gruppen (z. B. Holzfäller), die vor dem Ersten Weltkrieg der syndikalistischen Organisation „Industrial Workers of the World“ in den USA angehörten, große Kampfbereitschaft, aber auch große organisatorische Instabilität.

Niemand, der sich heute als Marxist bezeichnet, hat eine so positive Orientierung auf die hochqualifizierten, gutbezahlten Schichten der Arbeiterklasse wie damals die Sozialdemokratie. Im Gegenteil, in der letzten Zeit ist der neulinke „Marxismus“ zum anderen Extrem übergegangen und schreibt das ganze organisierte Proletariat in den fortgeschrittenen kapitalistischen Ländern als „Arbeiteraristokratie“ ab, die mit der Beute des Imperialismus bestochen worden sei. So wie früher der Angriff der revolutionären Marxisten auf die sozialdemokratische Bürokratie von den Anarchosyndikalisten ausgeschlachtet wurde, so wird heute Lenins kritische Analyse der Rolle der Arbeiteraristokratie verzerrt und im Dienst des antiproletarischen, kleinbürgerlichen Radikalismus, insbesondere des Nationalismus, ausgeschlachtet.

Ein Vordenker der Dritte-Welt-Orientierung der Neuen Linken (mehr oder weniger mit dem Maoismus verbunden) ist Paul Sweezy vom Journal Monthly Review. Seine revisionistische Verzerrung von Lenins Analyse der Arbeiteraristokratie zeigt sich in besonders scharfer Form in dem Artikel „Marx and the Proletariat“ (Monthly Review, Dezember 1967) zum 100. Jahrestag der Veröffentlichung des ersten Bands vom Kapital. Hier vereinnahmt Sweezy Lenins Imperialismus für die These, daß sich die hauptsächliche soziale Kraft der Revolution in unserer Epoche zu den ländlichen Massen in den rückständigen Ländern verschoben habe:

Eduard Bernstein Bildarchiv Preußischer Kulturbesitz

Eduard Bernstein

„Sein [Lenins] Hauptbeitrag war sein kleines Buch Der Imperialismus als höchstes Stadium des Kapitalismus, das 1917 erschien und genau halb so alt ist wie der erste Band vom Kapital. Darin argumentierte er, daß ‚der Kapitalismus zu einem Weltsystem kolonialer Unterdrückung und finanzieller Erdrosselung der übergroßen Mehrheit der Bevölkerung der Erde durch eine Handvoll „fortgeschrittener“ Länder geworden‘ sei. Er argumentierte auch, daß die Kapitalisten der imperialistischen Länder einen Teil ihrer ‚Beute‘ dazu benutzen können, eine Arbeiteraristokratie zu bestechen und auf ihre Seite zu ziehen, und dies auch tun. Was die Logik des Arguments betrifft, läßt sie sich ausweiten auf eine Mehrheit der Arbeiter oder sogar auf alle Arbeiter in den Industrieländern. Auf jeden Fall ist es klar, daß die Berücksichtigung des globalen Charakters des kapitalistischen Systems schwerwiegende zusätzliche Gründe für die Ansicht liefert, daß in diesem Stadium der kapitalistischen Entwicklung die Tendenz besteht, ein Proletariat hervorzubringen, das eher wem ger als mehr revolutionär ist.“ (unsere Hervorhebung)

Die Neue Linke liegt ganz schief, wenn sie die Arbeiteraristokratie einfach mit den besser bezahlten Teilen des Proletariats gleichsetzt. Erstens sind viele relativ besser bezahlte Arbeiter (z. B. Autoarbeiter oder Lastwagenfahrer in den USA) Mitglieder von Industriegewerkschaften ungelernter und angelernter Arbeiter, die ihre höheren Löhne durch militanten Kampf gegen die Bosse gewannen und nicht durch imperialistische Bestechung oder Verfilzung. Auch kann man nicht alle Zunftgewerkschaften zur Arbeiteraristokratie rechnen. Die Textilbranche ist so organisiert, und dort gibt es die mit am schlechtesten bezahlten gewerkschaftlich organisierten Arbeiter in den USA.

Im Imperialismus und damit in Verbindung stehenden Schriften hob Lenin immer wieder hervor, daß die Arbeiteraristokratie eine kleine Minderheit des Proletariats darstellt. Und dies war keine empirische Schätzung, sondern eine grundlegende soziologische These. Eine Gruppe kann eine gesellschaftlich privilegierte Stellung nur im Vergleich zu den arbeitenden Massen der Gesellschaft haben, deren Teil sie ist. Die neulinke Dritte-Welt-Sichtweise, die behauptet, das Proletariat in den imperialistischen Zentren sei eine Arbeiteraristokratie im Vergleich zu den verelendeten kolonialen Massen, leugnet die Tatsache, daß die Arbeiterklasse Europas und Nordamerikas im wesentlichen dadurch definiert wird, daß sie der Ausbeutung durch die „eigene“ Bourgeoisie unterworfen ist. Eine solche Sichtweise ist methodologisch ähnlich wie das Argument von Apologeten der Apartheid in Südafrika, die schwarzen Arbeiter in diesem Land hätten es besser als die im übrigen Afrika.

Sweezys Revisionismus beschränkt sich aber nicht darauf, daß er den Begriff der Arbeiteraristokratie auf die Mehrheit der Arbeiter in den fortgeschrittenen kapitalistischen Ländern ausweitet. Er verzerrt auch Lenins Haltung gegenüber der tatsächlichen Arbeiteraristokratie, die eine soziologische und nicht eine politische Kategorie ist. Für die oberste Schicht der Arbeiterklasse beherrscht die Verteidigung ihrer kleinkarierten Privilegien oft ihr Bewußtsein und ihre Handlungen. So ist sie ein Kulturmedium für das falsche Bewußtsein, die Interessen der Arbeiter seien mit denen „ihrer“ Bourgeoisie verbunden (Unterstützung für imperialistische Kriege, Protektionismus, „Gewinnbeteiligungs“ pläne usw.). Aber die Arbeiteraristokratie ist auch Teil der Arbeiterklasse und teilt gemeinsame Klasseninteressen mit dem übrigen Proletariat; daher kann man nicht sagen, daß sie letzten Endes von Natur aus proimperialistisch ist. Unter normalen kapitalistischen Bedingungen kann die Arbeiteraristokratie durchaus versuchen, kurzfristige wirtschaftliche Vorteile auf Kosten der gesamten Klasse zu erzielen. Doch unter der Wucht einer schweren Wirtschaftskrise, eines verheerenden Kriegs usw. treten in der Regel die langfristigen Interessen dieser Schicht als Teil des Proletariats hervor.

Leninisten versuchen sogar, ausgebeutete Teile des eigentlichen Kleinbürgertums für die Sache des revolutionären Sozialismus zu gewinnen (z. B. Lehrer, Kleinbauern). Daher können sie auch einen Teil der Arbeiterklasse, der relativ privilegiert und verkleinbürgerlicht ist, kaum dem Lager der bürgerlichen Konterrevolution zuschreiben. In einer revolutionären Situation können Gruppen der Arbeiteraristokratie auf der falschen Seite der Barrikade landen. In der Oktoberrevolution boten die relativ privilegierten Eisenbahner den Menschewiki einen Stützpunkt für ihre konterrevolutionären Aktivitäten. Dagegen gehören die Ölarbeiter in Mexiko, auch eine Elitegruppe des Proletariats in einem rückständigen Land, schon lange zu den fortgeschrittensten Teilen der Arbeiterbewegung dort. In einem wichtigen Artikel, den Lenin kurz nach Imperialismus schrieb, stellt er ausdrücklich fest, daß erst der politische Kampf darüber entscheiden wird, welcher Teil des Proletariats schließlich die Partei der Bourgeoisie ergreifen wird:

„Wir können nicht — und niemand kann — genau ausrechnen, welcher Teil des Proletariats den Sozialchauvinisten und Opportunisten folgt und folgen wird. Das wird erst der Kampf zeigen, das wird endgültig nur die sozialistische Revolution entscheiden.“ („Der Imperialismus und die Spaltung des Sozialismus“, Oktober 1916)

Die leninistische Einstellung gegenüber der Arbeiteraristokratie ist erheblich anders als gegenüber deren Führung, der Arbeiterbürokratie. In der imperialistischen Epoche, dem Zeitalter des kapitalistischen Verfalls, kann es keinen erfolgreichen Reformismus geben. Daher sind die Führer der Arbeiterbewegung, was immer ihre Herkunft und ursprüngliche Motivation sein mag, durch ihre soziale Rolle gezwungen, die Interessen der Arbeiter der Bourgeoisie unterzuordnen, es sei denn, sie schlagen ausdrücklich einen revolutionären Kurs ein. Wie Lenin später über die „Arbeiterkommis der Bourgeoisie“ schrieb:

„Der moderne Imperialismus (des 20. Jahrhunderts) hat für einige fortgeschrittene Länder eine privilegierte Monopolstellung geschaffen, und auf dieser Grundlage hat sich überall in der II. Internationale der Typus der verräterischen Führer, der Opportunisten, der Sozialchauvinisten herausgebildet, die die Interessen ihrer Zunft, ihrer dünnen Schicht der Arbeiteraristokratie vertreten… Der Sieg des revolutionären Proletariats ist unmöglich ohne Kampf gegen dieses Übel, ohne Entlarvung, Brandmarkung und Vertreibung der opportunistischen, sozialverräterischen Führer.“ (Der „linke Radikalismus“, die Kinderkrankheit im Kommunismus, 1920)

Im Gegensatz dazu sind qualifizierte, gutbezahlte Arbeiter zwar anfälliger für konservative bürgerliche Ideologie, aber keine „Agenten der Bourgeoisie in der Arbeiterbewegung“ (ebenda). Wie beim übrigen Proletariat ist es notwendig, sie von ihren verräterischen Irreführern wegzubrechen.

Der klassische Marxismus und die leninistische Avantgardepartei

Bis 1916 hatte Lenin sowohl die programmatische als auch die theoretische Grundlage entwickelt für einen Bruch mit der offiziellen Sozialdemokratie und für die Bildung einer internationalen Avantgardepartei nach dem Muster der Bolschewiki. Die eigentliche Gründung der Kommunistischen Internationale 1919 wurde natürlich entscheidend von der bolschewistischen Revolution und der Errichtung des Sowjetstaats beeinflußt. In dieser Broschüre geht es jedoch darum, wie sich Lenins Position zur Organisationsfrage immer weiter weg entwickelte von der traditionellen revolutionären Sozialdemokratie. Und dieser Prozeß war im wesentlichen schon vor der Russischen Revolution abgeschlossen. Wir besprechen daher zum Schluß, in welchem Verhältnis die leninistische Avantgardepartei zur früheren marxistischen Erfahrung in der Organisationsfrage steht.

In bezug auf die Avantgardepartei erscheint die Geschichte der marxistischen Bewegung paradox. Die erste marxistische Organisation, der Bund der Kommunisten von 1847-52, war eine Avantgarde-Propagandagruppe, die sich von allen anderen Strömungen in der sozialistischen und Arbeiterbewegung eindeutig abgrenzte (z. B. vom Blanquismus, den Ikariern Cabets, dem deutschen „wahren“ Sozialismus, dem britischen Chartismus). Im Gegensatz dazu versuchte die Internationale Arbeiterassoziation (Erste Internationale), die eine Generation später gegründet wurde, eine inklusive Organisation zu sein, die alle Organisationen der Arbeiterklasse umfaßt. Eine Hauptsäule der Ersten Internationale war die britische Gewerkschaftsbewegung, die politisch die bürgerlichen Liberalen unterstützte. Die Sozialistische (Zweite) Internationale versuchte, alle proletarischen sozialistischen Parteien zu umfassen, auch wenn ihre Hauptsektion die marxistische deutsche Sozialdemokratie war. 1908 nahm die Zweite Internationale sogar die neu gegründete britische Labour Party auf, die nicht den Anspruch hatte, sozialistisch zu sein. Somit war die Kommunistische Internationale von 1919 in gewisser Hinsicht eine Wiederbelebung des Bundes der Kommunisten von 1847 auf einer Massenbasis.

Wie ist es zu erklären, daß es im klassischen Marxismus des ausgehenden 19. Jahrhunderts das Prinzip der Avantgardepartei nicht gab? Stalinistische Geschichtsschreiber leugnen manchmal diese Tatsache und entstellen so die Geschichte, um Marx und Engels als Verfechter der leninistischen Organisationsprinzipien hinzustellen. Andererseits wäre es aber auch unhistorischer Idealismus, Marx und Engels wegen ihrer organisatorischen Politik zu kritisieren und zu behaupten, daß in den 1860er bis 90er Jahren etwas der Kommunistischen Internationalen entsprechendes hätte gegründet werden können und sollen.

Die Gründung des Bundes der Kommunisten 1847 erfolgte aufgrund einer unmittelbar bevorstehenden bürgerlich- demokratischen Revolution. Die breitere revolutionär-demokratische Bewegung erfüllte die Aufgabe, die Bevölkerung zu organisieren, einschließlich des städtischen Handwerker-Proletariats. Die Aufgabe des Bundes der Kommunisten bestand darin, im Kampf gegen die bürgerlichen Demokraten (und auch gegen die utopischen Sozialisten) um die Führung einer bestehenden revolutionären Bewegung zu konkurrieren. Der Bund der Kommunisten definierte sich daher als die proletarisch-sozialistische Avantgarde der revolutionären bürgerlich-demokratischen Bewegung. Als die revolutionäre Periode von 1848 eindeutig zu Ende ging (ein Zeichen dafür war der Kölner Kommunistenprozeß 1852), hatten sich Marx‘ Strategie und deren organisatorische Komponente überlebt.

Zwischen den Revolutionen von 1848 und der Russischen Revolution von 1905 hatten sich die Möglichkeiten einer erfolgreichen bürgerlich-demokratischen Revolution erschöpft, während die ökonomischen Grundlagen für eine proletarisch-sozialistische Revolution in den Hauptländern Westeuropas noch nicht reif waren. (Bei Britannien gab es in dieser Hinsicht eigene außergewöhnliche Probleme. Obwohl das Land weit fortgeschrittener war als Frankreich oder Deutschland, gab es dort noch in den 1850er Jahren mehr Hausangestellte als Industriearbeiter.) Die Aufgabe von Sozialisten bestand darin, die Voraussetzung für eine sozialistische Revolution zu schaffen, indem sie das Proletariat organisierten und so seinen atomisierten Zustand überwanden. Außerdem verhinderte eine effektive staatliche Repression in den Jahrzehnten unmittelbar nach der Niederlage von 1848 das Entstehen stabiler Massenorganisationen der Arbeiterklasse in Deutschland und Frankreich.

Eine Avantgardepartei nach dem leninistischen Muster hätte in den 60er-90er Jahren des 19. Jahrhunderts in Deutschland oder Frankreich in einem politischen Vakuum existiert, ohne Beziehung zu irgendeiner breiteren potentiell revolutionären Bewegung. Daher war Marx in der Periode nach der Auflösung der Ersten Internationale gegen die Gründung einer neuen Internationale, weil er darin eine Ablenkung von der Aufgabe sah, eine Arbeiterbewegung aufzubauen, die tatsächlich imstande wäre, den Kapitalismus zu stürzen. In einem Brief an den holländischen Anarchisten Ferdinand Domela-Nieuwenhuis (22. Februar 1881) schrieb er:

„Nach meiner Überzeugung ist die kritische Konjunktur einer neuen internationalen Arbeiterassoziation noch nicht da; ich halte daher alle Arbeiterkongresse, resp. Sozialistenkongresse, soweit sie sich nicht auf unmittelbare, gegebene Verhältnisse in dieser oder jener bestimmten Nationen beziehen, nicht nur für nutzlos, sondern für schädlich. Sie werden stets verpuffen in unzählig wiedergekäuten [allgejmeinen Banalitäten.“ (Marx/ Engels, Werke)

In Westeuropa erforderte der Übergang von der revolutionären bürgerlich-demokratischen Bewegung zu proletarisch-sozialistischen Massenparteien eine ganze Epoche mit jahrzehntelanger Vorbereitungsarbeit.

Im zaristischen Rußland standen die Marxisten vor einer grundsätzlich anderen Situation. Dort schien eine bürgerlich-demokratische Revolution eine kurzfristige Perspektive zu sein. Eine revolutionäre bürgerlich-demokratische Bewegung existierte in Gestalt der radikalen (sozialistisch angehauchten) Volkstümler und fand bei der Intelligenz allgemein Unterstützung.

In wichtiger Hinsicht stand Plechanows Gruppe Befreiung der Arbeit in den 1880er Jahren vor vergleichbaren Bedingungen wie der Bund der Kommunisten vor der Revolution von 1848. Plechanow schwebte eine proletarische Partei vor (initiiert von der sozialistischen Intelligenz), die in der bürgerlich-demokratischen Revolution als Avantgarde fungieren und sich gegenüber allen kleinbürgerlichen radikalen Strömungen scharf abgrenzen würde. Diese Konzeption der Avantgarde geht aus dem Programm der Gruppe Befreiung der Arbeit von 1883 klar hervor:

„Eine der nachteiligsten Folgen dieser rückständigen Lage der Produktion war und ist bis heute der unentwickelte Zustand der Mittelklasse, die bei uns nicht fähig ist, die Initiative des Kampfes gegen den Absolutismus zu ergreifen.

Die sozialistische Intelligenz mußte sich daher an die Spitze der gegenwärtigen Befreigungsbewegung stellen, deren unmittelbare Aufgabe der Aufbau freier politischer Insitutionen in unserem Vaterland sein muß, wobei die Sozialisten ihrerseits danach zu streben haben, der Arbeiterklasse die Möglichkeit einer aktiven und fruchtbaren Teilnahme am künftigen politischen Leben Rußlands zu verschaffen.“ (G. Plechanow, Sozialismus und politischer Kampf, 1980, Hervorhebung im Original)

Im Bismarckschen und wilhelminischen Deutschland standen alle bürgerlichen Parteien der Sozialdemokratie feindlich gegenüber; diese vertrat die Arbeiterbewegung in ihrer Gesamtheit und stellte auch die weitaus bedeutendste Kraft für einen demokratischen politischen Wandel dar.In der katholischen Zentrumspartei, den Nationalliberalen und der Fortschrittspartei sah man nur episodisch eine Herausforderung für die halbautokratische Regierung. Im Gegensatz dazu mußten die russischen Sozialdemokraten mit den radikalen Volkstümlern und gelegentlich sogar mit den Liberalen um Kader und um Einfluß in der Bevölkerung, einschließlich des Industrieproletariats, konkurrieren. Außerdem mußten die Sozialdemokraten, da Rußland ein Vielvölkerstaat war, auch mit linksnationalistischen Parteien wie der ukrainischen Radikaldemokratischen Partei und der polnischen Sozialistischen Partei sowie ähnlichen Parteien im Baltikum und in Transkaukasien konkurrieren.

Die organisatorischen Prinzipien der Plechanowschen Sozialdemokratie hatten somit einen Doppelcharakter. In bezug auf das Proletariat wollten die ersten russischen Sozialdemokraten der SPD nacheifern und „die Partei der Gesamtklasse“ werden. Doch sie wollten auch die Avantgarde aller unterschiedlichen antizaristischen Kräfte im Russischen Reich werden.

Von der Plechanowschen Sozialdemokratie erbte Lenin die Konzeptionen einer Avantgarde, die in den sozialistischen Parteien Westeuropas fehlte. Die Bedeutung des Kampfes gegen den Ökonomismus, den Plechanow und nicht Lenin initiierte, bestand darin, daß so die Avantgarderolle der Sozialdemokratie in bezug auf die breiten, heterogenen bürgerlich-demokratischen Kräfte bewahrt wurde. Weil Lenin die russische Sozialdemokratie (1903) spaltete, bevor sie eine Massenbasis gewonnen hatte, erkannte er nicht die volle Bedeutung dessen, was er getan hatte. Er hielt die Spaltung mit den Menschewiki für eine legitime Weiterführung des Kampfes um die Trennung des proletarischen Sozialismus von der kleinbürgerlichen Demokratie. In Wirklichkeit hatte er die revolutionären Sozialisten von den Reformisten getrennt, die beide nach einer Basis in der Arbeiterklasse strebten.

Die welthistorische Bedeutung des Bolschewismus vor 1914 lag darin, daß er die organisatorischen Prinzipien vorwegnahm, die für den Sieg in der Epoche des imperialistischen Kapitalismus und der proletarischen Revolution erforderlich sind. Als mit dem Ersten Weltkrieg die Epoche des kapitalistischen Niedergangs eröffnet wurde, war das Haupthindernis für eine proletarische Revolution nicht mehr die ungenügende Entwicklung der bürgerlichen Gesellschaft und der Arbeiterbewegung. Jetzt war es die auf einer mächtigen Arbeiterbewegung basierende reaktionäre Arbeiterbürokratie, die ein veraltetes Gesellschaftssystem aufrechterhielt. Die erste Aufgabe der revolutionären Sozialisten war es von jetzt an, die Reformisten als die Führung der Arbeitermassenbewegung zu besiegen und zu ersetzen, als Voraussetzung dafür, diese Bewegung zum Sieg über den Kapitalismus zu führen und die Grundlage für eine sozialistische Gesellschaft zu schaffen. Diese Aufgabe hat einen Doppelcharakter. Die Gründung einer revolutionären Avantgardepartei spaltet die Arbeiterklasse politisch. Jedoch strebt eine Avantgardepartei danach, die Masse des Proletariats durch vereinigte ökonomische Organisationen des Klassenkampfs zu führen, durch die Gewerkschaften. In einer revolutionären Situation strebt eine Avantgardepartei danach, eine vereinigte Arbeiterklasse durch Sowjets, die organisatorische Grundlage einer Arbeiterregierung, zur Macht zu führen.

„Als Strömung des politischen Denkens und als politische Partei besteht der Bolschewismus seit dem Jahre 1903. Nur die Geschichte des Bolschewismus in der ganzen Zeit seines Bestehens vermag befriedigend zu erklären, warum er imstande war, die für den Sieg des Proletariats notwendige, eiserne Disziplin zu schaffen und sie unter den schwierigsten Verhältnissen aufrechtzuerhalten.“

W. I. Lenin,
„Eine der Grundbedingungen des Erfolgs der Bolschewiki“,
in Der „linke Radikalismus“, die Kinderkrankheit im Kommunismus

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Lenin

In Verteidigung des demokratischen Zentralismus

Nachfolgend veröffentlichen wir Auszüge aus einer Rede des Genossen James Robertson vom Zentralkomitee der Spartacist League/U.S. auf einer Nationalkonferenz der westdeutschen Organisation Spartacus (Bolschewiki- Leninisten) im Februar 1973. In der Folgezeit blutete SpartacusjBL organisatorisch aus, da es in ihrer zentralen Führung eine Reihe von Cliquenspaltungen gab. Die Überreste fusionierten Anfang 1974 mit den ebenfalls geschwächten Internationalen Kommunisten Deutschlands (IKD), von denen sich Spartacus/BL im Dezember 1972 abgespalten hatte, und gründeten den Spartacusbund. Der zentristische Spartacusbund versuchte weiterhin in derselben Art, ein eklektisches Amalgam aus Trotzkismus und Menschewismus zu bilden und war unfähig, auf authentisch leninistische Oppositionelle politisch zu antworten. Geplagt von ständig wiederkehrenden internen cliquistischen Ausbrüchen, griff der Spartacusbund wiederholt auf bürokratische Ausschlüsse zurück, so daß die fusionierte Organisation auf einen Bruchteil ihrer ursprünglichen Größe zusammenschrumpfte. Der Kern der Trotzkistischen Liga Deutschlands [TLDdeutsche Sektion der internationalen Spartacist Tendenz, jetzt SpAD, Sektion der Internationalen Kommunistischen Liga] wurde durch Fusionen mit und Rekrutierung von linken Oppositionellen beider Flügel der ursprünglichen IKD gebildet. Der vollständige Text der Rede ist in Spartacist, deutsche Ausgabe Nr. 1 (Frühling 1974) erhältlich. Die Übersetzung der nachfolgenden Auszüge wurde leicht überarbeitet.

International sehen wir zwei parallele Probleme bei denjenigen, die sich zum Trotzkismus bekennen. Das eine ist nicht euer Problem. Das ist der formale Bolschewismus, der alle formalen Lehren richtig assimiliert hat: Diese Richtung wird von der spanischen POUM, der französischen OCI und der bolivianischen POR vertreten. Das Problem ist, und es ist keine endgültig abgeschlossene Frage, daß diese Genossen zwar die Formen einer bolschewistischen Organisation ziemlich vollständig gemeistert haben — bei euch ist das nicht der Fall —, aber den Inhalt auf ein Minimum reduziert haben. Sie sehen die Einheitsfront und alle damit zusammenhängenden Phänomene — d. h. Entrismus in andere, reformistische proletarische Formationen, Umgruppierungsprozesse und dergleichen — nicht als das Mittel, „die proletarische Basis gegen die bürgerliche Spitze zu kehren“, um Trotzki zu zitieren. Vielmehr trennten sie schließlich die Einheitsfront von der Partei und erwarteten, z.B. in Frankreich, daß die Sozialistische und die Kommunistische Partei irgendwie dadurch, daß sie organisatorisch zusammenkommen, eine revolutionäre proletarische Vergangenheit erreichen könnten. Sie streichen die Rolle der Bolschewiki weg.

Besonders bei eurer Organisation sehen wir ein etwas anderes Problem, und das ist eine Tendenz, auf die Form und politische Sichtweise der russischen Sozialdemokratie zurückzugreifen, wie sie ungefähr 1903 war. Soweit manche von euch dies aus Unwissenheit tun, kann es durch Kampf überwunden werden. Aber diejenigen von euch, die absichtlich die Erfahrung der Oktoberrevolution ignorieren, die Gründung der Kommunistischen Internationale und alles, was danach kam — die ersten vier Weltkongresse der Komintern, den Kampf der trotzkistischen Linken Opposition —, diejenigen von euch, die all dem den Rücken kehren wollen, sind schon im Keim opportunistische kleine Kautskys.

Jede Variante der kautskyanischen Konzeption der „Partei der Gesamtklasse“ ist eine absichtlich nichtrevolutionäre und letztendlich konterrevolutionäre Position. Der späteste und vollkommenste Vertreter dieser Art von Revisionisten war Max Shachtman. Der letzte große Artikel, den er schrieb, hieß „Der amerikanische Kommunismus: eine Neuuntersuchung der Vergangenheit“. Die Ursünde des Kommunismus sieht Shachtman in den Abspaltungen von der Sozialdemokratie nach links, die während und nach dem Ersten Weltkrieg stattfanden und zu einer Spaltung im politischen Ausdruck des Proletariats führten. Den Grund für diese Abspaltungen sieht er darin, daß die revolutionären Sozialisten innerhalb der Arbeiterbewegung ihr Verständnis über die Rolle des Reformismus, des Opportunismus änderten.

Shachtman zitiert Lenin sehr zustimmend bis etwa einschließlich 1908. Insbesondere bemerkt er, daß die Einheit der proletarischen Partei hätte erhalten werden können, wenn die Revolutionäre doch nur der Regel „Freiheit der Kritik, Einheit der Aktion“ gefolgt wären. Er argumentiert, daß Lenin damals den Opportunismus als eine vorübergehende, kurzlebige, zweitrangige Erscheinung der Arbeiterbewegung auffaßte. Besonders lobt er Lenin dafür, daß er in den Gebieten, wo die Bolschewiki in der Minderheit waren, dafür eintrat, sich den Menschewiki unterzuordnen und für die Kadettenpartei [Konstitutionelle Demokratische Partei] zu stimmen. (Wo die Bolschewiki die Mehrheit hatten, so Lenin, sollten sie entweder sozialdemokratische Kandidaten wählen oder, wenn es keine Alternative gab, keine Stimme abgeben.) Weil Shachtman Sozialdemokrat geworden war, geht er nicht auf den Grund für die Entwicklung der Auffassungen der bolschewistischen Fraktion ein. Er beschreibt die Änderung der leninistischen Position nur als eine Art Ursünde. Worum es in der Zeit von der Gründung der Iskra bis zur Gründung der bolschewistischen Partei 1912 geht, ist die Verwandlung der bolschewistischen Fraktion von einer revolutionären sozialdemokratischen Organisation in eine im Keim entstehende kommunistische Organisation. Das Vorbild für die russischen revolutionären Sozialdemokraten der Anfangszeit war die deutsche Sozialdemokratie. Der bolschewistische Flügel eilte in seiner politischen Praxis seinem theoretischen Vorbild voraus, weil er entschlossen war, eine Revolution gegen den Zarismus durchzuführen. Und seine organisatorische Praxis hinkte natürlich noch weiter hinterher und war unter den damaligen Bedingungen der Illegalität sehr empirisch.

In der Zeit der Wiedervereinigung der russischen Sozialdemokratie 1905-1907 war es für Lenin möglich, über die Disziplin in einer Partei von Reformisten und Revolutionären Schlußfolgerungen zu ziehen, die heute jeder Leninist kurzerhand zurückweisen würde. Das macht uns nicht klüger als Marx und Lenin, sondern es bedeutet nur, daß wir bei heutigen politischen Fragen auf ihre Erfahrung aufbauen können. Die Wahrheit ist historisch bedingt, d.h. die Perspektive der kommunistischen Bewegung der ersten vier Weltkongresse der Kommunistischen Internationale beruhte auf einer historischen und erfolgreichen Erhebung des revolutionären Proletariats.

Diese enorme revolutionäre Errungenschaft ging Hand in Hand mit entsprechendem Durchbruch und allgemeinen Schlußfolgerungen auf theoretischem Gebiet. Es ist, als ob hinsichtlich ihrer theoretischen Perspektive die proletarische Avantgarde in der Internationale 1919— 23 auf einem Berggipfel stand. Aber seitdem, von der Zeit der trotzkistischen Linken Opposition bis zu Trotzkis Tod und danach, hat das Proletariat hauptsächlich Niederlagen erlebt, und die revolutionäre Avantgarde ist zusammengeschrumpft, oder ihre Kontinuität wurde in vielen Ländern gebrochen. Die Fähigkeit, die Welt zu kennen, läßt sich von der Fähigkeit, sie zu verändern, nicht trennen; und unsere Fähigkeit, die Welt zu verändern, ist sehr gering im Vergleich zur heroischen Zeit der Kommunistischen Internationale.

Eine der großen Leistungen der Bolschewiki bestand darin zu erkennen, daß eine politische Spaltung in der Arbeiterklasse die Voraussetzung für eine proletarische Revolution ist. Bis zum 4. August 1914 waren die Bolschewiki zu dieser Erkenntnis gelangt, hatten sie aber weder theoretisch noch international verallgemeinert. Die damalige deutsche revolutionäre Linke zahlte mit dem Tod ihrer Führer Luxemburg und Liebknecht und mit einer Niederlage der Revolution, weil sie sich diese Lehre nicht angeeignet hatte.

Arbeitertümelei und „Freiheit der Kritik“

In unseren schriftlichen Grüßen an eure Konferenz gaben wir euch, Genossen, eine bestimmte Definition von unserem Verständnis der leninistischen Organisationsform: „Wir erklären, daß das Grundprinzip für Kommunisten darin besteht, den Kampf unter seinen Genossen zu führen, um für das eigene Programm eine Mehrheit zu gewinnen; und wer versucht, rückständige Kräfte und klassenfremde Elemente von außerhalb der revolutionär-marxistischen Organisation zu mobilisieren, um dadurch eine Vormachtstellung in dieser Organisation zu erkämpfen, ist kein Kommunist.“ Von dieser Konzeption abzuweichen würde sofort zur Organisierung der rückständigen Teile der Klasse gegen die Partei, besonders ihre Mehrheit, führen. Ich spreche im Zusammenhang mit der Parole „Freiheit der Kritik, Einheit der Aktion“, die 1906 in der vereinigten Partei der Menschewiki und Bolschewiki angewandt wurde. Langfristig führt das zwangsläufig dazu, die Partei wieder in die Klasse insgesamt aufzulösen.

In den USA kenne ich eine besondere Art von Arbeitertümelei, Halbsyndikalisten wie die Ellens-Gruppe (verbunden mit Lutte Ouvriere) und die Mehrheit der Leninist Faction (LF), die eine Auffassung vertreten, daß die Arbeiterklasse in ihrem Naturzustand ein reines proletarisches Wesen habe. Nun, es gibt ein sehr gutes Buch von E. P. Thompson, The Making of the English Working Class [Die Entstehung der englischen Arbeiterklasse], und in den ersten Absätzen macht er die Bemerkung, daß die Arbeiterklasse nicht als eine von der kapitalistischen Gesellschaft losgelöste Klasse beschrieben werden kann. Sie kann nur im Zusammenhang gesehen werden, nicht nur der Ökonomie, sondern der sozialen Beziehungen der Gesellschaft als Ganzes. Es gibt rückständige Teile der Arbeiterklasse. Die Arbeiter, die die Sozialdemokratie unterstützen, sind in den meisten Ländern relativ fortgeschritten; dies ist auch der Fall bei den Arbeitern, die die stalinistischen Parteien unterstützen, wo diese Massenparteien sind.

Bei einer Arbeiterklasse wie der in den USA sind große Teile der Arbeiter tatsächlich sehr rückständig. Aber sie sind rückständig vom Standpunkt der historischen Interessen, die von der proletarischen Avantgarde vertreten werden. In bezug auf bürgerliche Ideen stehen sie besser da. Religion, Alkoholismus, männlicher Chauvinismus und die übelsten Formen von Rassismus sind vorherrschende Erscheinungen, wo es keinen Klassenkampf gibt und eine proletarische Avantgarde fehlt. Die Arbeitertümler weigern sich, all dies zu sehen, und sehen statt dessen ein reines, unverdorbenes, isoliertes Proletariat. Gleichzeitig sehen sie die Avantgardepartei als eine Mischung aus radikalen Arbeitern und radikalen, vielleicht nicht allzu deklassierten, Intellektuellen.

Die international wichtigste Partei der International Socialists (IS), die britische Organisation von Tony Cliff, ist vor kurzem arbeitertümlerisch geworden. Die IS, eine Ansammlung der weltweit perfektesten Zentristen, folgen eifrig jeder politischen Mode. Bis vor wenigen Jahren waren sie sehr für die britische Labour Party und nannten ihre Zeitung The Labour Worker. Heute sind sie sehr gegen die britische Labour Party, leugnen, daß sie irgendeinen proletarischen Klassencharakter hat, und nennen ihre Zeitung jetzt Socialist Worker. Soviel für eine Einschätzung von Tony Cliff heute.

Weil er mit der Arbeiterseele eins sein will (gegen die häßliche Labour Party, die er früher anbetete), schrieb er einen Aufsatz mit dem Titel „Trotzki über den Substitutionalismus“ [siehe die IS-Broschüre Party and Class]. Ich lese euch eine Stelle daraus vor:

„Da die revolutionäre Partei keine von der Klasse getrennten Interessen haben kann, sind alle politischen Fragen der Partei auch die der Klasse, und sollten vor der Klasse in aller Offenheit ausgekämpft werden. Die Diskussionsfreiheit in einer Betriebsversammlung, die auf Einheit der Aktion abzielt, nachdem Beschlüsse gefaßt wurden, soll auch für die revolutionäre Partei gelten. Das heißt, daß alle Diskussionen über grundsätzliche politische Fragen ganz offen, in der öffentlichen Presse, diskutiert werden sollten. Laßt die Masse der Arbeiter an der Diskussion teilnehmen. Übt Druck auf die Partei, ihren Apparat, ihre Führung aus.“

Es fällt ein bißchen schwer, dazu überhaupt etwas zu sagen. Die Vorstellung ist entsetzlich, daß die ganze Klasse, mit all ihrer Rückständigkeit je nach Sektor, Hautfarbe und Nationalität, den Schiedsrichter spielen soll, der über Fragen der revolutionären Strategie entscheidet. In einer Gewerkschaft, die eine Art ökonomische Einheitsfront ist, oder in einer politischen Einheitsfront müssen natürlich alle aktiv daran Beteiligten ihre Kritik offen vortragen können. Aber die Vorstellung, daß Arbeiter, die Priestern folgen, Arbeiter, die Stalinisten sind, Arbeiter, die zu sozialdemokratischen Parteien gehören, Druck ausüben sollen, um die Politik der revolutionären Marxisten zu bestimmen, diese Vorstellung wird die Macht der Bourgeoisie aufrechterhalten, bis eine Atombombe die Frage beseitigt.

„Ausnahmen“ vom demokratischen Zentralismus

In unseren Grüßen an eure Konferenz sprachen wir von bestimmten außerordentlichen Umständen im Zusammenhang mit der Anwendung des demokratischen Zentralismus bei Revolutionären. Einer der außerordentlichen Umstände besteht dann, wenn die Parteiform ihrem Wesen nach nicht dem revolutionären marxistischen Programm entspricht. In der Zeit am Ende des Ersten Weltkriegs und unmittelbar danach brachen mehrere große Parteien der Sozialistischen Internationale auseinander, und große Teile von ihnen, oft sogar die Mehrheit, schlössen sich der Dritten Internationale an. Hierbei denkt man an Frankreich, Deutschland, die Tschechoslowakei, Italien und die USA. Auch den linken Flügel der polnischen PPS haben wir uns geschnappt. In dieser Übergangsperiode gab es genau eine solche Trennung von Partei und Programm.

Ein vergleichbarer Umstand besteht, wenn die Revolutionäre in eine reformistische oder zentristische politische Formation eingetreten sind. Auch hier würden wir für die größtmögliche Freiheit an öffentlicher Diskussion kämpfen und für so wenig Einheit in der Aktion wie möglich. Noch ein weiterer außerordentlicher Umstand würde bestehen, wenn die Trennung zwischen intern und extern sich verwischt hat, wie bei wirklichen Massenparteien, besonders wenn sie an der Macht sind. Ich bekam gerade ein Dokument gereicht, das auf diesen dritten Fall Bezug nimmt, mit dem Titel „Über das Prinzip des demokratischen Zentralismus: Freiheit der Kritik, Einheit der Aktion“. Trotzki wird darin wie folgt zitiert: „Die ganze Geschichte des Bolschewismus ist die der freien Auseinandersetzung von Tendenzen und Fraktionen.“ Dieses Zitat ist völlig korrekt, aber es ist irreführend, weil Trotzki zu dieser Zeit ausschließlich von der internen Diskussionsfreiheit sprach (was selbst Barbara Gregorich von der LF zugibt, die darüber Forschung betrieb).

Hier ist ein Zitat, das dies klar macht. In seinen Writings [Schriften] 1932-1933 schreibt Trotzki über die russischen Oppositionellen: „Sie waren der Verfolgung ausgesetzt, nur weil sie die Politik der führenden Fraktion innerhalb der Grenzen von interner Kritik, die das lebensnotwendige Element der Parteidemokratie der Bolschewiki war, kritisiert hatten.“ In dem Dokument, das ich gerade bekam, gibt es noch ein Zitat, und zwar aus dem Übergangsprogramm: „Ohne innere Demokratie gibt es keine revolutionäre Erziehung.“ Na ja, „ohne innere Demokratie“ klingt für mich wie „without inner democracy“.

Aber die Liste von außerordentlichen Umständen ist noch nicht erschöpft. Es gab die vorsätzliche Spaltung der Socialist Workers Party (SWP) durch Shachtman und Burnham 1940. Sie halbierte die SWP am Vorabend des Zweiten Weltkriegs. Viele der Jugendlichen, die Shachtman und Burnham folgten, meinten, daß sie es nicht mit Revisionismus zu tun hätten, sondern nur eine größere, bessere, schnellere revolutionäre Partei aufbauen würden. Trotzki und Cannon wollten im Rahmen der formalen Einheit ein bißchen Zeit gewinnen und machten beim Versuch, die Minderheit zu behalten, ganz erhebliche Zugeständnisse. Natürlich ließ sich die Minderheit nicht aufhalten, aber Trotzkis Mehrheit machte es ganz klar, daß dies nur vorübergehende und besondere Zugeständnisse waren, ein Versuch, manchen von der Minderheit eine Chance zu geben, es sich unter gelockerten organisatorischen Bedingungen anders zu überlegen. Genauso hättet ihr euch vielleicht überlegt, besondere Zugeständnisse an die IKD zu machen, als sie mit einer großen Minderheit rausgingen. Aber sogar ein besonderes internes Bulletin, von der öffentlichen Austragung von Differenzen ganz zu schweigen, ist kein stabiler oder gesunder Zustand des internen Parteilebens.

Ich war in einer Organisation, die solche organisatorischen „Garantien“ als permanentes Inventar hatte. Das war die Young Socialist League (Bund Junger Sozialisten), die Jugendgruppe der Shachtman-Anhänger 1954-57. Die Shachtman-Leute hatten viele sehr demokratische Erklärungen über die „Freiheit der Kritik“ in ihre Statuten hineingeschrieben, um an Liberale zu appellieren, die vor dem totalitären Bolschewismus Angst hatten. Niemand hat jemals von diesen Statuten Gebrauch gemacht, bis sich drei Jahre später ein linker Flügel bildete. Wir fingen damals an, das Bulletin des linken Flügels herauszugeben — nicht nur intern, sondern unser eigenes öffentliches Bulletin. Das konnte nichts anderes bedeuten als ein Spaltungsbulletin und war auch so beabsichtigt. Als es zur endgültigen Auseinandersetzung kam, mußten sie 22 Zusatzartikel zu ihren Statuten annehmen. Diese neuen Einschränkungen galten natürlich nur für die lästigen Trotzkisten. Die rechten sozialdemokratischen Elemente konnten weiterhin Freiheit der Kritik praktizieren.

Damit sind wir beim Kern der Frage. Warum, warum, warum wollt ihr eure Differenzen außerhalb eurer Organisation austragen, um die Feinde eurer Organisation zusammenzurufen? Shachtman wollte das. Die amerikanischen Radikal-Liberalen hatten sich nach dem Hitler-Stalin-Pakt sehr scharf gegen Rußland gewendet. Der Teil der SWP, der für diese kleinbürgerliche öffentliche Meinung empfänglich war, wollte beweisen, daß er nicht so schlimm sei wie die übrigen Trotzkisten. Und in normalen Zeiten ist das immer so bei denjenigen, die ihre Probleme außerhalb einer revolutionären Partei austragen wollen. In Zeiten eines großen revolutionären Aufschwungs kann die Masse der Arbeiterklasse durchaus einer etwas schwerfälligen revolutionären Partei vorauseilen. Lenin war zwischen der Februar-und der Oktoberrevolution mehrere Male mit dieser Situation konfrontiert. Als er im Zentralkomitee auf konservative Hindernisse stieß, drohte er, an die Arbeiter zu appellieren. Das war keine Freiheit der Kritik innerhalb der Partei: Es bedeutete Spaltung und die Gründung einer zweiten Partei, und Lenin wußte das. Zu spalten ist kein Verbrechen, vorausgesetzt es gibt ausreichende politische Klarheit und Notwendigkeit für eine Spaltung. Das gehört zum lebendigen politischen Prozeß.

Iskra